Die Nichtgeborenen, diesmal auch bei Hofmannsthal & Strauss, im Arbeitsjournal des Sonnabends, den 4. Februar 2023.

[Arbeitswohnung, 8.32 Uhr
Strauss, Die Frau ohne Schatten,
Wiener Philharmoniker, Solti]

Das sind die Nichtgeborenen,
nun stürzen sie ins Leben
mit morgenroten Flügeln
zu uns, den fast Verlorenen;
uns eilen diese Starken
wie Sternenglanz herbei.
Du hast dich überwunden.
Nun geben Himmelsboten
den Vater und die Kinder:
die Ungebornen frei!
Sie haben uns gefunden,
nun eilen sie herbei!
Hofmannsthal, Die Frau ohne Schatten

Auch und gerade → hierdas Thema; seltsam, daß ich überrascht war. Ich wußte es einfach nicht mehr, habe diese Oper aber auch wirklich noch längst nicht durchdrungen. Offenbar hat mich das Rückentattoo zu ihr zurückgeleitet, von dem mir gestern abend mein Sohn die Schutzpflaster abgezogen und das er danach eingecremt hat, weil ich selbst da nicht rankomme. Also habe ich mir – „schon a bisserl peinlich“, schrieb ich meiner Lektorin über Signal – eine sogenannte Eincrem(e)hilfe bestellt; das ist, liebste Freundin, wirklich nicht ohne, sagen wir, invaliden Hunmor. Wie fein, allerdings, Elena gearbeitet hat, ist bereits jetzt gut zu erkennen (rechts der von mir gewählte Ausschnitt aus Anselm Kiefers Original; die untren Hemdchen freigestellt):

Elvira dazu, als sie das Bild in Signal sah: „… ein Kunstwerk, wirklich.“ Und auch die Hand ist jetzt fertig. Leider gibt es ein paar entzündete Stellen; da heißt es, Geduld zu haben. Es war ja schon beim ersten Mal etwas problematisch mit ihr. Zumal es die rechte ist, die dauernd in, sozusagen, „Betrieb“. Auch war es von mir keine gute Idee, nach dem Stechen alle Zeit den feinen Schutzhandschuh zu tragen statt nur in den ersten paar Stunden, weil sich darunter Feuchtigkeit gebildet hatte. Und Feuchtigkeit und Wunden … nun jà, Freundin, da habe ich nicht nachgedacht. Im Studio war man ganz erschrocken, als ich damit anrückte; sofort wurde die Hand getrocknet, saubergerieben, desinfiziert, dann eingesalbt. „Jetzt bitte nur noch an der Luft.“ Gut, so habe ich für die geplante Yōsei-Novelle weiteres selbst erlebtes „Material“.
Gestern auch mit Do lange über dieses Projekt gesprochen und darüber, daß es tatsächlich ein literarisches ist, ein poetisches sowieso, und wie eng verwandt die wachsenden und sich ineinanderschlingenden Ranken mit den Rhizomstrukturen der Pentalogie (Verwirrung bis Anderswelt) sind. Der nächste Schritt, also die vierte Tattoo-Ergänzung, wird die Komplettierung des Ganzarmtattoos sein, als deren Vorlage ich die Bamberger Weinberankung nehmen werde. Ich denke schon dauernd drüber nach, werde mir aber bis zum Frühjahr Zeit nehmen, allerdings auch dem Rat meines Sohnes folgen, auf keinen Fall in der warmen, geschweige denn heißen Jahreszeit etwas stechen zu lassen. „Erstens schwitzt du dauernd, zweitens darfst du die Stellen nicht dem direkten Sonnenlicht aussetzen, und wenn du im Meer schwimmen willst, wäre auch das Salz fürs Tattoo nicht gut. Gechlortes Wasser ist es sowieso nicht. Also im Sommer laß es auf jeden Fall sein.“ So peile ich Ende März, Anfang April an. Das wird mir auch mein Körper danken, zumal ich den Sport wieder aufnehmen will; nach dem Stechen soll zwei Wochen pausiert werden.
Soweit, Freundin, dazu.

Und dann habe ich gut gearbeitet; die erste Hochzeitsrede wurde gestern spätnachmittags als erste Entwurfsfassung fertig. Jetzt lasse ich sie zwei Tage „abhängen“, lese dann noch einmal, revidiere gegebenenfalls und schicke das Ding danach an das Brautpaar. Möglicherweise wird es ein paar Änderungen haben wollen. Es drängt ein wenig, da die Rede bereits am 9. März zu halten ist. Aber ich bin froh, daß ich nach kurzen, trotz der mir ziemlich schnell gekommenen Grundidee, Anlaufschwierigkeiten flugs im Fluß war. Es ist dies bei mir ja nicht selten, daß sich in mir erstmal was sperrt; bin ich da aber drübergesprungen, habe ich eigentlich nur noch meinen tippenden Fingern zu folgen. Wobei ich bei diesen Reden aufpassen muß, nicht zu komplex zu konstruieren; auch läßt sich für sie sehr viel ungezwungener mit Zitaten umgehen, als es in einem hochliterarischen Text erlaubt ist. Diese Art Freiheit muß ich mir ständig klarmachen; ist sie mir bewußt genug, fängt diese Art Arbeit an, richtiggehend Spaß zu machen. Einige Quälerei, die ein dichterischer Text notwendigerweise mit sich bringt, fällt hier nämlich völlig weg.
Sowie sind die letzten Fahnenkorrekturen an der Verwirrung des Gemüths fertig geworden; es ging nun noch besonders um den wirklich schön gewordenen Umschlag – bloß daß dann nachts, da war es zu spät, alles schon an die Druckerei geschickt … daß nachts dann herauskam, wie unzufrieden Elvira M. Gross mit dem einen Autorenfoto ist, auf dem wir beide zu sehen sind.

Wir hatten es zwar abgesprochen, aber dabei war offenbar ein Mißverständnis entstanden. Ein bißchen absurd ist dabei, daß ich mit meinem Konterfei auch nicht so ganz glücklich bin; ich sehe viel zu seriös aus, „bürgerlich“, hab ich ihr geschrieben. Aber vielleicht hat das grad Witz. Schade nur, daß in der ersten Innenklappe kein Platz mehr für die folgende von mir gewünschte Textergänzung war:

Seit seinem Roman „Traumschiff“ (2015) arbeitet er verlagsübergreifend ausschließlich mit seiner Lektorin, der Kulturpublizistin, Essayistin und Übersetzerin Elvira M. Gross, zusammen, mit der er oft auch auftritt.

Jedenfalls kann ich heute wirklich mit der kleinen Auftragsarbeit für das Berliner Literaturhaus anfangen, die am 14. abgegeben sein muß. Danach dann – wie ich dem entgegenfiebre! – endlich wieder die Triestbriefe, deren Finale einer geradezu Vision gleich in mir dauernd brodelt; ich habe die Bilder fast naturalistisch vor Augen, egal, daß sie, wenn ausgeführt, nicht surreal, sondern überreal sein werden, ich nenne es mal flammend konkret.


Einen solchen Schluß wird dieses Buch denn auch brauchen.

 

 

Ihr ANH

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