[Bild Putten mit Lyra (Laeishalle) ©: → Ajepbah / Wikimedia Commons]
In das Zentrum eines Festivals Miniaturen zu stellen, ist mehr als nur Programm. Es ist programmatische Metaphysik. Denn das Kleinste trennt vom Allen, vom All, oft kaum eine hauchdünne Wand. So erzählt Jorge Luis Borges von einem „regenbogenfarbenen Kreis von fast unerträglicher Leuchtkraft (…) und schwindelerregender Fülle“, dem Aleph. Er erblickte den kleinen Kreis im Keller eines Hauses von Buenos Aires an der Wand. Und schaute, wie wenn man die Stille in Nonos „Diotima-Fragmenten“ hört. Das All im Aleph bedeutet eine vollkommene Gleichzeitigkeit; dabei ist der Kreis selber nicht größer als irgend eines seiner Teile. Als wären sie transfinite Zahlen, überlagern die Wellen einander im Ohr. Der unendlich geschichtete Klang ist das weiße Licht der Summe aller Farben. Zwar kann eine Miniatur auch bloßer Ulk sein, dennoch vermittelt sie Betrachtern eine Sicherheit, die Übersicht zu haben. Man steht ja davor und merkt nicht, selbst eines seiner Teile und selbst nur eine der Zahlen zu sein. Viele Comics gehören hierher, musikalisch HK Gruber und die Ministücke Gerhard Rühms. Selbst der provokanteste Aphorismus gibt, wie Lego-Welten in Spielzeugländern, Überschaubarkeit vor. Daß Aphorismen normativ sind, verstärkt das. Doch täuscht das wie das Spaßige selbst; keiner wußte darüber Bescheid wie Borges. Auch in den Miniaturen der „grünverschlossenen botschaft“ Hans Carl Artmanns wittert das durch: „Ein puma sitzt in einem traumbaum und sieht dich an… Wird er springen – wird er bleiben? Das zu überlegen, hast du fünfundsiebzig herzschläge zeit.“ Überhaupt neigen die Wiener dazu, mit Miniaturen böse zu scherzen.
Das Größte, Fließende, Unendliche wird dem Knappen seltsam ähnlich, fast identisch. Der Gedanke findet sich schon in der Herkunft des Begriffs: „Miniatur“ meinte einmal eine kleine, „mit Zinnoberrot gemalte“ Nachahmung in den Anfangslettern der alten Handschriften und der frühen Buchdruckerkunst: Fantasiebildchen in Initialen. Die Miniatur-an-sich bleibt aber das Wort und ist bildlos. Wir sagen „Licht“, und es wird. Zu denken an des Maimonides Blatt, auf das sich Walter Benjamin bezieht: es enthält alle andern Blätter in sich. Es ist selber der Kosmos. יהוה (JHWH) und لله (Allah): In Gottes Name liest sich die Welt. Trotz des Verbotes hat er immer wieder Bilder entworfen – Geschichten, die erzählte Bilder sind: solche möglicher neuer Welten oder von Momenten unserer eigenen, diesseitigen Welt, aber von einer Expressivität, daß man meint, ein Alles-zugleich zu vernehmen: „Ich fühlte unendliche Verehrung, unendliches Bedauern“ (Borges).
Freilich, die Zeit ist vorüber, in der das Fragment, vermittelt wohl über Kafka, am metaphysischen Anspruch von Kunst noch festhielt. Das war nach den Zusammenbrüchen erst des katholischen Mittelalters, dann des humanistischen Weltbilds nur durch noch Ausschweigen möglich, die in den beiden Weltkriegen und der deutschen Barbarei kulminierten. Allerdings hatte die Kunst schon vor dem Ersten Weltkrieg die Katastrophe gewittert. Dada lehnte sich auf und verlor. Wer sich ein bleibendes Haus baut. Tabula rasa. Vorbei mit dem Heilswort vom Heil. Zwar, der Schlager trug es weiter, beerbt durch den Pop. Aber Kunst mochte diesen Weg nicht mehr gehen oder doch nur, wo einer religiös geblieben war: etwa in Messiaen.
Aber schon Nietzsche, der den brutalen bürgerlichen Macht- und Kriegswillen sah und ihn schließlich affirmierte, hat den Schein der Abschließbarkeit, des Vollkommenen und Harmonischen zerrissen, indem er die Phänomenologien gesellschaftlich-repräsentativer Systeme vermittels lose aneinandergereihter Miniaturen des Denkens konterkarierte, die Aphorismen ja sind. Man kann sie auch Melodien nennen. Daher seine Neigung zu Bizet und Abkehr vom wagnerschen Komponieren in „ewigen Melodien“ ausgedehnter Akkorde; er wollte tanzen, nicht dienen und beten. Musikgeschichtlich entspricht dem eine Abkehr von den aufgeblähten Orchesterapparaturen des späten 19. Jahrhunderts, über die nach Wagner und schließlich Mahlers Achter kaum hinauszugehen war, und eine Hinwendung zur kleinen Form wie zur ins Durchsichtige ausgedünnten Instrumentation. Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ steht da am Übergang. Ursula Krechel spricht, für die Dichtung, von „überflüssigem Erzählspeck“, auf den es zu verzichten gelte. Daß kein unnötig Fleisch mehr sei, ist die Gegenauffassung zum auf Gott gebauten Prunkbarock, ist Wiederbesinnung, Gegen-Gegenreformation. Auch dafür steht die Miniatur. Sie zielt erneut auf „Eigentliches“, Wesenhaftes, ab. Vergeistigung. Johannes Brahms gab vor, Musik am liebsten zu hören, indem er bloß die Partitur lese. „Alles ist eitel“: jeder wirklich erklingende Ton ist zuviel. So wurde besonders die musikalische Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Exegese, ja Geheimlehre fast wie die Auslegungsdisziplinen der großen Religionen.
