Das durchs Altern zurückblickende Arbeitsjournal des Sonntags, den 14. Mai 2023, in dem sich entscheidende Fragen stellen, auf die sich antworten tastend nur läßt — auch als Nabokov lesen, nunmehr 43.

[Arbeitswohnung, 7.48 Uhr]

Es gibt eine Art unschuldige Arroganz, wenn man jung ist,
die einen dazu bringt, die schwierigsten Probleme anzugehen.
Abhay Ashtekar

                                    Nachdenken und -spüren, „nach“ fast „zurück“, wobei „zurück“ dem mathematischen „oder“ gleicht, das die Gegenwart einschließt. Wie wir jemand anderes wurden, ohne jemand andres geworden zu sein; wie meine Bücher mitalterten, wenngleich ich an ihnen vorbeizog — ihr Altern bedeutet Bestand, hingegen das meine einen, wenn bei mir auch nur langsamen, Verfall. Dann bin ich weg, sie sind noch da. So schau ich denn fragend auf mich:

 

Hat, als in Bamberg → Martin Steiners Aufnahme entstand, rechts der Mann schon gewußt, wie viele Fragen und wieviel Wissen in seinem Blick auf den anderen, so viel jüngeren liegt? Er hat ja nicht mal gewußt, w e n er da ansieht! oder sagen wir es s o: daß sein Blick würde umgelenkt werden. In Wirklichkeit sah er jemanden anderes, eine andere an, in Wahrheit aber nicht. Die Andere s o angesehen hätte er nie; es verrät uns dies seine Skepsis. Die beiden Bilder zeigen, was zu altern bedeutet; bei einem Vitalisten wie mir, der tief in Bildung & Geist steckt, war auch ohne den Krebs zu rechnen damit, daß das Alter zum literarischen Thema würde, einem möglicherweise bestimmenden; zu sterben war’s schon → zuvor. Es ist nicht ohne Zynismus, aber nicht zynisch, daß die erste Übersetzung dieses Romans eine russische ist, in Rußland während jetzt dieses Krieges erschienen; sie entstand vielmehr aus Liebe — ein Satz, der sich selbst wie zu altern bewegt; zynisch sein ohne Zynismus; auf ihn das Licht wirft die Skepsis, und hell. Diese birst vor Erfahrung, die mein vierundzwanzig Jahre jüngeres Ich noch nicht hatte, haben auch nicht konnte. Weshalb es sich meistens richtig entschied. Ich heute, mit meinem Wissen von heute, hätte mich ziemlich oft anders entschieden, also eben falsch. Was uns zeigt, daß mehr zu wissen – viel mehr sogar – zu Fehlentscheidungen geführt haben würde, mit einiger Sicherheit jedenfalls. Dieses erklärt, weshalb alte Menschen wenigstens ebenso viele falsche Entscheidungen fällen wie junge; möglicherweise sogar viel häufiger falsche. (Falsche Entscheidungen bereuen wir später; tun wir es nicht, waren sie richtig.)
So daß ich paradox definieren kann:

 

Def.:
Um die richtigen Entscheidungen zu treffen, dürfen wir manches noch nicht wissen.

 

Wir können unser früheres Ich über oder unter unser heutiges legen, und das Bild verschwimmt:


So wenig sind wir deckungsgleich und dennoch ganz Derselbe. In der Skepsis des Älteren steckt Sympathie; der Jüngre schwingt nach wie vor m i t, dem der Ältere fehlt (ohne daß er fehlte). Wie hätte damals e r über ihn gedacht – er, der am Tag drauf zeugte? Er hätte über ihn denken nicht können.

Es kommt mir nicht „zufällig“ vor, daß ich gerade jetzt über Ada zu schreiben → wieder aufgenommen habe. Es mag nicht alles einen Grund haben, Ursachen aber sehr wohl (Gründe setzen bewußtes Handeln voraus, zumindest bewußt eine Haltung). Nabokov, als er den Roman schrieb, war im selben Alter wie ich, hatte einen ihm eng verbundenen Sohn wie ich, doch nicht nur deshalb habe ich bei aller Differenz das Gefühl, literarisch einen wenn auch – nach meinem Dafürhalten – wärmeren, dennoch ähnlichen Blick zu haben wie er (je mehr ich mich mit ihm identifiziere, umso unangenehmer wird mir der Mann — schon das eine interessante Dynamik). Wenn die Briefe nach Triest im Herbst nächsten Jahres erscheinen – meine romanpoetische → Summa[1]Brian Boyd nennt Ada so. wahrscheinlich –, werde ich genauso alt wie er sein, als Ada herauskam — siebzig (ohne aber → „Verweht“[2]Interessant, daß Hendrik Jackson in → seinen Einwänden zu meiner Interpretation ausgerechnet Jünger n e n n t. Ich werde darauf später noch antworten.). Nur ist mein Blick zurück auch einer voraus. (Anders als Ivan Veen bleibt mein Erzähler am Leben, jedenfalls einer dieser Erzähler; die geliebte Frau ganz genauso. Er wählt den Verzicht; Ada und Van ist das nicht möglich. Und selbst der in meinem Roman für tot erklärte Komponist Lars M. Ersa scheint nicht nur noch am Leben, sondern sogar der eigentliche Erzähler des Buches zu sein. Anders als Nabokov bin ich nicht nostalgisch, etwas, das seine ganze Wärme verzehrt, sofern er eine denn d o c h hat.)

Seltsam, im Neben zu wandern. (Nachtrag zum Gedicht).

Ihr ANH
[9.51 Uhr]

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Nabokov lesen 42

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References

References
1 Brian Boyd nennt Ada so.
2 Interessant, daß Hendrik Jackson in → seinen Einwänden zu meiner Interpretation ausgerechnet Jünger n e n n t. Ich werde darauf später noch antworten.

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