Ein sehr ungutes Gefühl. Im Arbeitsjournal des Donnerstags, den 30. November 2023.

[Arbeitswohnung, 11.08 Uhr]
           Immer noch im Bademantel, da bis eben — insgesamt nahezu fünf Tage — an meiner Rezension des übermorgen, zu ihrem hundertsten Geburtstag, in die Kinos kommenden Films „Callas Paris 1958“ gesessen. Da der Artikel morgen in der Jungen Welt erscheint (erscheinen wird), schreibe ich hier noch nichts weitres darüber, lesen Sie’s, Freundin, dort selbst. Doch war ich nahe daran, ihn dieser Zeitung gar nicht mehr zu schicken und auch die längst abgegebene Besprechung von Sabine Grubers „Die Dauer der Liebe“ wieder zurückzuziehen.
Anlaß war, → dort dem TAGESSPIEGEL entnommen — folgender, von Sebastian Leber zitierter Part. Er fuhr mir durch alle Knochen:

 

 

 

 

Getitelt hat die Junge Welt mit GAZA SCHLÄGT ZURÜCK., was schon heftig genug war. Doch die hier eingenommene Position ist insgesamt fast das Gegenteil meiner eigenen — was publizistisch in Ordnung wäre, ließe sich meine dagegenstellen. Ich schreibe aber nicht fürs Politikressort. Obendrein ist es kein Einzelfall. Die Zeitung gibt sich auch putinfreundlich. So schlagen mir immer wieder viele, sehr viele Artikel der Jungen Welt nicht nur schwer auf den Magen (ich will das Zeug am besten gar nicht erst lesen), sondern ich muß mich ernstlich fragen, ob ich ein solches Blatt bedienen überhaupt darf, angesichts eben des Umstands, daß ich lediglich über Kunst schreibe und sehr oft eine, die sich auf unser direktes Heute allenfalls indirekt bezieht. — Anders herum gefragt: Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, einem Blatt, dessen Haltungen ich weitgehend für nicht nur unvertretbar, sondern auch gefährlich halte, als quasi Feigenblatt zu dienen, indem ich das Feuilleton durch Präzision, Bildung und Differenziertheit nobilitiere? Würde ich denn für eine „rechte“ Zeitung schreiben? Ganz sicher nicht, für die konservative Presse allerdings schon (die will mich aber nicht, aus höchst nachvollziehbaren Gründen; die „liberale“ ebenso wenig).
Also habe ich nun in meine Besprechung ein politische Äußerung eingebaut, die an sich mit dem Film nichts zu tun hat und ohnedies für alle Zeiten gilt, nicht nur die heutige Gegenwart. Auf die ich aber eben Bezug nehmen will. Wie ich’s tat, erzähle ich auch nicht, nicht bevor der Artikel veröffentlicht ist, aber es ist die Probe aufs Exempel. Hatte ich Ihnen nicht schon erzählt, welche Bedenken ich schon hatte, als ich für diese Zeitung zu schreiben gebeten worden bin? Folgendes schrieb ich dem Redakteur:

Weil Ihre Zeitung politisch sehr deutlich positioniert ist, scheint mir aber im Vorhinein die Erklärung wichtig zu sein, daß ich ganz sicher kein Marxist bin; als von einerseits Mühsam und Landauer und andererseits Adorno geprägt – insofern auch mit durchaus konservativer Note -, stehe ich jeglicher Autorität-qua-Position widerständig gegenüber und vertrete dies auch öffentlich. Ich finde, Sie sollten das wissen, damit wir uns nicht beiderseits irgendwann unbehaglich fühlen. Andererseits habe ich überhaupt nichts dagegen, für eine Zeitung zu schreiben, in der auch komplett entgegengesetzte Meinungen vertreten sind; im Gegenteil finde ich solch eine Mischung ausgesprochen begrüßenswert – auch und gerade für die Leserinnen und Leser.
Wenn also dies in Ihre Vorstellung einer freien Mitarbeit paßt, bin ich gerne dabei.
Das war am 31. Juli. Die mich fast überraschende Antwort ging eine Woche später ein:
Dass Sie kein Marxist sind, stört mich keineswegs, obwohl ich mich selbst für einen halte, einen recht orthodoxen dazu. Aber als solcher interessieren mich die Widersprüche und ich bin optimistisch, dass wir die unseren produktiv werden machen können. Nichts finde ich langweiliger, als eine Kunst, die nichts will, als in ein Schema zu passen und zu gefallen. Sie werden finden, dass wir sehr unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen Raum geben. Über das Politische müsste man sich verständigen, das macht man vielleicht tatsächlich beizeiten beim Bier.
Damit war für mich erstmal alles klar. Allerdings warf ich auf die Seiten der danach erschienenen Ausgaben nur gelegentlich einen Blick, ärgerte mich meistens, ließ es dann bleiben. Erst Sebastian Lebers Zitat schreckte mich auf — was ich mir selbst zuschreiben muß. Aber meine abgegebenen eigenen Artikel waren jeder unwidersprochen angenommen worden, und die schlimmen Zeitläuft‘ selbst zogen all meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein leises Unbehagen indes blieb subkutan in mir wirksam, grummelnd eher als deutlich, dräuend aber durchaus. Doch nach dem Schock jetzt wurde es Zeit, zumindest mit den Freunden zu sprechen und ihre Einschätzung anzuhören. Ich solle, bevor ich die Mitarbeit schmisse, erst einmal mit meinen zuständigen Redakteuren sprechen. Bitte, bitte nichts übereilen! (Ich neige zu abrupten Entscheiden, auch wenn sie für mich schädlich sind, persönlich schädlich, nicht für meine Haltungen. Sie wissen, ich fasse den Begriff „Korruption“ sehr weit; für mich erfüllt den Sachverhalt bereits, was andere bloß „sich anpassen“ nennten; nicht zuletzt daher rührt mein schwieriger Stand im Betrieb. Es kann mich sogar Freundschaften kosten.)
So gleicht nun der politische Einschub in meiner Callas-Rezension einer Probe aufs Exempel. Läßt die Redaktion ihn stehen, ist zumindest mein Gewissen entlastet; wenn sie ihn streicht, werde ich die Zusammenarbeit beenden — so weh es mir auch täte, nun abermals ein Medium zu verlieren, das mir, neben größerer Wirkung, auch ein wenig Einkünfte bringt. Genau darum darf es aber nicht gehen.
| NACHTRAG, 2. Dezember:
Ist alles → gut ausgegangen.
(Siehe aber auch → da.) I
           Schön hingegen das:

