Die Rote Armee Fraktion und Stephanie Bart. Nach der Babylon-Lesung des 27. Septembers ein paar Vorbemerkungen zu einem in jedem Fall bemerkenswerten Roman. Geschrieben auch als Arbeitsjournal, vom Donnerstag nämlich, den 28., auf Freitag, den 29. September 2023.

Andreas und Gudrun kennen einander neun Monate,
dann zünden sie das Kaufhaus an. Die Brandstif-
tung ist das Produkt ihrer Liebe (…).
Bart, S. 242 [1]Zufällig dort aufgeschlagen, ANH

 

[Arbeitswohnung
28. bis 29 September, 12 Uhr)

           Ich hatte ein bißchen gestöbert, was ich der Jungen Welt an Literatur anbieten könne, um sie zu besprechen — neuerdings schreib ich ja auch für sie —, und war nahezu sofort fündig geworden, auch wenn sich kurz danach herausstellte, daß dieses Buch schon „vergeben“ sei. Nu jà, solange nicht vergebens … — Egal, dann eben Faustkultur und sowieso Die Dschungel. Denn die Ankündigung dieses Buches traf mich sofort: Abgesehen von Apollo 11 hat mich in meinen Jugendjahren nichts mehr geprägt als der sogenannte Deutsche Herbst, der mir nicht mal fünf Jahre später, 1981, den Nachnamen als Künstler gab (Arno Münster gab ihn mir, ich hab es → schon erzählt). Wie auch immer, seither gibt es nur wenige Bücher von mir, in denen nicht mindestens ein Terrorist vorkommt; ein Typoskript aus dieser Zeit (Destrudo, 1976/77) liegt nach wie vor unüberarbeitet hier herum; ob ich nochmal Hand dran lege, weiß ich nicht, ich war einundzwanzig/zweiundzwanzig, als ich den Roman schrieb, egal. Auf jeden Fall ist mein Denken ohne die RAF gar nicht vorstellbar, noch heute nicht, und es war für mich wie für die meisten meiner Generation, sofern sie jedenfalls nicht „rechts“ standen, gar keine Frage, daß vor die Stammheimer Tötungen ein „Selbst-“ nicht gesetzt werden dürfe. Doch wenn das jahre-, jahrzehntlang so erzählt wird … — Irgendwann begriff ich und schrieb es auch so nicht nur „auf“, sondern öffentlich h i n:

Geschichte wird durch Einschliff

Selbst → der Profi fiel ihm anheim. Ich selbst halte die offizielle Selbstmorderklärung für nichts als ein geschicktes, wie wir heute sagen, „Narrativ“ — freilich ohne den treibenden Motor dahinter moralisch klar bewerten zu können; ich bin zwar nicht „hin- und hergerissen“, aber schwanke. Das Fakt an sich hingegen scheint mir unbezweifelbar zu sein.

            Kein Wunder also, daß ich auf dieses Buch sofort sprang — jedenfalls hinradelte, ins Babylon gestern (vorgestern heut), wo die erste Lesung, die Buchpremiere, stattfand: hochkarätig besetzt, mit seltsam – vielleicht auch, weil saitenverstimmter –  zeitentrückter, weit entrückter, Klaviereinstimmung vorher, gleich käm Buster Keaton um die Ecke, der Saal knapp halb gefüllt, klasse der Blick auf den riesigen Vorhang der Leinwand:

