[Arbeitswohnung, 7.58 Uhr]
wer zu verlieren fürchtet, ist schon verloren.
Gustav Mahler
Die Rezension zu Sigrid Behrens‘ beeindruckendem Roman fertiggeschrieben und an Faustkultur geschickt. Bin gespannt, ob es, da der Text recht lang ist, Kürzungswünsche geben wird, denk es aber eigentlich nicht. Denn nach wie vor können wir im Netz allein aus, lustig(:), „mangelndem Platzmangel“ fein präzise sein, kommen um „reines Behaupten“ herum — was uns verpflichtet zu argumentieren. Sich rauszureden „gildet nicht“ (wie in meiner Jugend gesagt worden ist, für gilt nicht also).
Frühabends hab ich noch → Judith Kuckart von diesem Buch vorgeschwärmt, mit der ich mich auf anderthalb Glas Wein vorm → Dock 11 getroffen habe. Befreundet sind wie seit unserer Massimo-Zeit, seit 1998 also, sehen uns aber recht selten. Was wir zu ändern gerade dabeisind. Neulich fragte mich jemand, ob ich denn keine Schriftstellerfreundschaften hätte. Tatsächlich sind es wenige, leidlich intensiv eigentlich bloß Ricarda Junge, Sabine Scho und Benjamin Stein, jetzt, wie’s aussieht, wieder Judith. Helmut Schulze selbstverständlich noch, trotz der weiten Entfernung. Alle anderen Kollegenkontakte sind Bekanntschaften, kaum mehr. Und Christopher Ecker, mit dem es intensiver möglich und irgendwie auch dringend wäre, sehe ich ja kaum, schon aus Gründen der Entfernung (wir haben bislang nicht einmal gechattet, tatsächlich, nicht ein einziges Mal, und korrespondieren auch wenig, ich lese „ihn“ nur und schreib über ihn, also seine Bücher). Andres hat mir bislang kaum gefehlt. Aber es scheint sich zu ändern. Seltsamer- oder bezeichnenderweise seit text+kritik. Es ist, als ob ich mich nunmehr nicht mehr, ja, rechtfertigen müßte. Ein über Jahrzehnte besetzter Außenseiterplatz („randständig“ heißt es immer wieder) zeitigt sogar in der Selbstwahrnehmung Folgen, und in der Selbstgewißheit, um von – „sicherheit“ zu schweigen. Was wiederum, eine ziemlich dämliche Dynamik, zu nachdrücklicher Selbstbehauptung führt, „Behauptung“ in leider auch doppeltem Sinn. Anders als in meiner Jugend und den ersten Erwachsenenjahren hat „Außenseiter“ keine irgend positive Aura mehr (zum Beispiel ein von andren so empfundenes „Geheimnis“); wer nicht mit im Strom schwimmt, gilt als draußen. Nicht generell, indes im Allgemeinen. Auch hier hat „der“ Pop gewirkt (das „der“ bewußt in Anführungszeichen, da die Grenzen des Genres fließend sind, wie Uwe Schütte mir – höchst überzeugend – gezeigt hat.)
Bei Facebook eine teils enorm aggressive Diskussion zu meinem → J’accuse wegen der Letzten Generation; es ist sinnvoll gewesen, mir heute früh die Arbeit gemacht zu haben, die dortigen Kommentare→ in Die Dschungel zu kopieren (und formatierend aufzubereiten) und dabei auch zu dokumentieren, daß etwa der von mir so geschätzte Keuschnig ausgestiegen ist, und wie er es tat. „Was hab ich denn jetzt wieder angestellt?“ fragte ich, nachdem er schrieb, er nehme fortan an „meinen“ Diskussionen nicht mehr teil. Er wollte verletzen, klar, und er schaffte es auch; fraglich ist nur, warum? A l s ich es fragte, löschte er. Sowas ist nahe am → „Ghosting“ oder erinnert doch an die elterliche Replik, wenn das Kind fragt, wie ich tat: „Was tat ich denn?“ Standardantwort: „Das weißt du schon selbst.“ – Diese Dynamik ist eine der Macht; das Recht wird per se auf der eigenen Seite behauptet, ohne daß es begründet werden muß. Dergleichen ist im Netz immer wieder zu finden, was zeigt, daß es nicht nur regressiv[1]repressiv allerdings auch ist, sondern die Regression auch bei solchen befördert, die im „realen“ Leben weit davon entfernt sind, regrediert zu sein. Die, ich sag mal, „second world“ ist halt noch jung; auch sie muß erst reifen. (Ich beobachte dergleichen sehr wohl auch an mir.)
Kleine Theorie des literarischen Bloggens ff
Nach dem Treffen an Dock 11 zur und auf der Danziger spaziert, um wieder einmal vom meines Wissens besten Hummus Berlins zu essen, draußen im Endsonnenlicht auf einer der von Daye hinausgestellten Holzbänke, sinnierend dabei, flaneurhaft meditativ; danach die Duncker hoch, als —
„He, Alban!“
Ich hatte mich durch eine teils sitzende, teils stehende Menge vor einer der vielen Bars gedrückt. So gab’s nun n o c h einen Wein. Ich l i e ß es bei ihm, es war „gefährlich“. Aber wir verabredeten uns für morgen, nachher also, am Weinstand Kollwitzplatz; Austern geben wird’s dazu. Wobei dies laisser faire mir schwerfällt; derart viel Arbeit liegt an. Nur tut sie das halt immer.
Umso schöner, mit diesem Blick zu erwachen. Päonienzeit, Freundin.
Endlich wieder.
Ihr ANH
9.47 Uhr
References
↑1 | repressiv allerdings auch |
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