Der Horcynus Orca nun auch im Kaumarbeitsjournal des Montags, den 21. August 2023. Nämlich auch als Horcynus Orca (5), ANH-Erzählung 1.

[Foto Delfin (Beitragsbild): Brien Aho bei → Wikipedia]

[Arbeitswohnung, 9.05 Uhr
Wolf-Ferrari, Sinfonia Brevis Es-Dur]
Obwohl ich auf jeden Fall noch bis zum kommenden Wochenende einen kleinen Text mal wieder für Gutenbegs Welt verfassen und einsprechen muß, bin ich kreativ zur Zeit leicht gelähmt – e i n i g e Zeit schon, weil ich darauf warten muß daß mein Arco-Verleger endlich, endlich seine Triest-Lektüre abschließt und mir seine etwaigen Einwände und Revisionsvorschläge unterbreitet. Immer kam ihm etwas dazwischen, enormer Druck vor allem von außen, den ein quasi Ein-Mann-Betrieb halt nicht delegieren kann; dazu, wie er klagt, dauernde Unzuverlässig- und Schludrigkeiten, die alle er zu richten hat, vor allem, weil das zur Buchmesse erscheinende Programm in die Produktion muß. Volles Verständnis meinerseits, aber ich hänge in der Luft. Was ich mir vorgenommen hatte, muß ich nun ohnedies aufschieben, nämlich die letzte Überarbeitung des Romans direkt vor Ort zumindest zu beginnen, mich also für drei bis vier Wochen in Triest einzumieten, vielleicht sogar für wenigstes eine im Ostello Villa Tergeste. Doch jetzt, so kurzfristig, würde es für den September selbst in einem AirBnb zu teuer werden, und später möchte ich eigentlich nicht; November hab ich in Berlin genug. Ohne Arcos möglichen Einwände aber, die meiner Lektorin kenne ich, ist es nicht sinnvoll, mit der Arbeit zu beginnen; so engmaschig, wie dieser Text gebaut ist, bedeutete es andernfalls doppelte bis dreifache Mühe, womit dann nicht mal mehr sicher wäre, daß das Buch im kommenden Herbst erscheinen kann.
Aber seltsam, nervös macht mich dies alles nicht; ich bin für meine Verhältnisse geradezu gelassen. Nur daß ich eben nicht zum Schreiben komme. Immerhin habe ich nach langer Zeit mal wieder einen → Gedichtentwurf hinbekommen, freilich noch höchst wackelig.  Doch ist‘ ja reichlich sinnlos, etwa eines der ganz neuen großen Projekte zu beginnen, als welche ich nicht nur die Yōsei-Novelle, sondern e i n i g e im Hinterkopf habe. Denn sind dann die Einwände da, usw., müßte und würde ich es gleich wieder abbrechen, um mich ganz dem Triestbuch zu widmen. So im vornherein gestaucht, fängt ein kluger Mensch nicht an; es wäre unrecht gegenüber dem Neuen, das ein Anrecht auf die volle Zuwendung hat. Und also kämpfe ich statt dessen nach wie vor mit meinem Arbeitsnetzwerk, das zwischendurch – sogar paar Tage lang – fürtrefflich funktionierte, doch eines Morgens plötzlich nicht mehr; keine Ahnung, weshalb. — Und ich l e s e . Wie überraschend da, daß – Wochen, nachdem ich drum gebeten – am Sonnabend tatsächlich der gebundene Orca vom Verlag ankam, mit einer entzückenden Karte:

[Wolf-Ferrari, Violinkonzert D-Dur]

Und was für ein — hätt ich in meiner Jugend ausgerufen — O s c h i ! Eintausendvierhunderteinundsiebzig (1471)  geradezu winzig bedruckte Seiten (diesbezüglich hat die eBook-Version deutliche Stärken) mit aber wunderschönem, einem geradezu zärtlichen Satzspiegel … – und wie, vor allem, geradezu organisch sich die Seiten um- und aufeinanderlegen, sich ineinander- gleichsam –schmiegen. Dazu die unterdessen Seltenheit einer Leinenbindung (der erste Wolpertinger hatte sie, bei → dielmann, allerdings a u c h, er in blau, dies hier in der Tönung matten Elfenbeins); kurzum: ein Genuß alleine als Objekt. Na gut, ein Fetisch, doch warum nicht, wenn der Götze sich als Gott erweist, dem der Formulierungen?