Die Decke wie eine nüchterne Jules-Verne-Phantasie, Ausstattungspendant zur Klavierklimperei. „Belariakino, wo’s die uralten Fülm spüü’n“ (André Heller). Dann Auftritt der Autorin und ihrer Gesprächsteilnehmer Andreas Platthaus (FAZ) und dem berühmten Anwalt des Verlags, Peter Raue, der Stephanie Barts gewagten Roman auf mögliche (Persönlichkeits)Rechtseinwände durchgesehen hat und daher, ganz unabhängig davon, ob es sich um gute Literatur handeln werde, für mich von besonderem Interesse war, egal ob selbstverständlich wieder und wieder auf den → Buchprozeß um Billers Esra abgestellt wurde, hingegen  Meere nicht auch nur ein einziges Wort der Erwähnung fand. Ich versteh das aber schon, Biller ist im Pop zuhause, dem Betrieb sozusagen familiär verwandt, außerdem ein betriebsgenannter „Realist“, und zwar und wie!, und obendrein bekennender Kapitalismus-Aficionado, dem, anders als mir, das Buchverbot einen allenfalls lauen Schaden zufügen konnte, wie gesagt, eine Krähe und die andren. Aber nun gut, anders als meines Wissens Esra ist Meere wieder frei, und nicht, weil ich das irgend „erwirkt“ hätte, sondern weil die Klägerin befand, es müsse nunmehr so sein; ihre Entscheidung hatte menschliche Gründe; Billers Buch geht die Menschlichkeit ab: Es ist ein pures Produkt des gekränkten Narzissmus, Meere eines der Trauer — ein großer, riesiger Unterschied. Um DIE KUNST noch gar nicht ins Spiel zu bringen. Nebenbei ist Meere auch noch die Erzählung einer weiblichen Emanzipation, gegen den Erzähler. Das gesehen, allerdings, haben nur sehr wenige, oder gesehen vielleicht doch: Aber man wollt‘ halt gern den Unhold Herbst, ausgegrenzt kann er nicht stören. Nachvollziehbar, hat er doch Frauen geschlagen, Sadomaso, Dom & Sub, da weiß frau ja, wes‘ Geist wer ist. Wer mag schon solche Erfahrungen teilen oder gar — Ὕπαγε, σατανᾶ![2]Matthäus 4,8-11: „Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, … Continue reading — Erkenntnis draus gewinnen? Ach, lassen wir das. Was mich erstaunte, nein frappierte, war etwas anderes.
Was veranlaßte Raue, das nach wie vor geltende → BVG-Urteil gegen Esra geradezu begeistert einen spektakulären Meilenstein im Sinne der Kunstfreiheit zu nennen? Das Gegenteil, für einen Roman, → war und ist doch der Fall. Für den Persönlichkeitsrechtschutz ist es ein Gewinn, und zwar gerade gegenüber diesem Buch, gar keine Frage, und somit einer der Menschlichkeit. Ob er, der Beschluß, bei Meere ähnlich ausgefallen wäre, steht völlig in den Sternen; es gibt juristische Stimmen, denen zufolge die Verbote i n s g e s a m t nicht verkündet worden wären, wäre Meere, nicht Esra im Prozeß vorausgelaufen. Aber mein Verlag konnte sich eine Anrufung des Verfassungsgerichtes schlichtweg nicht mehr leisten, zumal Aussichten auf einen Erfolg, weil eben prozessual Meere hinter Esra immer nur herlief, schlichtweg nicht bestanden; es hätte die Existenz des gesamten Verlages gefährdet. Also gab man nach dem OLG auf. Daß Meere heute wieder frei ist, ist eben kein Ergebnis der Jurisprudenz. So wirkte Raues Beteuerung ziemlich schal auf mich, daß er sich sicher sei, im Falle einer Einstweiligen Verfügung gegen Secession und Bart werde das Buch letztlinstanzlich gewinnen, egal was Landgericht und Oberlandesgericht an Unfug verfügten. Gerade kleine Verlage (→ Esras hingegen gehört zu den mächtigsten, auch kapitalmächtigsten des Landes) werden alleine der Rechtskosten wegen aus dem Verfahren gefeuert, die sie, erst recht als Verlierer, sich überhaupt nicht leisten können.

          Klar, daß ich das sofort einwenden wollte, mochte aber erstens das, was über mich eh so gedacht wird, nicht noch immer weiterfüttern („Dauernd spielt er sich in den Vordergrund“, ganz wurscht, ob ich etwas Subsantielles zu sagen habe oder nicht), und zweitens ging es ja nur am Rande um die juristischen Fragen; ich wollte die Literatur hören, nicht eine lediglich am Rand situierte Diskussion vom Zaum brechen, auch schon aus Ehrerbietung gegenüber der Autorin. Dnnoch war es höchst erhellend, daß Raue sämtlichen im Buch verarbeiteten, fast überwiegend kaum zu fassenden Details eine Wahrheit zusprach, die er selbst, der Anwalt, vorher niemals geglaubt hätte. Doch alles, alles, selbst das rechtsstaatlich Unglaubliche, ja nichtBegreifbare, sei komplett nachweis- und belegbar; man müsse nur, wie die Autorin getan, die öffentlich zugänglichen Akten sichten. Ah, ich erinnere mich gut! s e h r gut: Es sind Vorhaltungen und Vorwürfe, die damals schon wir Jungen zur Sprache gebracht und wofür wir als, heute würde es heißen, „Verschwörungstheoretiker“ verhämt worden sind. Allerdings hatten wir tatsächlich keine Beweise, denn noch lagen die Akten zur Einsicht nicht aus. Wobei es, nebenbei bemerkt, zu wissen s c h o n interessant gewesen wäre, weshalb Barts neues Buch nicht ebenfalls → bei Hoffmann & Campe erschienen ist; waren wohl d o r t rechtliche Vorhalte befürchtet worden, und man kniff den Schwanz besser ein, bzw. die Möse zusammen? Freilich, solche Fragen stellte niemand, auch der Moderator nicht, kann aber sein, auf Bitte der Autorin; kann indes auch nicht sein, weil eh ein Geier nicht dem andren und so fort, so und so weiter sozialistischer Gang, der auch dem Pop am Herzen liegt, damit ihn die Aura der Multis nicht allzu überleuchtet, → die ihn bestimmenKulturindustrie, wie → Adorno/Horkheimer es nannten. Wobei sie, die Multis, ja heutzutage blenden; ihr Erlösungsversprechen ward längst internalisiert.

