Vom Wieder- und Wiederverlieren, dazwischen eine Kette Bordells für die Höheren Stände, deren eines Lustschloß bei Stanley Kubrick auferstand. Nabokov lesen, 44: Ada oder Das Verlangen, Nr. 5 bis Ende des Romanteils II.

Gewisse Begriffe dürfen nicht verwendet werden. Was nicht gesagt werden darf, das wird mit der Zeit auch nicht mehr gedacht, so das Kalkül dahinter. Am Horizont leuchtet die Vision einer schönen neuen Welt, in der lauter moralisch reine Menschen nur noch moralisch und politisch saubere Gedanken denken. Und die Pointe ist: Viele empfinden das nicht als Bedrohung, sondern als Verheissung einer gerechten Gesellschaft.
Alexander Grau, → NZZ, 15.5.23

                                   Aber lassen Sie uns, Freundin, zurückkehren, uns zurück zu jener Sollbruchstelle kehren, von der an diese Liebe brüchig tatsächlich wurde, wenn auch eben nicht sie selbst, diese nahezu Unanrührbare, doch die Kontinuität ihres Lebens und Gelebtseins. Vier Jahre hatten Ada und Van sich nicht mehr gesehen, dann war’s, als hätt die lange Trennungszeit sich über kaum mehr als einen Tag erstreckt, und alles ward zum Ardissommer wieder — bis eben dieses ihrerseits in ihn (→ selbstverständlich!) verliebte Dienstmädchen unbedingt, vielleicht auch aus leiser Verletztheit, von Adas – können wir bereits bei Teenagern von Seitensprüngen sprechen, und überhaupt? sagen wir also: … von Adas NebenVanGespielen herausplappern mußte.

Sie bot einen merkwürdigen Anblick: bloßarmig in ihrem Unterröckchen, ein Strumpf festgemacht, der andere unten auf dem Knöchel; die Armhöhlen vor Schweiß glitzernd; in einem elenden Abklatsch von Verführung löste sie ihr Haar. (…) Aber trotz ihres irren Aussehens war Blanche vollkommen klar.
Ada 355

Eigentlich hatte sie, Blanche, sich nur verabschieden wollen, weil sie Adas, deren quasi Kammerzofe sie war, Benehmen sich mehr aushielt und ihre Stelle gekündigt hatte.

Sie würde in ein paar Stunden gehen.

Aber

Sie liebte ihn [Van], er war für sie „folie und Fieber“, sie wünschte sich, ein paar verschwiegene Augenblicke mit ihm zu verbringen.
Ada 355

Was in Vans Begehrens peinlich irrt.

Sie hatte ihre Laterne auf eine Leitersprosse gestellt und raffte und hob bereits ihr dürftiges Röckchen. Mileid, Höflichkeit und ein wenig Beistand ihrerseits hätte[n] ihm vielleicht geholfen, den Trieb aufzustacheln, den sie als selbstverständlich annahm und dessen völliges Ausbleiben er sorgfältig unter seinem Schottenumhang verbarg (…).
Ada 3545/356

Und nun, zurückgewiesen, erzählt sie, es sei

ihr unmöglich gewesen, der Abreise entgegenzusehen, wenn er genarrt, getäuscht, betrogen bleiben sollte. In naiven Klammern fügte sie hinzu, sie sei sicher gewesen, er begehre sie schon immer, reden könnten sie nachher

und spricht, ecco sich furchtbar verschätzend, in beinah Adas Ton

Je suis à toi, c’est bientôt l’aube, dein Traum ist Wirklichkeit geworden“,
Ada 356