Er sprach eine Sprache, die ein frittiertes Allerlei, ein Pottpurri, war, wie das, was andere wie er sprachen, die sich ein ganzes Leben lang hatten anheuern lassen, deren Schiffe ihre Heimat, ihr Haus und ihre Familie waren und zur Gesellschaft an Bord und zu Gesellen in den Häfen Seeleute jeglicher Rasse und Sprache haben. Wenn sie schließlich abheuern, sind sie wie Simone Gaspiroso und finden sich nicht einmal mehr mit ihrer Sprache zurecht. Doch dort, untereinander, ist es ein wunderbares Geheimnis, wie leicht sie sich verständigen können. Signor Cama, der einer von ihnen war, denn er war dreißig Jahre über die Meere gefahren, bevor er als Strandaufseher nach Charybdis kam, prahlte immer damit, daß er, Amerikaner, Franzosen oder Deutsche immer nur zwei Wörter Amerikanisch und zwei Sizilianisch brauchten, um sich mit jedem, wer es auch war, zu verständigen, mehr noch, wenn er nicht das Sizilianische einbrachte, verstanden sie ihn gar nicht. Um es genügte ihm, um ein Beispiel zu liefern, wenn er sagte, daß er damals, als sie in Shanghai mit einem schwierigen Problem beschäftigt waren, es für bestimmte englische, portugiesische und chinesische Seeleute folgendermaßen zusammenfaßte: Papa als Popo ol so rait, doch Papa als King, ke Nickinacki? Und weil sie völlig einverstanden waren, gaben sie ihm sogar einen aus.
Buchseite 487 / eBook-Position 8901

So daß ich jetzt aber nicht nur, wie bisher, wenn ich aus dem Roman → zitierte, allein die „Position“ nennen kann, sondern, Freundin, nun endlich die Buchseiten auch; zumindest → einen meiner Leser wird dies beglücken. Und ich durfte feststellen, daß ich bei der zuletzt gelesenen Position 7543 im Buch bereits bei der vierhundertvierzehnten Seite angekommen war, fast einem Drittel des Romans. Was ich auf der ersten Umschlaginnenseite auch sofort notierte:

Denn es geht die Weite eines Landes verloren, wenn wir nicht auf es draufschauen oder, bei einem Buch, sie vor uns sehen können, sondern einfach „nur“ voranschreiten. Andererseits schleppt man anderthalb Kilo (exakt: 1490 Gramm) ungern mit sich draußen herum, weshalb ich mir den Luxus leiste, diesen hinreißenden Text unterwegs auf Kindle oder im iPhone, am Schreibtisch aber als Buch zu lesen. Entsprechend werde ich kommende Zitate stets doppelt ausweisen. Denn dieses Kommende w i r d, liebste Freundin, kommen. Und später dann, wenn ich „durch“ sein werde, auch eine, sagen wir, „klassische“ Rezension. Wenn Sie auf die nicht warten wollen, → bestellen Sie am besten gleich, in keinem Fall ein Fehler, selbst wenn Sie sich kurz an die Stelle jener ahnungslosen Frau versetzt fühlen sollten,

(…)
… die ihren Kopf nach hinten
[wandte], wie wenn sie in dieser Dunkelheit mehr mit dem Gehör als mit den Augen übers Meer blicken wollte,
S. 451/Position8228

weil sie vielleicht meinte, daß auch Ihnen die Morgendämmerung nicht helfe.

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Horcynus Orca 6
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***

[14.11 Uhr
Schreker, Fünf Gesänge für tiefe Stimme]
           Noch ist Sommer, ein wunderbar heißer, feuchter — und doch spür ich den Herbst nicht nur deshalb voraus, weil in der Sonnabendnacht die Familie zurück von der Insel kam, allerdings „nur“ लक्ष्मी und die Zwillinge, unser Großer, ganz wie ich, blieb hier. Bei mir waren’s vor allem finanzielle Gründe; selbst hätt ich die Reise selbst noch stemmen können, wäre ich doch dort alltäglich unglücklich gewesen, wenn ich die Taucher ausfahrn hätte sehen und nicht dabeisein können. Dafür ist nun wirklich dieses Jahr kein Geld, zumal ich etwas für Triest auf der Hinterhand halten muß, jedenfalls sollte (doch dafür winkte eine zur Hülf‘ bereite Hand). Wie auch immer, ich fuhr die Dreie abholen zum BER, wollte eigentlich einen Share-now– oder Miles-Wagen für die Rückkehr nehmen. Doch, wiewohl beide → mit ihrer Präsenz dort ausgesprochen werben, stand vom ersten Unternehmen schon bei meiner Ankunft nicht ein einziger dort, und die des zweiten, von denen es anfangs einige gab, waren nach der etwas verspäteten Landung — und die Koffer b r a u c h t e n ! — meiner Lieben unvermittelt weg.
Wir nahmen dann den Zug nach Gesundbrunnen, was bequem war, dann für eine Station noch die SBahn.