 

          Von Stephanie Bart aber nicht.

 

           Mein erster Eindruck: streng, konzentriert, diszipliniert, kein Wort zu viel (auch keins zu wenig); interessanterweise erinnert ihre Physiognomie an Karl Kraus — wobei die Brille eine Rolle spielt, die beiden Brillen tun es, sowie das exakt, gleichsam distanzierend geschnittene Haar. Sie spricht, auch wenn sie vorträgt, sehr leise, was dazu führt, daß wir uns umso mehr konzentrieren mußten; kein Wort wollte mir entgangen sein; nicht immer gelang es.

Ostwind kommt mit dem Tag.
Jagt durchs Neckartal, gebettet in Oden- und Pfälzerwald, fliegt mit dem Fluß, weckt im Vorbei die Altstadt auf, wirbelt an Bögen und Pfeilern und rollt, sich von Norden und Süden verbreitend, aus der Rheinebene, wo der Neckar, der kanalisierte, rechts nach Norden rauf abdreht. Es geht auf den Juni zu, sieben Tage noch, dann ist er da. Die flachen Felder im Westen und hoch aufsteigenden Wälder im Osten der Stadt wachsen dem Mittagshimmel entgegen — wolkenlos, nackt: auch Ehrenfriedhof und Thingstätte, über der Stadt gelegen, beheizt die Sonne mit Kraft, Weltkriegszeugnisse, Nazi-Theater, hin und her geschobene Tote. Die Lebenden in den Häusern und auf den Straßen schwitzen auf kommende Sommerhitze hin, seit Wochen wird es jeden Tag wärmer. Aus dem roten Sand auf dem Appellplatz der Campbel Barracks verdunstet der Tau, die Kaserne liegt in der Südstadt, der Sand trocknet, Schritte beginnen zu knirschen. Im Rücken vier Anschläge vor wenigen Tagen: am 11. die Amis, am 12. die Polizei, am 15. die Justiz, am 19. die Presse. Zwei Jahre Vorbereitung auf die Offensive im Mai 72, Handwerk und Struktur, der Kleine Krieg, die Rote Armee Fraktion liegt in Führung, die Fahndung läuft auf höchsten Touren

—so hebt sie an, hebt auch ihr Buch an. Ich bin perplex. Wie organisch die Schilderung der terroristischen Aktionen als gleichsam Fortsetzung der Naturereignisse! und, ja meine Güte, hat Wolfgang Herrndorf sein Arbeit und Struktur nach diesem Buchanfang benannt, den er noch gar nicht kannte, kennen auch nicht konnte? Sofort diese Fragen, Assoziationen, sofort auch ein Sog. Weiterlesen, unbedingt weiter lesen! Geht aber nicht, schaff ich vor der Messe nicht mehr. Es sind 678 Seiten bis zum TEAM GUDRUN, welches die Danksagung, quasi, darstellt:

Außerdem hänge ich noch tief, sehr tief im → Horcynus Orca — und sofort die Frage, aber sofort die Frage, hält die Bart da sprachlich mit? Doch „muß“ sie es denn, hat nicht – Ichweißnichtmehr,wer’svorgesternmeinte, ob Ruzicska, der Verleger, oder ob Platthaus, recht, es sei hier ein anderes Buch die, sagen wir, „Folie“: Peter Weiss’ens Ästhetik des Widerstands nämlich? Besonders Raue wies darauf hin, welchen Rang die Montage in ihm, diesem RAF-Roman, hat, der mir eher ein Ensslin-Roman zu sein scheint, auch wenn sich beides „naturgemäß“ (Marianne Fritz) überschneidet, ja flächenüberdeckt. Hier liegt oder lag auch eines der juristisch zu bewertenden Probleme: Sie habe, erzählt Bart im Gespräch, Zitate auch ohne Kenntlichmachung in ihre Prosa gewirkt — ein Verfahren, dem früh auch ich schon gefolgt bin; der Wolpertinger ist g e s p i c k t mit Zitaten, die ich an Anfängen und Enden ihrer Sätze sogar verschliffen habe, damit sie sich unmerklich in die Rhythmen meiner eigenen Prosa einschmiegen konnten: metrische Assimilation — und zwar …

