125 Jahre Deutsche Grammophon. Joana Mallwitz dirigiert das Festkonzert des Konzerthausorchesters im Konzerthaus Berlin — gestern nämlich, am Abend des 6. Dezembers 2023.

          Eigentlich habe ich über dieses Konzert nicht gesondert schreiben, sondern dies in einen, für Faustkultur, ausführlichen Artikel über → Mallwitzens neue Formate, aber auch ihre Übernahme des von André Heller 2020 an der Lindenoper inszenierten Rosenkavaliers am 19. Dezember integrieren wollen — doch dann ward es das schönste, das ich in diesem Jahr erleben durfte. Ich schließ Currentzis darin ein. Da juckt es einfach zu sehr in den Fingern. Wobei ich auf Mallwitz hier im besonderen noch nicht eingehen will, nicht s c h o n noch einmal. Wie fasziniert ich von ihr bin, ist → dort offenbar derart deutlich geworden, daß mir der Redakteur von Faust leis ermahnend schrieb: „Mach mal! (Schaffst Du’s ohne Überhöhung?)“[1]Meine Antwort war, ich schreib mal resolut: „Is‘ keine, sondern allenfalls – Begeisterung. Fachlichen Einwänden gegenüber bin ich ganz offen; Distanzierungen qua Profession halte … Continue reading Tatsächlich hat sie sich ein wenig relativiert, doch das gehört in den Faust-Artikel, zumal ich mir unsicher bin, ob es, sagen wir, gerecht ist und ich mich vielleicht irre. Hier jedenfalls gehört diese leise Skepsis nicht hin, insofern sie wohl mehr mit dem „klassischen“ Musikbetrieb als tatsächlich ihr, dieser Frau selber, zu tun hat. Der Mallwitz‘ Dirigat war nicht nur makellos, sondern sprühend. Selbst in Beethovens Tripelkonzert, eigentlich eine — abgesehen vom Largo und sein Attacca ins Rondo —  Zirkusnummer, brachte sie musikalischen und eben nicht circensischen Witz; zweidreimal habe ich tatsächlich auflachen müssen. Vor allem aber ist dieses Konzert dramaturgisch mehr als nur überzeugend gewesen.

Zwar ist es naheliegend, für den Anfang eines Festkonzertes auch eine festliche Musik zu wählen, Brahms schrieb seine „Akademische Festouvertüre“ aber zur Verleihung, an ihn selbst, einer Ehrendoktorwürde und tat dies mit hoher Ironie, ja Selbstspott, indem er Studentenlieder ineinander kontrapunktierte. Wenn sich die Deutsche Grammophon nun selbst die Ehren läßt erstatten, fehlen da einfach die Humpen auf dem Stammtisch; im als Bewirtungsraum genutzten Beethovensaal standen vor dem Konzert fast durchweg in feinstgezwirntem Schwarz des Unternehmens Quasihipster und -innen herum, Be-, sagen wir, -„soldung“ ab sechs Mille aufwärts. Das ist dann s c h o n eine deftige Milieuverschiebung. Aber selbst das — geschenkt. Und ich hätte mir im Programm auch ein Stückerl Moderne gewünscht, meinethalben Berio (etwa seine Sinfonia, die hätte keiner und keines Ohren verletzt[2]Überdies wurde sie ebenfalls zu einem 125. Geburtstag geschrieben, der New Yorker Philhamoniker nämlich. Für das versammelte Publikum indes war es perfekt. Und wartete mit einer, für mich, kompletten Überraschung auf. Sie trägt den Namen → André Schuen. Merken Sie ihn sich! Nicht nur die Schönheit seiner baritonen Intonation, die Klarheit seiner Sprache (komplette Textverständlichkeit — bei Orchesterbegleitung fast immer heikel), wie lyrisch ergreifend er Höhen nimmt und, wenn er will, sogar „schmettern“ kann wie Hampson, vor allem aber die Glaubwürdigkeit der psychologischen Durchdringung — es weiß hier wirklich wer, was tiefer Liebeskummer ist —, ließen Gustav Mahlers frühe „Lieder eines fahrenden Gesellen“ zum Ereignis werden, dem ersten dieses Abends. Mallwitz und ihr Konzerthausorchester, dessen Klang hier genauso intensiv wurde, horchten jede Phrasierung aus, und jede Schattierung ward Abgrund, um in der ergebenen Ferne des Schlusses im Glück einer unendlich jugendlichen Resignation auszuströmen. Es geschieht nicht mehr oft, daß mir beim Hören die Tränen kommen.