Negation und Negativität der neuen Moderne. Dahinter stand eine ästhetisch anorektische Idee von der Reinheit. „Kritischere und daher wahrere Musik wurde nie geschrieben“, notierte Heinz-Klaus Metzger zu Weberns Bagatellen op.9. κρινειν bedeutet „scheiden“, „unterscheiden“, und bedeutet „trennen“; da ist es zum sezierten Verstummen nicht mehr weit. Man nehme das „wahrer“ einmal hin: so wird „Kritik“ zur notwendigen Bedingung von Erkenntnis. Das entsprach der politischen, der allerbittersten Erfahrung. Doch zerschnitt die musikalische Ideologie der Entsagung das ohnedies nur schmale Band zwischen Hochkunst und Volk. Für eine lange Zeit traf man in Konzerten Neuer Musik nur auf Eingeweihte. Deren Zahl war gering. Ernst Bloch hat früh gewarnt und immer ein „wahres“ Moment des Kitsches dagegengehalten, den erst die Postmoderne als positives Wahres in die Kunst zurückgab. Bis dahin blieb das Utopische aus in der Kunst, es ließ sich nur negativ gestalten: als Fragment und/oder Aussparung. Adorno formulierte das allen voran; indes die realmarxistische, staatsdogmatische Linke es einfach damit weitertrieb, und trieb in neue Katastrophen. Ein Wahres, Schönes, Gutes voll des metaphysischen Pomps war dem „Arbeiter“ heilsgeschichtlich aufgestülpt. Dafür schliff der kapitalistische Westen, nämlich im „Song“, kleinteilig den Kitsch zu gängigen Warenmodulen. Der Song ist nicht Lied, es ist wichtig, das zu vermerken.
Nun ist das Lied auch nicht Miniatur, aber steht auf ihrer Seite. Darauf besann sich die „kritische“ Kunstmusik erst wieder spät, und auf Eichendorf und den romantischen Aufbruch, etwa bei Aribert Reimann, Günter Bialas. Anders als das Aleph, das universal und in dieser Universalität kalt ist, ist das Lied von menschlicher Wärme: es löst die festen Ränder des Alephs auf. Man kann hinaustreten, atmen und wieder jubeln. Aber, vor allem, auch trauern. Und meditierend schauen, hören. Es ist nicht mehr die irrsinnige Gravitationskraft schwarzer Löcher, deren eines das Aleph ja i s t, was die Kunstbewegung hält und festhält und die Bewegung letztlich einfriert. Lieder sind auch zu klein für Ideologie. Vielmehr sind sie noch in ihren sakralen Formen weltlich, man kann sagen: sie streifen das Wort a b, das Wortjoch durch den Vatergott. Sie nehmen das Einzelne in den Blick und geben ihm Raum. In der Dichtung gibt die Musik diesem lyrischen Ich etwas Sinfonisches bei, ein Wir, das da herausströmt und selbst die abstraktesten Formen des Gedichts unterläuft, und die subjektivsten. Wir blicken zwar in das Aleph hinein, durch ein Lied aber aus ihm heraus. Das meint G e s a n g. Immer den ersten: wie als wir begannen, die Lider zu heben:
… und morgens, wenn überm Hafen
das Schreien einer Möve liegt
aus dem sich die Sonne heraufbiegt
die wir verschlafen
(früh, Exzellenz, ging die Fähre
noch ohne uns ab
und schwamm schon ums Kap
ins Ungefähre
der Herkunft der Arten,
die warten),
dann
Ihrer Musiken Fließen,
uns das Erwachen wieder zu schließen,
in beide erwachenden Augen getan.
Scelsi-Variationen, XIX
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ANH, Berlin
März 2009
[Geschrieben für das Programmbuch des Hamburger Musikfestivals → Ostertöne, 2009,
das seit 2012 leider nicht mehr stattfindet.
Siehe auch → dort.]
Quellen/Zitate:
Jorge Luis Borges, „Das Aleph“ in: Erzählungen 2, München 1981; Hans Carl Artmann, „75“ in: grünverschlossene botschaft, Salzburg 1967; Heinz-Klaus Metzger, Text zur LP-Einspielung der Bagatellen Anton Weberns, Deutsche Grammophon o.J.; Alban Nikolai Herbst, „Scelsi-Variationen“ in: Der Engel Ordnungen, Frankfurt am Main 2008.