           Aber was ich erzählen wollte: Ich habe mich, meinerseits mal „woke“, immer dagegen gewehrt, ein „Weißer“ genannt zu werden; der einzig wirklich Weißhäutige, dem ich je begegnet bin, war Arafat – und der hatte eine schwere Krankheit. Aber nun, am Mittag darauf, als लक्ष्मी, der Zwillingsjüngling und ich etwas essen gegangen waren, bewies mir dieses Selfie, daß ich wohl doch einer bin:


Sowas ist nicht leicht zu schlucken, auch wenn zu diesem Bild  etwas später eine Whatsapp-Nachricht einging, die zu zitiern mir peinlich wäre.

           Ach so, ich habe wieder mit Kraftsport begonnen, schon vor fünf Tagen. Es war mein Sohn, mich anzuspornen. Vorerst jedoch genügen mir die in der Zimmerdecke derart bleibend eingedübelten TRX-Bänder, daß sie locker hundert Kilo tragen. Und was soll ich sagen? Bin mal wieder gleichermaßen verdutzt-über wie voller Achtung vorm Körpergedächtnis. – Jeden Tag fünfzig Minuten, also anfangs vier Tage plus einem Tag Pause, wieder vier Tage und ein Tag Pause. Mag sein, daß es im Spätherbst dann schon Zeit für wieder das Sportstudio wird. An Cardio werd ich mich aber erst wieder wagen, wenn genug Körpermasse neu aufgebaut ist, um den absehbaren Gewichtsverlust auszugleichen — bei jetzt schon bis zu acht Mahlzeiten täglich weiß ich einfach (noch) nicht, woher die dann grad bei Langläufen verzehrte Energie neu dem Körper zuzuführen. Aber auch hierbei bleibe ich imgrunde gelassen. Gelassenheit, zumindest relativ zu früher, ist einer der Eigenschaften, die mir → die Krebsin schenkte. Das gilt sogar gegenüber dem Literaturbetrieb, auch wenn ich mir das folgende Zitat – es stammt aus einem meiner Lieblingsbücher – denn d o c h nicht verkneifen kann:

Diejenigen unter Ihnen hier, meine Damen und Herren, die Romanschriftsteller werden wollen, bitte vergessen Sie nicht, dass die mechanische Seite, das Handwerk, wichtiger ist als das Fischen nach nach letzten Wahrheiten oder die Veränderung der Welt! Sollte Ihr Buch die Welt verändern, nun ja, dann nicht deshalb, weil Sie es so beabsichtigt haben, so hat ein gewisser Pontius Pilatus diesbezüglich eine vortreffliche Frage[1]Joh. 18,38 | ANH gestellt, mag er auch Ort und Zeit ein wenig unglücklich gewählt haben.
Kenneth Toomey in Anthony Burgess’ Earthly Powers / Der Fürst der Phantome (1980, dtsch.v. Wolfgang Krege

Ihr ANH
[Schreker, Kammersinfonie]

P.S.:
Auch Orcas sind Delfine — deren aber auch in „Flipper“s Gestalt umschwärmte Varianten in d’Arrigos Roman meist geradezu verabscheut werden, als Feren nämlich, zu welchem Namen sich Moshe Kahn, der Übersetzer, im Anhang gut erhellend äußert:

Diese Bezeichnung für den Delfin leitet sich vom lateinischen ferus ab und bedeutet wild, ungezähmt, grausam. D’Arrigo entlehnt es dem sizilianischen firuni. So nannten die Menschen an den Meeren von Skylla und Charybdis den Delfin. Das Wort ist heute. nachdem es keine handwerkliche Fischerei mehr gibt, in Vergessenheit geraten

und steht nun wieder auf. Ich habe schon jetzt über seinen, des Wortes als Name, Träger manches zu berichten und werd es auch noch tun. Denn g a n z so einfach ist es mit dem „grausam“ n i c h t. Bei einem wie mir haben’s Sie sich eh schon gedacht.

 

References

References
1 Joh. 18,38 | ANH

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