Wofür wir uns schon lange hätten vor Augen halten müssen, daß diese französischen Einsprengsel eine Tradition der russischen Aristokratie und sonstig „höheren Schichten“ (oder die sich dafür hielten) waren, die Nabokov in diesem Roman geradezu ungebrochen wiederauferstehen und, in Form einer gesetzten Selbstverständlichkeit, latent auch feiern läßt. Doch sei dies nunmehr dahingestellt; von den Schattenseiten gesellschaftlicher Überheblichkeit habe ich schon gesprochen und Ihnen → gleichfalls erzählt, wie durchaus primitiv Van (wenn auch, wie es seine Art, eine jegliche Silbe geschliffen und geschleift) nach Blanches denunzierender Eröffnung reagiert; viel interessanter finde ich, vermittels welch beschwörenden Rufens A d a – unterdessen achtzehn[1]–  um zu erinnern: Als ihre und Vans sofort auch körperliche Liebe begann, war sie zwölf, und er war vierzehn (Lucette indes erst acht). –  in einem über zwei Jahre später geschriebenen Brief ihre Liebschaften erklärt –  genau hier nämlich rechtfertigt sich die Übersetzung des zweiten Romantitelteils „or Ardor“, also Ardors, in speziell das „Verlangen“:

… oh, ich klage Dich nicht an: — aber, Van, Du bist verantwortlich (oder das Fatum ist durch Dich verantwortlich, ce qui revient au même) dafür, etwas Wahnsinniges in mir losgelassen zu haben, als wir noch Kinder waren, ein physisches Verlangen, einen unstillbaren Juckreiz. Das Feuer, das Du anriebst, hinterließ sein Brandmal auf der empfindlichsten, lasterhaftesten und zartesten Stelle meines Körpers. (…) Wenn ich ohne Deine Liebkosungen bleibe, verliere ich völlig die Kontrolle über meine Nerven (…). Ich klage Dich nicht an, aber dies ist der Grund, warum ich Verlangen habe und dem Ansturm fremden Fleisches nicht widerstehen kann; das ist es, warum unsere gemeinsame Vergangenheit Wellen grenzenlosen Betrugs ausstrahlt.
Ada 405/406

Doch Van bleibt, in seinem verletzten Narzissmus ziemlich selbstschädigend, kühl, verweigert das Wiedersehen, vergräbt sich in  seine Forschungen, nimmt eine Professur an, arbeitet an einer Philosophie der Textur der Zeit (als deren Exempel oder, wenn Sie wollen, auf dieses eine Probe durchaus der Roman-selbst betrachtet werden kann) und wird dabei dicker und dicker, was allerdings weder den zahllosen Gespielinnen noch seiner deret-, doch eigentlich nach wie vor nur Adas halber derart dauernden wie dauerhaften Potenz etwas ausmacht, daß er sie sich, vorwiegend hochrational, in einer Art Bordellkette für die Oberen Zehntausend immer wieder im Wortsinn abstoßen muß, die sie nach Art eines, sagen wir, „vornehmen“[2], also hochbegütert ausgestatteten Clubs auch finanziert – eigentlich, übrigens, die Idee eines fünfzehn(!!)jährigen Jungen namens Eric[3]„Villa Venus: ein organisierter Traum“ (Ada 423) –; „Villa Venus“ oder „Floramor“ sind die schließlich genau einhundert stets lauschig gelegenen und nicht nur entfernt an Kubricks Somerton[4]Den Namen dürfte er, Kubrick, → dorther genommen haben. erinnernden Etablissements und über Demonia weit verstreuten Landschlösser genannt —

Exzentrizität ist des größten Kummers größtes Heilmittel. (…) Das muß ein rührender und prächtiger Anblick gewesen sein – der des alten, aber immer noch kräftigen Holländers mit seinem zerfurchten Reptil-Gesicht, wie er mit Hilfe Linker [!!] Dekorateure tausendundein Floramors entwarf, die er überall in der Welt zu errichten beschlossen hatte (…). Er fing beim bäuerlichen England und der amerikanischen Küste an und war gerade mit einer Robert-Adam-ähnlichen Komposition beschäftigt (die von einheimischen Spaßvögeln grausam als Madame-I’m-Adam-Haus bezeichnet wurde), nicht weit weg von Newport, Rhodos Island, errichtet in einem etwas senilen Stil, mit Marmorsäulen, die aus antiken Meeren gefischt und immer noch von etruskischen Austernschaln überkrustet waren, da erlag er, während er half, ein Propylon abzustützen, einem Herzschlag. Es war erst sein hundertstes Haus!
Ada 425

