[Arbeitswohnung, 7.33 Uhr]
Ein bißchen geärgert habe ich mich gestern s c h o n, als ich die Umsetzung meiner Aida-Rezension in der Jungen Welt sah, obwohl ich mir sicher war und bin, die ja auch kaum merklichen redaktionellen Kürzungen/Veränderungen seien besten Willens geschehen; dennoch, es geht mit etwas Wichtiges verloren. Wahrscheinlich haben Sie meinen Unmut → aus meinem Kommentar herausgespürt; so soll es ja auch sein. Direkt gegenüber dem Kollegen (ich weiß, wer’s getan hat, und schätze ihn bereits; umso … na gut, „schmerzhafter“ wär übertrieben … umso ‚nochwas‘ für mich) hab ich mich, anders als → beim ersten Mal, aber nicht geäußert, sondern statt dessen frühnachts eine wiederneue Rezension hinübergeschickt, die nicht beauftragt ist, sondern ich hatte „einfach“ den Drang, sie zu schreiben, nachdem ich nachts zuvor bis halb drei Uhr nachts nicht vom Bildschirm wegkam.
Eine Serie. Ich sag noch nicht, welche. Sollte die Junge Welt meine Besprechung nicht nehmen, was nachvollziehbar wäre, weil sie von 2020 stammt und bei arte bereits seit zwei Jahren abrufbar ist, geb ich meinen Text an Faustkultur weiter; mag man sie, aus denselben nachvollziehbaren Gründen, auch dort nicht nehmen, kommt sie sofort in Die Dschungel. Seltsam, fast eine Herzensangelegenheit. Nicht seltsam, bezeichnend. ‚Bezeichnend‘, spüre ich, für mich. Offenbar etwas Persönliches, „Psychopersönliches“.
Wie aber auch immer, die Aida-Kritik war für mich eine enorme Erfahrung, insofern sehr Bereicherung. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich den Stress eines Tagesjournalisten erlebt. Nachdem ich am Dienstag gegen 22.30 Uhr aus der Oper am Schreibtisch zurückwar, habe ich, klar, erst einmal meinen Mitschnitt auf den Computer geladen — etwas, das Zeit braucht, weil ich mit 96 kHz aufnehmen, die Tonfiles also schwer sind. Schreiben hingegen mochte ich noch nicht, mußte erst die Gedanken klären, las auch das Programmbuch noch zuende durch, nahm dann eines aus 1982, Oper Frankfurtmain, Inszenierung Klaus Zehelein und John Neumeyer. Von dieser Inszenierung ist mir keinerlei Erinnerung mehr geblieben, aber das Programmbuch-dort enthält einen großartigen Aufsatz Klaus Zeheleins, der mich klarer blicken ließ und meiner Argumentation zur Stütze wurde; auch die anderen Essays in dem schmalen, aber nahezu komplett kleinzeilig und dicht durchgetexteten Band (eine „Bleiwüste“, wie man zu so etwas sagt in der Szene), machten mir vieles deutlich.
Morgens drauf, am Mittwoch also (4.10.), bereits um 5.30 Uhr auf, um 6.15 Uhr am Schreibtisch, die Stax-Hörer auf den Ohren, und all meine Unterstreichungen in eine Notatdatei abgetippt. Ich saß noch dran, als um neun meine Mme. LaPutz kam. Ungünstig, bis zwölf sollte ich abgeben, allerspätestens um eins. Noch war ich nur nervös. Dann aber geschah, was in solche Fällen immer geschieht: Madame kam hier nicht klar, dort nicht klar, sprach mich dauernd an. Problematisch ist dabei nicht nur die Störung an sich, sondern daß ich ihr, einer Inderin, Englisch kaum verstehe und sie auch nicht meins. Und sie ist sensibel, fast ängstlich. „Do what you think what is to be done. Decide bei yourself, please.“ — Große, große fragende Augen. Mich machen solche Blicke hilflos. Dann ging auch noch der Staubsauger kaputt. Ich werde unangemessen laut, entschuldigte mich sofort, geriet wegen des Abgabetermins bereits in Panik. Derart viel war zu erzählen! Bei gar nicht wenig, aber eben doch begrenztem Zeilenraum.
Mme LaPutz putzte um mich herum, sozusagen zwischen meinen Füßen sogar; ich hatte sie für eine Stunde länger gebucht als sonst, weil sie auch unter den Tischen usw. saubermachen sollte. Es war dringend nötig, aber heute eben nicht der richtige Zeitpunkt. Jetzt zogen wir beide es durch.
Ich entschuldigte mich erneut bei ihr, war einfach ungerecht. Sie machte ohne Staubsauger weiter, weil ich ihn nun wirklich jetzt nicht reparieren konnte. Es wäre eh nix als ein Versuch gewesen mit gewiß frustrierendem Ende.
Um es kurz zu machen, „meine“ Mme LaPutz hinterließ eine strahlende, glänzende, nach sorgsamer Hygiene geradezu duftende Wohnung. Danke dafür. Und nochmals, nochmals: Entschuldigung.
Um zwölf hatte ich 8000 Zeichen, 4000 waren gewünscht. Sofort rief ich in der Redaktion an. 8000 gehe g a r nicht. Was, bitte, s e i denn möglich? Viertausendfünfhundert vielleicht, allenfalls vieracht. Um halb eins fing ich zu kürzen an, strich vieles weg, das eigentlich gar nicht entbehrlich, entbehrlich schließlich doch war. Punkt eins gab ich ab. Mein Oberhemd riecht jetzt noch nach Schweiß; ich hab’s aber erst gestern, bei der Ärztin, gemerkt. Peinlich. Sowas passiert mir sonst nie. Ich telefonierte, vorgestern, nochmal mit dem Redakteur, weil ich unter einige Textstellen auch noch Links legen wollte, für die online-Ausgabe, dann ging ich hinaus, um meine Mittagssuppe essen. Zurück fand ich Sabine Grubers „Die Dauer der Liebe“ am Briefkasten vor, einen Roman, den ich ebenfalls für die Junge Welt besprechen möchte und soll, summierte noch die Links, schickte sie an die Redaktion und begann zu lesen.
Von den Links ist nur einer übernommen worden, keine Ahnung, weshalb; ich habe teils pfiffige gelegt, auf die man erst mal kommen muß. Sie werden’s, Freundin, sehen, wenn mein Text in Die Dschungel übernommen worden sein wird, sagen wir: in zweidrei Wochen. Wahrscheinlich werde ich sogar die nun für die Zeitung um knapp die Hälfte gekürzte Langversion nehmen, was dann aber nochmals einer deutlichen Überarbeitung bedarf. Dazwischen wird die Buchmesse liegen, Frankfurt am Main. Wobei mir einfällt, daß ich es ähnlich auch mit der Mallwitz-Kritik eigentlich jetzt sofort tun müßte. Doch diese Zeit ist heute nicht; ich muß dringend den Liederabend, des kommenden Mittwochs, vorbereiten, zu den Liedtexten meine eigenen Gedichte wählen. Und nachher wird mich Cornelia Geißler anrufen, die für ihre BERLINER-ZEITUNGs-Rubrik Bücherfrage der Woche interviewen will. Was selbstverständlich klasse ist. Ich möchte erst mit ihr am Telefon sprechen, danach ihre aus diesem Gespräch kondensierten Fragen schriftlich beantworten. Und mittags/frühnachmittags Telefonat mit John Parr, der den Liederabend organisiert, probt und auch am Klavier sitzen wird. Bis Montag spätestens muß die Programmreihenfolge des Mittwochabends stehen. Vielleicht treffen wir uns, John Parr und ich, morgen noch einmal, oder morgens am Montag; da werd ich dann aufs Rad und zur Deutschen Oper hinüberradeln müssen, auch wollen. Das neue Konzept, nachdem ich meine Übersetzungen verweigern werde — meine Gründe dafür erzähl ich Ihnen später, habe mich sehr geärgert —, liegt blank in meinem Kopf. Es ist auf stille Weise provokant; mal sehn, ob wer es merkt (oder ob ich’s Frau Geißler nachher erzählen werde und sie was machen wird daraus).
Dann ist noch → dafür der Impulsvortrag zu schreiben. Ideen habe ich bereits, aber es fehlt mir noch ein packender Ansatz. „Impuls“vortrag bedeutet eigentlich nichts anderes, als daß er nur fünfzehn statt dreißig oder mehr Minuten beanspruchen darf. Arbeitstechnisch ist das nicht viel, doch heikler, wenn ich das Publikum gleich „hineinziehen“ will.
Und wegen → dieses Buches erhielt ich von VOLLTEXT einen mir nicht nachvollziehbaren Korb, den nunmehr zweiten für einen großen Roman. „Not my cup of tea“, schrieb mir Thomas Keul. Welch eine Begründung! Auf ungehaltne Weise süffisant schrieb ich zurück:
Hat es überhaupt noch Sinn, daß ich Ihnen etwas anbiete? Daß ich literarisch ignoriert werde, damit habe ich längst meinen Frieden gemacht; über die Qualitäten meiner ästhetischen Kompetenz und auch Urteile wird die Nachwelt entscheiden, daran kann ich eh nichts mehr drehen. Ich bin nur zu alt unterdessen, und der Krebs hat mich gelehrt, was tatsächlich wichtig ist und was nicht, um mir einen Korb nach dem anderen auch noch eigentätig ins Haus zu holen.)
Nun wird auch er verstimmt sein. Shit happens, ausgewichen bin ich dem noch nie und habe nicht vor, das im Alter zu ändern. Im Gegenteil, ich will es noch deutlich verschärfen.
Ihr, o Freundin,
ANH
P.S.:
Cardio allerallerbestens. Dieser Tag ist wirklich einmal stimmungsgerettet, nämlich fast gleich schon zu Beginn:
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