Auf der Straße steht ein Lindenbaum,
Da hab‘ ich zum ersten Mal im Schlaf geruht!
Unter dem Lindenbaum, der hat
Seine Blüten über mich geschneit,
Da wusst‘ ich nicht, wie das Leben tut,
War alles, alles wieder gut!
Alles! Alles, Lieb und Leid
Und Welt und Traum!

Doch schon im zweiten Lied, „Nun fängt auch m e i n Glück wohl an?“, habe ich leis geweint. So daß an Schuens Interpretation für mich alleine Roland Hermanns mit der, unter Wyn Morris, Symphonica of London[3]Von ihm, Morris, und der Mäzenin Isabella Wallich Anfang der Siebziger gegründet. aus dem Jahr 1974 heranreicht, ähnlich wie Oliver Widmers „Winterreise“ aus den, ich glaube, Achtzigern an Fischer-Dieskaus Interpretationen aus etwa derselben Zeit, in der dieser aber schon zu alt war, um noch glaubhaft einen unglücklich verliebten Handwerksgesellen zu geben.

           Was beim vierundzwanzigjährigen Mahler so unglücksglücklich-süß resignierte, hob schließlich das letzte Stück dieses denkwürdigen Abends, die „Chorfantasie“, in einen — auferstiegen aus c-moll! — Triumph, den nur ein Trotz erreicht, der aus der Lebensliebe flammt — eines reifen, schon vielfach gebeutelten Mannes nämlich, Beethovens von  1807/08, da war er achtunddreißig:

Fried und Freude gleiten freundlich
wie der Wellen Wechselspiel;
was sich drängte rauh und feindlich,
ordnet sich zu Hochgefühl.

Wenn der Töne Zauber walten
und des Wortes Weihe spricht,
muss sich Herrliches gestalten,
Nacht und Stürme werden Licht

Die Raffinesse dieser „Fantasie für Klavier, Chor und Orchester op. 80“ ist allein schon wegen der Mischung verschiedener Genres schwindelerregend (Klavieretüde mit -konzert, final indes Kantate), doch Bruce Lius virtuos und dennoch meditativ perlender Klavierklang, die Phantastik seiner mitunter synkopiert wirkenden Gestaltung der Soloparts und die schließliche Leidenschaft des RIAS Kammerchors, der direkt nach dem Mahler — nämlich in „Meeresstille und Glückliche Fahrt“, deren Schluß leider unfreiwillig komisch ist — atemnehmend gezeigt hatte, was es bedeutet, mystisch zu singen, brachte das zweite Ereignis des Abends und seinen jubelnden Abschluß. Und abermals wurde mir klar, daß die nicht nur von meiner Mutter oft so genannte „Kleine Neunte“ in Wahrheit die größere ist; Schillers odig-moralische Hausbäckigkeit ist ihr noch völlig fremd. Ach, hätte uns doch Beethovens tatsächliche Neunte den Kitsch des letzten Satzes erspart[4]Mit dem Miguel Ríos 1974 einen Welthit des, bezeichnenderweise, Schlagers plazierte.!