… — und zwar aus einem Buch, dessen, sozusagen, Umschlag dem des Bart-Romans verblüffend ähnelt; es war damals nur aus Schweden zu beziehen, die Texte selbst, meiner Erinnerung nach, waren in Deutschland verboten, also in der, wie wir noch sagten, „BRD“:

Wobei mich für meinen Roman vor allem die Texte Jan-Carl Raspes interessierten, der in meinem Buch für Günter Carstens das Urbild war; im Destrudo-Typoskript wird er von den Genossen „die Viper“ genannt. Daß, übrigens, Wolpertinger oder Das Blau derart viele RAF-Zitate durchziehen, hat nie ein Kritiker, nie eine Kritikerin bemerkt; in einem auf ersten Anschein „Elfen-„, jedenfalls phantastischen Roman muß man’s niemandem übelnehmen. Um einen solchen, bei Bart, handelt es sich nun in gar keiner Weise; deshalb war, vor allem nach den höchst unguten Urheberrechtsnovellen, die Rechtsprüfung ganz gewiß sinnvoll, wenn nicht unumgehbar. Was die Bücher indes zu verbinden scheint, ist eben die Montage – wobei Bart Weiss‘ Ästhetik wahrscheinlich mehr folgt als ich; gemeinsam dürften wir von Alexander Kluge geprägt sein, dessen, zusammen mit Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn seit Jahren, ja Jahrzehnten neben mir gleich links in der Reihe stets sofort zuhandener Nachschlagewerke steht — als quasi eine meiner Hausbibeln, weil spekulative Theorie, faktische Wissenschaft und Kunst in ihm symbiotisch wurden, soweit ich’s überblicke, von andren Unternehmen ähnlicher Art unerreicht nach wie vor. Völlig berechtigt deshalb, daß die Aufmachung des Buches als quasi Band 45 der Marx-Engels-Gesamtausgabe ihr ungefähr so angelehnt ist, wie die dieses Bart-Romans an die RAF-Texte bei Bo Cavefors.

           Gut. Gespräch, dann wieder Lesung. Ich weiß nicht mehr, welche Stelle, schlage deshalb abermals irgendwo auf, eine Passage in unvermittelt kursiv — was so aussieht:

Der Übergang, vor allem mit den synkopisch gesetzten Kommata, die das Wort „unruhig“ einschließen, ist hinreißend in der rhythmischen Kleinstruktur, gerade mit dem folgenden Perspektivwechsel auch und gerade der Erzählhaltung, diese Vereinigung auktorialen und subjektiven Erzählens, die es ermöglicht, politische, wie auch immer fehllaufende Aktion mit der Süße gemeinschaftlichen Alltags – Verbundenheit also – uns sinnliche erfahrbar zu machen. Verzeihen Sie, Freundin, das „uns“; selbstverständlich muß es „mir“ heißen, mir sinnlich erfahrbar zu machen. Die Absicht ist klar: Nur was wir tatsächlich verstehen, und zwar über die Ratio hinaus, können wir beurteilen, erst recht ein Urteil drüber fällen. Die hier geschilderte Familiarität ist romantheoretisch notwendig. Und doch geht sie, ging sie mir manchmal zu weit. Bislang, wohlgemerkt, ich habe das Buch ja nicht nicht gelesen, nur drin nach Beispielen gestöbert und vorgestern abend die Lesung gehört. Dennoch ist mein Einwand hier scharf:

So, wie im Buch die Figuren (denn das sind sie, auch wenn sie reale Urbilder haben, die sogar historisch verbürgt sind) bei ihren Vornamen genannt werden, was ich gegenüber Leserinnen und Lesern als manipulativ empfinde, weil nämlich bewußt suggestiv eingesetzt, s p r a ch Bart an diesem Abend auch immer von „Gudrun“, wie wenn sie wären Schwestern oder vertrautest befreundet gewesen. Doch dafür ist diese Autorin, 1965 geboren, entschieden zu jung. Mag freilich sein, daß bei zunehmender Näherung in den Recherchen und vor allem während des Schreibprozesses ein seelischer Identifikationsprozeß mit ihrer Hauptfigur sich eingeschlichen hat — persönlich mehr als entschuldbar, romanästhetisch aber nicht. Denn die Romanfigur zu duzen, ist ein Übergriff; es erlaubt ihr nicht zu sein, sondern zieht, in diesem Fall, über Ensslin Bart. Dazu paßt, daß Bart sich bei ihren Lesungsparts von einem Cellisten begleiten ließ, der Cello nicht spielte, sondern schrammte, sein Instrument zur Marschposaune machte, dessen Gleichschritt die politischen Liedtexte antrieb. Nun ist es wahr, die Zeit der RAF war zugleich die der deutschen Liedermacher von, im dezidiert politischen Spektrum, Degenhardt bis – vor allem – Wader. Und Lieder, dies wurde auch im Gespräch betont, spielen im Roman eine große Rolle; viele Texte seien einmontiert. Das ist schön und gut. Doch vorgetragen, vor allem wie vorgestern abend, verbreiten sie eine unangenehme Aura sentimental-agitatorischer BRD-„Ostalgie“, und zwar umso mehr, als Bart, wie schon erzählt, sehr leise las, hochkonzentriert. Kam dann der, nun jà, „Cellist“ zu Wort, ward dieses Wort – wenn nämlich Wort – auf kitschigste Weise erschlagend. So, und jetzt alle klatschen! Ich habe das immer gehaßt.
Da war dann der Ekel da, mein Ekel vor den schunkelnden Gruppen, vor der, egal ob Bierzelt, ob Demo, Entichung, und | — vor ihnen Angst, vor der „Kollektivierung“ und der in ihr wirkenden, so furchtbar leicht sowohl entgleisenden wie autoritär lenkbaren Massenpsychologie. Und schnell, nothaft schnell, die Rüstung meiner Arroganz hochgezogen. Auf keinen Fall mocht‘ ich bleiben, holte mir geradezu direkt nach der Veranstaltung mein Rezensionsexemplar und floh auf dem Fahrrad in die Nacht.

            Frische Luft beruhigt, Bewegung beruhigt, schon am Schreibtisch hatte ich wieder Distanz. Alles setzen lassen, auf keinen Fall gleich schon schreiben, nicht mal was notieren. Wirken lassen, auch mich, meine eigene Reaktion, wirken lassen und zum erlebten Geschehen (sowohl im Kopf als auch im übrigen Leib) in ein Verhältnis setzen, als schriebe ich eine Erzählung und hätt mich selbst mit zum Material. Und das Material a l s ein Material dann formen. Wie, Freundin, ich durch Ihre Augen sehe und Sie’s durch meine Augen tun, vielleicht tun. Dieses Vielleicht stets auf der Zunge. Möglicherweise. Ach, Utopie. Denn das ist wahr, daß ich, wo immer ich jetzt Barts Roman aufschlage, mich sofort festlese und weiterlesen will; dieser Cellist ist ja weg. Und manchmal sehe ich dann, auf welch unvermutete Weise Stephanie Bart auch lächeln kann; es steht fast deutlicher vor meinem Inneren Auge als da, als ich es sah. Ein ganz berührendes, beinahe kindliches Lächeln, einfach nur vor kurzem Glück, das aus dieser zweifelsfrei höchsten Intelligenz herausblickt, sich aber stets, und mit wohl guten Gründen, wieder tarnt und dann zurecht darauf beharrt — geantwortet auf ungefähr die Frage, ob denn so etwas wie damals, ein halber Jahrhundert ist’s immerhin her, heute abermals denkbar wäre —, es habe sich am Grundproblem eigentlich gar nichts geändert. Das unrechte System werde dieses Unrechts wegen angegriffen und wehre sich auf seine machtvolle, und, wenn es sein muß, jegliches Recht beugende Art. „Was sehn wir denn heute? Der Widerstand ist nicht mal im entferntesten mehr gewaltsam, klebt sich bloß auf Fahrbahnen fest und wird schon deshalb kriminalisiert.“ Tatsächlich wurde die Letzte Generation des Terrorismus auch öffentlich schon nicht nur „bloß“ verdächtigt. Deshalb:

***

           Nein, Freundin, nein, dies ist noch keine Rezension, es sind wirklich nur Vorbemerkungen, um meine Gedanken zu fokussieren, die irgendwann zur eigentlichen dann führen werden. Doch das innere Brodeln brodelt nach dem besprochenen Abend so sehr, daß es schon schäumt und ich nicht anders will noch kann, als dieses Buch schon jetzt dringend zu empfehlen:

__________________
ANH, Berlin
28. & 29. September 2023

Stephanie Bart
Erzählung zur Sache
Roman
Geb., 679 S.eiten, 28 €
ISBN 978-3-96639-078-1
ISBN 978-3-96639-079-8 (E-BOOK)
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References

References
1 Zufällig dort aufgeschlagen, ANH
2 Matthäus 4,8-11: „Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.

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