—, deren Geschichte Nabokov seinen Van verdächtig süffisant, weil eigentlich sich, Nabokov selbst, erzählen läßt — als eine, bös formuliert, erotische Altherrenfantasie von bisweilen drastisch pädophilem Zuschnitt:

Die Kandidaten für jedes Floramor mußten von einem Komitee aus Clubmitgliedern ausgewählt werden, die die jährliche Anhäufung von Eindrücken und Wünschen, wie sie von den Gästen in einem besonderen Muschel-Rosa-Buch festgehalten worden waren, in Betracht zogen. „Schönheit und Zärtlichkeit, Anmut und Gelehrigkeit“ bildeten die Haupteigenschaften, die man von den Mädchen verlangte, deren Alter zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig im Falle „schlanker nordischer Puppen“ lag, und zwischen zehn [!!!, ANH] und zwanzig bei „rundlichen südländischen Schönen“.

Kein Mensch dürfte – und wollte – so etwas heute noch schreiben, wenngleich solcherart Orte nach wie vor, wie ich aus eigenem Erleben weiß, existieren und ganz sicher weitexistieren werden, auch wenn tatsächlich nur für eine Garde der, ich nenne sie mal, „Auserwählten“, sei es ihres Geldes, sei es ihres Rufes oder einer sonstigen Bedeutung wegen, die sie verkörpern. Kubrick, dreißig Jahre nach Adas Erscheinen, hatte und hat völlig recht; indem er sich auf Boschs Gärten der Lüste bezieht, beharrt er auf einer historischen Kontinuität, die selbst radikalste Bilderstürmende allenfalls zeitweilig stören können und meist nur in geografisch scharf umrissenem Rahmen: Noch heute existieren parallel von uns sogenannt moderne mit im Mittelalter verwurzelten Gesellschaften; wenige kleine Ethnien reichen sogar weiter zurück. Aber dies nur beiseitegesprochen. Was, um drauf zurückzukommen, die „Kandidant(l)innen“ anbelangt, sollten sie

in „Boudoirs und Wintergärten“ herumhüpfen und sich rekeln, stets nackt und zur Liebe bereit; nicht jedoch ihre Dienerinnen, attraktiv gekleidete Zofen von mehr oder weniger exotischer Herkunft, „unerreichbar für die Neigung der Mitglieder außer durch Sonder-Erlaubnis[5]Liegt hier nicht, von „Sondier-“ zu schreiben, nahe? der Verwaltung“.
Ada 424

Wir müssen uns selbstredend keine Gedanken machen, daß Van stets eine solche bekommt, dessen Lieblingsklausel

(denn ich besitze eine Photokopie von dem Schönschriftstück des armen Jungen[6]Gemeint ist jener Eric.) ist, daß jedes Mädchen während ihrer Periode per Akklamation Chefin ihres Floramors sein konnte. (Das klappte natürlich nicht, und das Komitee schloß einen Kompromiß, indem es einen gutaussehenden weiblichen Homosexuellen

„einen weiblichen Homosexuellen“ — fürwahr, Nabokov dachte identitätsmoralisch ein ganzes halbes Jahrhundert voraus ..

an die Spitze des Stabes stellte und noch einen Rauschmeißer hinzufügte (…).
Ada 424 ff