Martin Jankowski hat das Buch nach unserem kurzen → Kommentarwechsel unten in den Briefkasten geworfen. Ich hätte es hingegen schöner gefunden, hätte er geklingelt und wäre auf einen Espresso herauf in die Arbeitswohnung gekommen. Als einen der inhaltlich bedeutsamen Männer des Berliner Literaturbetriebs schätze ich ihn sehr; vor allem seine → „Stadtsprachen“ sind ein ganz ausgezeichnetes Projekt. Statt ihn, immerhin, traf ich später Norbert W. Schlinkert, als ich vom Einkaufen zurückschlenderte, am Ende der Stargarder Straße, Ecke Schönhauser. Noch immer entsetzt, erzählte er sogleich von → diesem Artikel Seidls in der FAZ und schickte mir hernach gleich die von ihm gezogene PDF. Auch für ihn, nebenbei, war es ein heftiges Jahr.

           So, nun eine Stunde schlafen, dann an die Besprechung der beiden, im Konzerthaus Berlin, neuen Mallwitz-Formate. Für Faustkultur. Und abends, zusammen mit Benjamin Stein, in die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz:

Ihr ANH
14.39 Uhr

*******

5 thoughts on “Ein sehr ungutes Gefühl. Im Arbeitsjournal des Donnerstags, den 30. November 2023.

    1. Lieber franzsummer,
      haben Sie Dank für Ihren Tip. Es ist nur so, daß ich prinzipiell keine Texte mehr von mir aus anbiete, sondern wenn ich für ein Medium schreibe – für Verlage gilt es ebenso -, will ich vorher darum gebeten, bzw. beauftragt worden sein. Ich bin zu alt und zu lange im Betrieb, um mir noch Absagen zuzumuten oder auch nur an meinem Stil unabgesprochen herumredigieren zu lassen. Deren, der Absagen, waren’s in meinem Leben genug.
      Ihr ANH

      1. ja danke, war ja nur ein Tip:-) Open Source ist ja keine deutsche Erfindung und auf dem Zeitungsmarkt gibt es wohl unterschiedliche Angebote, wie genau das die Berliner Zeitung handhabt, weiß ich nicht. bei Wikipedia las ich gerade eine Erklärung für die unterschiedlichen Formen des Open Source („OS“ bei dieser Zeitung), für etliche Autoren eher ein Nebenverdienst, man muss natürlich aufpassen, worauf man sich einlässt, wenn man sein Werk ernst nimmt.

  1. Das war ein Online-Artikel nachmittags am 7.10. (nicht in der Druckausgabe der jW), und lesen konnte und kann man „das Zeugs“ hier: https://www.jungewelt.de/artikel/461022.gaza-schlägt-zurück.html

    Das mit der „Noblitierung“, lieber ANH, ist nicht nur etwas *sehr* preziös, sondern vermutlich auch nicht satisfaktionsfähig in der „marxistischen“ jW, die doch nur die Stelle einnimmt, die z. B. die FR in den 80ern innehatte.

    PS: Auf der Suche nach Ihrem Text auf Faustkultur zufällig das hier, als „lakonische Notate“ gekennzeichnete von Eldad Stobekzi gefunden:

    „Als Kind verbrachte ich dort im Sommer einige Wochen. Fati, der Neffe meiner Mutter, kümmerte sich tagsüber um den Kuhstall. Er war stolz auf die modernen Melkmaschinen und „seine“ Kühe. Nachts patrouillierte er am Zaun des Kibbutzes. Fast jede Nacht wurden Terroristen aus dem Gazastreifen erschossen. Das gehörte zur Tagesordnung, und man sprach kaum darüber.“

    https://faustkultur.de/literatur-portraets/aus-deutschland/

    1. Lieber Herr Knelangen,
      den in Rede stehenden Text der Jungen Welt hatte ich (und hab es weiterhin) oben in meinem Beitrag selber verlinkt. Doch dies nur nebenbei. Hingegen Ähnlichkeiten mit der damaligen Frankfurter Rundschau sehr ich nur wenig, also im politischen Teil. Die FR war vor allem, im SPD-Sinn, sozialdemokratisch gesonnen und ergo keineswegs, wie die Junge Welt sich selbst charakterisiert, marxistisch ausgerichtet. Einige Freundinnen und Freunde schrieben für die FR, die sich deutlich als Gegenstimme zur – im politischen Teil, nicht im Feuilleton – CDU-nahen FAZ verstand und so auch wahrgenommen wurde. (Ganz CDU war freilich damals „Die Welt“; unterdessen haben sich diese Zuordnungen ziemlich verschoben, vor allem in den Merkeljahren.)

      Welche Artikel für Faustkultur haben Sie gesucht? Den über Joana Mallwitzens neue Formate schreibe ich gerade erst; der Callas-Artikel hat sehr viel mehr Zeit gebraucht, als ich eigentlich geplant hatte. Deshalb.

      Ihr ANH

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .