(…) je rêve d’un peuple doux et cruel, d’un
peuple chat amoureux de ses griffes et tou-
jours prêt à faire chavirer ses yeux et ses
scrupules, je rêve d’un peuple changeant
comme la moire et toujours talonné par l’amour —[1]ich träume von einem sanften, grausamen Volk, von einem Katzenvolk, das in seine Krallen verliebt und stets bereit ist, vor Wollust zu vergehen und seine Skrupel zum Teufel zu jagen, ich träume von … Continue reading
Aragon, Le Paysan de Paris (1926/1953)
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Lieber … ,
Kurzrezensionen sind nicht „mein … ‚Ding‘, na jà …“ – eigentlich aus prinzipiellen Gründen. Man kann nicht argumentieren, es läuft auf Daumen rauf/Daumen runter raus, und ist wer ambivalent, kann er es eh, oder sie es, gleich lassen. Kurz: für mich ist das eine der Pop-Unkultur erwachsene Suggestivform, die, wenn man „lobt“, immerhin nicht schaden kann, tadelt man aber, ist es abgrundtief mies (weil ja die Behauptung reicht, nicht begründet werden muß, bzw. sogar nicht kann). Ich stehe hier mal wieder mit dem Zeit“geist“ auf Kriegsfuß – ähnlich, wie ich ja sozusagen Sinfoniker bin (außer in der Lyrik, die für mich dem Kunstlied entspricht) und mich bei kurzen Stücken, etwa im Jazz, schnell langweile – eben w e i l sie mir zu kurz sind … – mit Godard gesprochen: „Wir fahren ins Loch. Sie hören schon auf, bevor sie eigentlich begonnen haben.“[2]Aus der Erinnerung zitiert. Nur, an was?An → „Prenom Carmen“? Oder war’s in einem Interview? Ich weiß es leider nicht mehr. (Auch Kurzfilme sehe ich mir prinzipiell nicht an, schon nur anderthalb Stunden unterfordern mich. Wenn etwas über zwei Stunden geht – oder doch wenigstens a n die zwei Stunden -, ist mein Interesse wach.)
Also entweder ich schreibe was „Richtiges“ oder nichts. Im letztren Fall wäre es allerdings klasse, wenn Ihr redaktionsseitig wenigstens einen Hinweis brächtet.
Bei Faust sehe ich eine Rezension problematisch, leider – insofern Röhnert eben auch Autor der edition Faust ist, zwar nicht mit diesem neuen Buch, aber verstärkend kommt hinzu, daß „Wildnisarbeit“ bei Arco erschienen ist, wo ich selbst publiziere; dazu dann noch, daß Röhnert die Triestbriefe für die WELT besprochen hat. Das ist alles irgendwie Sumpf oder wirkt doch so. Also wird es wahrscheinlich darauf hinauslaufen, daß ich meine Rezension allein für Die Dschungel schreiben werde.
Dein Alban
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Es ist in der Tat ein Problem, auch, weil ich nicht damit gerechnet habe, wie sehr mich → Röhnerts neues Buch erst fesseln, dann begeistern und obendrein frappieren würde. Weil ich nämlich gar nicht wußte (wohl, weil ich es „einfach“ nicht sah), wie viele Ansätze des nicht nur zur Zeit, sondern bereits seit Jahren derart im Geist schwingenden „Nature Writing“s bei mir selbst zu finden sind — nein, nicht bei mir, doch in meinen Büchern, sei es zum einen in „Eine sizilische Reise“, sei es vor allem aber in „Thetis“; nach Röhnerts Argumentation gehören nämlich auch Stadtbrachen mitten hinein, so daß quasi das gesamte Vorspiel dieses ersten Andersweltromans als Nature Writing betrachtet werden kann: Jede Pfütze Ozean.[3]Der Gehsteig als Urland schaft mit Tausenden Schatten Ebenen Flußtälern. Haie und Unterseeboote kreuzen darin. Jede Pfütze Ozean. Wind und Kälte und Hitze haben Furchen ins Pflaster gewetzt, … Continue reading Ich selbst, wie geschrieben, tat es nie, einfach weil ich den Naturbegriff – dessen, was Natur sei – nicht weit genug dehnte. Obwohl doch bei meiner Betrachtung von Natur Louis Aragons „Le Paysan de Paris“ der Taufpate war,
worin sich im Schaufenster, einem gleichsam Weihwasserbecken der Passage de l’Opéra, Spazierstöcke wie Seegras hin- und herbewegten [4]Toute la mer dans le passage de l’Opéra. Les cannes se balançaient doutement comme des varechs.
Erstausgabe, S. 30. Innerstädtische Brachen bildeten, so heißt es bei Röhnert,
etwas, das man (…) auch als ökologische Heterotopie begreifen könnte. Wortgeschichtlich geht die Brache auf die aufgebrochene Ackerfurche zurück, das nach der Ernte im Spätsommer leere, unbestellte Feld: ein Boden, auf dem sich das Neue, noch nicht Festgestellte, Künftiges, momentan noch so unbekannt wie unbenannt, aufgehen und keimen kann.
S. 38
Ich will aber nicht hier schon zitieren, nicht m e h r zitieren als dieses eine, um mir nicht den Furor aus meiner Rezension zu nehmen. Die braucht ja den Brennstoff. Lieber komme ich noch einmal auf Louis Aragon zurück:
Dort, wo die Lebenden der zweideutigsten Tätigkeit nachgehen, spiegeln sich ihre geheimsten Beweggründe manchmal im Unbelebten: So sind unsere Innenstädte von verkannten Sphingen[5]Aus „Sphinxen“ von mir korrigiert, ANH. bevölkert, die den träumenden Passanten nicht anhalten, wenn er sich ihnen in grüblerischer Zerstreutheit zuwendet, und die ihm auch keine todbringenden Fragen stellen. Aber wenn er sie erraten kann, dieser Weise, dann möge er sie seinerseits befragen, es sind immer noch seine eigenen Abgründe, die er dank dieser gesichtslosen Ungeheuer von neuem ausloten wird. Das moderne Licht des Ungewöhnlichen, das wird ihn von jetzt an nicht mehr loslassen.
Dieses Licht durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man in Paris häufig in der Nähe der großen Boulevards findet und die man irritierenderweise Passagen nennt[6]Dtsch. von Lydia Babilas. Im französischen Original: Là où se poursuit l’activité la plus équivoque des vivants, l’inanimé prend parfois un reflet de leurs plus secrets mobiles: nos … Continue reading
oder eben — Brachen:
Stets hört Buenos Aires irgendwo auf, stets fängt es seltsam wieder an; weite Trichter und Ebenen, macchiabewachsen oder voll ausgestreutem Nichts und bedenkenlos abgeladenem Schutt, sind zwischen die Stadtbezirke genäht wie brüchige fladenbreite Fontanellen.
Zwischen dem Monte Pellegrino und dem Parque del Retiro breitet sich ein etwa zwölf Quadratkilometer umfassendes schreckliches Gelände aus. Man nennt es Sarajewo. Der wüstenartig heiße Wind, der bisweilen in die angrenzenden Wohngebiete einfällt, trägt oft Mikrobenstaub mit sich. Morgens liegt er dann, eine hauchdünne gelbe, doch sehr dichte und wie nasse Schicht, auf den Karosserien. Er dringt in alle Fensterfugen. Klimaanlagen wälzen ihn um. Wer etwas davon eingeatmet hat, kann süchtig werden. Manche machen sich nachts dann auf. Jedes Jahr kommen in dem von Höhlen und Fallgruben und Labyrinthen aus Fahrzeugwracks durchspickten Gebiet durchschnittlich zweiundzwanzig Menschen um. Jedenfalls bleiben sie verschollen. Wenn sich Suchtrupps hineinbegeben, verschwinden auch die. Deshalb hat man um das Gelände einen drei Meter hohen Zaun aus Natodraht gezogen, an dem Grenzschutzsoldaten patrouillieren. Es heißt zudem, das Areal sei von Kannibalen bewohnt, die nächtlich Blutorgien feierten. Aber dafür gibt es keinen Beweis. Nur daß man bisweilen, steht man zwischen zwei und drei Uhr in der Frühe an der Nachtbushaltestelle Potsdamer Platz und blickt auf den sich unabsehbar dehnenden Stacheldrahtzaun hinüber, aus ferner Tiefe ein
heulendes Singen und Bongotrommeln, aber auch Technopop vernehmen kann.
Thetis.Anderswelt, Vorspiel
Jan Röhnert
Wildnisarbeit
Schreiben, Tun und Natufre Writing
Arco Verlag, Wien & Wuppertal
160 S., broschiert, 18€
ISBN-10 : 3965870769
ISBN-13 : 978-3965870765
→ Bestellen
Ihr, liebste Freundin,
[Arbeitswohnung, 10.29 Uhr]
ANH,
der gestern nacht die großartige Nachricht las, daß Daniela Seel → der Kleistpreis 2025 zugesprochen wurde. Anstelle einer Gratulation verlinkt Die Dschungel hier noch einmal auf meine Rezension ihres letzten Gedichtbandes, → dort bei Faustkultur. (Ich werde den Text aber heute vormittag noch, sowie dieser Beitrag hier eingestellt ist, in Die Dschungel übernehmen.)
References
↑1 | ich träume von einem sanften, grausamen Volk, von einem Katzenvolk, das in seine Krallen verliebt und stets bereit ist, vor Wollust zu vergehen und seine Skrupel zum Teufel zu jagen, ich träume von einem Volk, das wie Moiré changiert und dem stets die Liebe auf den Versen ist. Dtsch. von Lydia Babilas |
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↑2 | Aus der Erinnerung zitiert. Nur, an was?An → „Prenom Carmen“? Oder war’s in einem Interview? Ich weiß es leider nicht mehr. |
↑3 | Der Gehsteig als Urland schaft mit Tausenden Schatten Ebenen Flußtälern. Haie und Unterseeboote kreuzen darin. Jede Pfütze Ozean. Wind und Kälte und Hitze haben Furchen ins Pflaster gewetzt, durch die ich in meinen Hörselberg steige. Dann wandr’ ich durch Schächte einer höllischen Lust … Thetis.Anderswelt, Vorspiel S. 25 |
↑4 | Toute la mer dans le passage de l’Opéra. Les cannes se balançaient doutement comme des varechs. Erstausgabe, S. 30 |
↑5 | Aus „Sphinxen“ von mir korrigiert, ANH. |
↑6 | Dtsch. von Lydia Babilas. Im französischen Original:
Là où se poursuit l’activité la plus équivoque des vivants, l’inanimé prend parfois un reflet de leurs plus secrets mobiles: nos cités sont ainsi peuplées de sphinx méconnus qui n’arrêtent pas le passant rêveur, s’il ne tourne vers eux sa distraction méditative, qui ne lui posent pas de questions mortelles. Mais s’il sait les deviner, ce sage, alors, que lui les interroge, ce sont encore ses propres abîmes que grâce à ces monstres sans figure il va de nouveau sonder. La lumière moderne de l’insolite, voilà désormais ce qui va le retenir. Elle règne bizarrement dans ces sortes de galeries Elle règne bizarrement dans ces sortes de galeries si couvertes qui sont nombreuses à Paris aux alentours des grands boulevards et que l’on nomme d’une façon troublante des passages (…) |