Leider kann ich es bei diesen Auszügen genüge sein noch nicht lassen, auch wenn sie, je nach Perspektive, klebrig oder aufmüpfig oder scharf ästhetizistisch, also aggressiv, sind. Daß alles drei der Fall ist, legitimiert das Verfahren poetologisch — auch indes als eine Form von Befreiung. Denn Fantasien haben wir alle, auch „ungehörige“; wir sind „bloß“ → angewiesen, sie in uns wegzusperren. Was einer Verdrängung gleichkommt, einer psychischen Bewegung mithin, die uns auch körperlich krankmachen kann und in der Regel zum Grund mitunter schwerer Neurosen wird. Dem begegnet die formen deDarstellung. Unter anderem deshalb ist unser heutiger „Woke“-Moralismus gerade gegenüber der Kunst so gefährlich, hingegen sich, wenn in einem Krimi gemordet und Schlimmeres getan wird, gar niemand aufregt, oder, Freundin, denken Sie an den so beliebten → Dexter. Nabokovs Roman ist eine – teils sogar phantastische – Erzählung, nicht die Realität. Was der → schon erwähnte Moralist Gasser

affektierte Erotikmarionetten eines Gepetto

nennt,

der offenbar letztmalig die ganz große Sau rauslassen wollte – aber nicht grob lüstern natürlich, sondern fein ziselierend
wie ein (,)

was bei Kubrick stimmt, nicht hingegen für Ada,

Hieronymus Bosch (,)
FAZ, 17.12.2010

i s t nicht ziseliert – schon in diesem Wort steckt Gassers unangebrachte Abschätzigkeit –, sondern elegant gesetzt; etwa können wir die gesamte Floramors-Passage für überflüssig halten (ich, ein wenig, tendiere dazu); ornamental ist sie n i c h t. Wenn er also schon, Nabokov, „die große Sau rauslassen wollte“, dann die der Erzähllust, eines Rausches des Erzählens, den die Stilistik erdet. Des weiteren war Nabokov zu Ada-Zeiten längst hochberühmt und bewundert. Könnte seine Lust am Tabubruch auch daran gelegen haben, daß er keine Lust mehr hatte, der Konsumbefriedigung seiner gebildeten Leser zu dienen und sie also schlucken ließ[7]Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Leserinnen auch; Nabokov ist das Gegenteil von Proust.? Aristokraten werden bedient. Entsprechend schreibt er weiter:

Laut Erics Plan waren adlige Ältesten-Räte für die Musterung der Mädchen verantwortlich,
Ada 428

die ich Ihnen jetzt ebenso erspare wie die Geschehen bei Vans Besuchen der Floramors. Nur sein letzter ist der Rede wirklich wert, weil dieses Ende von II,3 beklemmend die trauernde Verlorenheit wieder zeigt, die insgesamt die Villa-Venus-Erzählung grundiert:

Und wenn das Kind wirklich Adora hieß, was war sie dann? — nicht rumänisch, nicht dalmatinisch, nicht sizilianisch, nicht irisch, obwohl ein Echo irischer Aussprache in ihrem gebrochenen, aber nicht allzu fremden Englisch feststellbar war. War dies wirklich ihr Geburtstag – dieser einundzwanzigste Juli neunzehnhundertvier oder -acht oder gar etliche Jahre später auf einer felsigen Mittelmeer-Halbinsel?
Eine ganz ferne Kirchenturm-Uhr, die außer zur Nacht nie zu hören war, schlug zweimal und fügte ein Viertel hinzu.
„Smorchiama la secandela“[8]„Löschen wir die Kerze“, murmelte die Bordellmutter auf dem Bett in dem einheimischen Dialekt, den Van besser als Italienisch verstand. Das Kind in seinen Armen bewegte sich, und er legte seinen Frackmantel über sie. In der fettdünstenden Dunkelheit legte sich ein mattes Muster von Mondlicht auf den Steinfußboden, neben seine für immer abgezogene

Kubrick!

Halbmaske, die dort herumlag (…). Der Flügel in der ansonsten kahlen Halle schien ganz von selbst zu spielen, aber in Wirklichkeit berutschten ihn Ratten auf der Jagd nach dem reichhaltigen Abfall, den die Magd dort ausgeschüttet hatte, weil sie gern ein bißchen Musik hörte, wenn ihr krebsverseuchter Bauch sie noch vor Morgengrauen mit seinem ersten vertrauten Stich hochholte. Die verfallene Villa hatte mit Erics „organisiertem Traum“ keinerlei Ähnlichkeit mehr, doch das weiche kleine Wesen in Vans verzweifelter Umarmung war Ada(,)
Ada 436/437

die er nunmehr real seit, wenn 1904, acht, wenn 1908, zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat, und wenn „etliche Jahre später“ gar mehr als anderthalb Dezennien nicht; zu Vans Qual ist sie, die eher verhalten eine Schauspielerinnenkarriere begann, bereits seit 1893 mit dem in seinen Augen einfältigen, nicht gesellschaftsfähigen Andrey Vinelander[9]Irrt sich mein Instinkt, der Thomas Pynchons Roman – Vineland, 1990 – mit diesem Namen in Zusammenhang bringt? Immerhin will er, Pynchon, in Nabokovs Scheibwerkstätten gesessen haben. verheiratet.  Tatsächlich wird es zu einer tatsächlichen Wiederbegegnung erst – und nicht auf Vans Betreiben – 1905 kommen —, so daß seine Erinnerung „1908 oder etliches später“ nicht stimmen kann, stimmen aber auch nicht muß, weil die Zeitangaben weniger konkrete denn solche sind, die umgangssprachlich wir Heutigen „gefühlte“ nennen würden.

Erst treffen sie in Gegenwart ihres Mannes und seiner Schwester aufeinander, dann,

als die weißer-gesichtige, röter-mundige, vier-Jahre-ältere Ada vor einem erschütterten, bereits schluchzenden, ewigjugendlichen Van stand, und ihr fließendes Haar mischte sich mit dunklen Pelzen, die noch üppiger waren als die ihrer Schwester [Lucettes; ANH],
Ada 476

besucht sie ihn mehrmals in seiner Suite im → Trois Cygnes, Mont Roux:

Er hatte einen jener Sätze vorbereitet, die in Träumen richtig, aber lahm im luziden Leben klingen: „Ich sah dich über mir auf Libelulla-Flügeln kreisen“; er brach bei „…ulla“ zusammen und fiel ihr vor die Füße –

was eben nicht ironisch gemeint, erst recht nicht so betrachtet ist, sondern — russisch, das eben ist das hier objektiv Große;

– vor ihren bloßen Spann im schimmernden schwarzen Glass-Schühchen – genau in der gleichen Haltung, das gleiche Häufchen hoffnungsloser Zärtlichkeit, Selbstopferung, Denunziation dämonischen Lebens, in die er im Rückblick im innersten Winkel seines Geistes jedesmal zu versinken pflegte, wenn er an ihr unmögliches Halblächeln dachte, da sie ihre Schulterblätter dem Stamm des endgültig letzten Baums anglich.
Ada 476 ff

So daß er ihr endlich eröffnet,

daß Van Veen zwar ein wackerer und dauerhafter Liebhaber sein, aber niemals auf Nachwuchs hoffen könnte. Wie fröhlich Klein-Ada da in die Hände klatschte!
Ada 480

So daß wir nicht nur gleichsam („Klein-Ada“) erneut im Sommer von Ardis sind — es hat einen Grund, daß der erwachsene Ivan Veen über die Textur der Zeit arbeitet —, sondern womit, ich meine die Eröffnung seiner Sterilität, ein einander treues und auch sichtbares (Mit)Einanderlieben tatsächlich möglich würde. Und ja, nunmehr beschließt Ada, sich für den Geliebten von ihrem Mann zu trennen, der aber eine Woche später schwer erkrankt, so daß sie ihm die Scheidung nicht auch noch antun mag. Damit ist die nächste, nun siebzehn Jahre währende Trennung eingeleitet, in denen Ada Van an die hundert, → wie Dieter E. Zimmer schreibt, „around a hundred brief and rather meaningless letters“ schickt. Doch vorher schon, ein halbes Jahr vor Demons tödlichem Unglück, hatte ein intensives Gespräch Vans mit seinem Vater stattgefunden, der die leibliche Verbindung seiner beiden Kinder schwer mißbilligt und den Sohn auffordert, sie seinerseits ein- für allemal zu beenden:

„Ich kann dich nicht enterben (…) und ich kann dich nicht den Behörden ausliefern, ohne meine Tochter mit hineinzuziehen, die ich um jeden Preis beschützen möchte. Aber ich kann das Nächstliegende tun, ich kann dich verfluchen, ich kann dies jetzt unser letztes, letztes — „
Ada 540

— was es eben auch sein wird, das letzte Zusammenkommen …

Demon gewann seine Fassung (wenn auch nicht sein junges Aussehen) wieder und sagte:
„Ich glaube an dich und deinen gesunden Menschenverstand. Du darfst einem alten Verführer nicht gestatten, den einzigen Sohn zu verleugnen. Wenn du sie liebst, so wünschst du, daß sie glücklich ist, und sie wird nicht so glücklich sein, wie sie könnte, wenn du sie erst einmal aufgegeben hast. Du darfst gehen. Sag ihr auf dem Weg nach unten, sie soll herkommen.“
Ada 541

So daß er, zurück in seiner Suite, an Ada folgende Zeilen schreibt:

Tu, was er dir sagt. Seine Logik klingt absurd und setzt eine unbestimmte Art ‚Viktorianischer‘ Epoche voraus, wie sie sie angeblich auf Terra haben, aber in einem Paroxysmus von [unleserlich] wurde mir plötzlich klar, er hatte recht. Ja, recht, hier und dort, nicht weder hier noch dort, wie sonst meist. (…) Leb wohl, Mädchen.
Ada 542/543

Bevor er dann flieht, auf eine Weltreise erst einmal, findet er fürs russische Roulette

seine Thunderbolt-Pistole an der Selle, die er vorausgesehen hatte, füllte eine Patrone ins Magazin und ließ sie in den Lauf wandern. Dann vor dem Schrankspiegel stehend, hielt er die Automatic gegen seinen Kopf, an den Pterions-Punkt

überaus typisch, daß Nabokov nicht einfach nur „Schläfe“ schreibt

und drückte auf den bequem gebogenen Abzug. Nichts geschah — oder vielleicht geschah alles, und sein Schicksal gabelte sich einfach in jenem Augenblick, wie es wahrscheinlich nachts manchmal vorkommt, besonders in einem fremden Bett, im Zustand großen Glücks oder großer Verzweiflung, wenn wir im Schlaf sterben, aber unser normales Dasein, ohne wahrnehmbaren Bruch in der gefälschten Serie, am folgenden sauber vorbereiteten Morgen fortsetzen, mit einer Schein-Vergangenheit, die verborgen, aber fest hinten angeheftet ist.
Ada 543

Und wir, liebste Freundin, wenden die Seite und schreiten ohne wahrnehmbaren Bruch in der gefälschten Serie in den Dritten Teil dieses Buches hinein.

 

Ihr ANH
[Arbeitswohnung 16.29 Uhr
13. bis 15. März 2023]

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Nabokov lesen 45
Nabokov lesen, 43

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References

References
1 –  um zu erinnern: Als ihre und Vans sofort auch körperliche Liebe begann, war sie zwölf, und er war vierzehn (Lucette indes erst acht).
2 , also hochbegütert ausgestatteten
3 „Villa Venus: ein organisierter Traum“ (Ada 423)
4 Den Namen dürfte er, Kubrick, → dorther genommen haben.
5 Liegt hier nicht, von „Sondier-“ zu schreiben, nahe?
6 Gemeint ist jener Eric.
7 Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Leserinnen auch; Nabokov ist das Gegenteil von Proust.
8 „Löschen wir die Kerze“
9 Irrt sich mein Instinkt, der Thomas Pynchons Roman – Vineland, 1990 – mit diesem Namen in Zusammenhang bringt? Immerhin will er, Pynchon, in Nabokovs Scheibwerkstätten gesessen haben.

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