           Als insgesamt quasi Programm-Crescendo war die Chorfantasie fürwahr grandios; hier ist im Vorfeld wirklich einmal dem Anlaß gemäß gedacht worden. Die Deutsche Grammophon hat allen Grund, ihre Entscheidung nicht nur bestätigt zu finden, das Jubiläum ans Konzerthaus gegeben zu haben, sondern konnte den Erfolg genießen wie wir a l l e, die dabeiwarn, es taten. Zudem hat sie die — momentan noch zumindest Berliner — Zeitzeichen erkannt. Denn eigentlich … nun jà, schauen wir uns an, wofür das Unternehmen steht … — eigentlich hätte erwartet werden können, nein müssen, daß dieses Fest an die Berliner Philharmoniker geht.
Ach, tatsächlich?
Gewiß, Kiril Petrenko ist ein makelloser Dirigent, doch s t r a h l t er? umgibt ihn zumindest die Aura Claudio Abbados oder zeigt er das enorm politische Engagement des ebenso dirigentisch hochklassigen Simon Rattles, um von den experimentellen wie hinreißenden Aufführungen wie etwa seiner und Peter Sellars„Matthäus-Passion“ besser ganz zu schweigen? Wer außer der Mallwitz hat hier in Berlin derzeit eine solche Magie? Und — ich bin mir bewußt, daß der folgende Satz sexistisch wirkt; doch gemeint ist er rein pragmatisch: Die Mallwitz ist schön, körperlich schön. Das spielt im Marketing eine riesige Rolle — was sie durchaus weiß und mitinszeniert. Nur, das gehört schon in den anderen Text, den für Faustkultur, in dem ich, da halt mal bisserl skeptisch, auch hierauf eingehen will. Doch hierzustadt steht eben sie geradezu allein für eine moderne Aufführungshaltung und einen so zugeneigten Umgang mit Orchestermusikerinnen und -musikern, wie ich es, ja, abermals er, von Currentzis kenne, bei allerdings zugleich Ergebenheit in die Partituren, indessen dieser, um meinen dreiundzwanzigjährigen Sohn anläßlich der → Aufführung von Tschaikowskis Fünfter zu zitieren, ihm den Eindruck mache, „am liebsten hätt er das Stück selber geschrieben und dirigiert es also so“. (Das findet er übrigens ganz legitim, und ich pflichte ihm bei; auch dazu andernorts mehr).

          Aber weiter wirkt, „marktstrategisch“ betrachtet, nicht nur der, nun jà, „Austragungsort“ dieses Jubiläumsfestes, sein Colosseo sozusagen, als konkurrente Kampfansage; Mallwitz hat mit der Deutschen Grammophon einen → Exklusivvertrag  abgeschlossen, so daß nunmehr auch das Konzerthausorchester in die noble Riege der von dem wirklich schon legendären Unternehmen vertretenen Großensembles hinaufgeadelt worden ist. Noch heißt das freilich nicht, es sei den Philharmonikern bereits ebenbürtig, da fehlt dann doch noch einiges. Aber weshalb soll Mallwitz nicht schaffen, was Daniel Barenboim mit seiner Staatskapelle gelungen, jedenfalls beinahe, ist? zumal diese nun ausgerechnet Thielemann als Chefdirigenten bekommt, der grandios ist, gewiß, doch nur im Rahmen des „deutschen Fachs“ (Beethoven, Bruckner und Wagner), und, anders als die frische, hochsportlich-elegante Mallwitz, zum „Weihefestspiel“ neigt[5]Typischerweise kündigt die Pressestelle des Musikfestes Berlin ihn folgendermaßen an: Die Wiener Fassung von Bruckners 1. Symphonie und die 1. Symphonie „Frühlingssymphonie“ von Robert … Continue reading . Solche Ären sind vorüber, Polyhymnia sei Dank. Sie klingen nur noch aus. Und Petrenko, bei aller Achtung, die ich vor ihm habe, fehlt sie halt, die Aura. Gleichzeitig zudem fordert die Deutsche Grammophon die bislang konkurrenzlos gute → DCH, also die digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker, mit dem neuen „Streaming Service“ STAGE+ entschieden heraus und behält auch so den Anschluß an die Gegenwart. Eine große Rolle spielt es da nicht mehr, daß die Raumakustik der Berliner Philharmonie (und Scharouns zeitgemäßere Architektur) der des Konzerthauses bei weitem überlegen ist; in der Streamingtechnologie geht es allein um die Aufnahmetechnik und danach um Übertragungsqualität.

           Wie nun auch immer und auch ohne die Deutsche Grammophon: Daß Joana Mallwitz ein Star bereits s e i, schrieb ich → in der Jungen Welt schon, und daß nun auch ihr Konzerthausorchester eines werden müsse. Seit dem Mahler gestern abend ist es dazu klar auf dem Weg. Und ich, ich habe den Eindruck, noch einmal den Beginn einer Ära zu erleben, so, wie, als ich nach Berlin kam, Daniel Barenboims an der Lindenoper und davor, als ich noch recht jung war, Michael Gielens mit dem Opern- und Museumsorchester in Frankfurt am Main; Gary Bertiny bekam es dort leider nicht mehr hin. Und nun ist es die — einer Frau. Und ihres, wofür ich wirklich bange, Orchesters.

 

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References

References
1 Meine Antwort war, ich schreib mal resolut: „Is‘ keine, sondern allenfalls – Begeisterung. Fachlichen Einwänden gegenüber bin ich ganz offen; Distanzierungen qua Profession halte ich dagegen für – eitel, also für Selbstüberhöhung. Dann doch lieber den „Gegenstand“ überhöhen, also – die Kunst.“
2 Überdies wurde sie ebenfalls zu einem 125. Geburtstag geschrieben, der New Yorker Philhamoniker nämlich
3 Von ihm, Morris, und der Mäzenin Isabella Wallich Anfang der Siebziger gegründet.
4 Mit dem Miguel Ríos 1974 einen Welthit des, bezeichnenderweise, Schlagers plazierte.
5 Typischerweise kündigt die Pressestelle des Musikfestes Berlin ihn folgendermaßen an: Die Wiener Fassung von Bruckners 1. Symphonie und die 1. Symphonie „Frühlingssymphonie“ von Robert Schumann zelebrieren die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann in ihrem Konzert am 15. September. | Hervorhebung von mir, ANH

2 thoughts on “125 Jahre Deutsche Grammophon. Joana Mallwitz dirigiert das Festkonzert des Konzerthausorchesters im Konzerthaus Berlin — gestern nämlich, am Abend des 6. Dezembers 2023.

  1. Von der Mallwitz bin ich (noch) nicht überzeugt, habe sie allerdings bisher nicht live gesehen: in der Aufnahme fand ich die Symphonie classique sehr, wie soll ich sagen, „stiff“, und mit, halten zu Gnaden und sehr unter uns, „Stock im Allerwertesten und Metronom vor der Stirn“. Aber wie gesagt, alles nur beim Betrachten musikalischer Konserven…

    1. Auflachend: „Stiff“ lassen sich ihre Dirigate ganz gewiß nicht nennen; die Frau tanzt geradezu vor dem Orchester — und wie sie immer wieder l a c h t. Neinnein, Ihr Eindruck rührt alleine vom, Sie schrieben’s so ja selbst, „Betrachten“.

      Doch etwas ist mir tatsächlich aufgefallen. Höre ich meine Mitschnitte an, klingen sie gegenüber dem, was ich live gehört hatte, seltsam verblaßt, sowohl in der Dynamik wie den Klangfarben; sogar das oft treibende Tempo scheint sich zu dehnen. – Ich habe noch keine Ahnung, woran es liegt, aber während der Aufführungen waltet etwas, das ich nicht umhin kann, einen Zauber zu nennen; wäre er nicht so zärtlich, müßte ich ihn einen gewaltigen nennen. Er wirkt im Saal auch bei geschlossenen Augen (ich schließe meine dort oft, um nicht die visuellen Eindrücke die akustischen verdrängen zu lassen).
      Jedenfalls gibt es hier ein Geheimnis, das möglicherweise nicht nur eines des Dirigates, sondern insgesamt dieser Frau ist.

      Bei Currentzis, auf den ich in diesem Zusammenhang immer wieder komme, ist es, wie Sie wissen, anders. Seine Einspielungen auf akustische Medien klingen fast n o c h exzentrischer als die Konzerte live, was sich wahrscheinlich in seiner prinzipiellen Radikalität gründet, darin, quasi s t e t s die Extreme zu suchen – und außerdem wohl, weil er auch nachher, wenn wir → Hannah Schmidt glauben können, gern noch Hand anlegt.

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