Vor den geweihten Licht- & Rau(c)hnächten. Das KeinArbeits-, sondern Vorfestjournal des Donnerstags, dem 24. Dezember 2015. Wiewohl die Wintersonnenwende bereits zwei Tage zurück.



Zur Zeit der Einführung des Julianischen Kalenders
lagen die Wntersonnenwenden auf dem 25. Dezember.



[Arbeitswohnung, 8.45 Uhr
Jarrett, Creation)


In Erwartung der Lichter,
in Erwartung des Schmucks,
in Erwartung der Märchen


Fast wär sie mir zu dunkel geworden; zwar stand ich rechtzeitig auf, um den Backofen vorzuheizen, zwar stand ich abermals rechtzeitig auf, um die im Guglhupf gebackene Pannetone einzuschießen, nicht rechtzeitig aber mehr, um auf 180 Grad hinunterzuregeln, sondern überhörte den Wecker oder vergaß überhaupt, ihn noch einmal zu stellen: Ein gewaltiger Duft, der nun in der Arbeitswohnung steht, ließ mich plötzlich auffahren, und fast wäre es zu spät geworden. Doch das war es nicht:


In Erwartung der Puderzucker-
schütten süßen Schnees


Der spezielle Duft rührt von der Verwendung, statt industrieller Hefe, meines selbstgezogenen Lievito madre, der unterdessen schon lange Wohnstatt in meinem Kühlschrank und sich mit den Monaten auf jetzt bereits drei Gefäße vermehrt hat. Ich könnte von ihm abgeben und würde es, fragte man mich. Seine Triebkraft ist enorm geworden.
Mit meiner Kunst wolle er sich nicht beschäftigen, sagte jemand neulich, was ich gestern erfuhr und was mich da ziemlich runterzog; das sei ja alles Science fiction und verkopft. Ob er denn etwas von mir kenne? Nein, das müsse er auch nicht; man könne das ja überall lesen.
„Also laß es sein.“
Ich hatte eine Idee gehabt, aus der etwas Großes geworden wäre. Ich bin mir sicher. Hatte dann drei schwere Stunden.
„Freude, schöner Götterfunke“ spielt Jarrett in sieben/acht Takten an und verläßt bescheiden Beethovens Thema wieder. Man muß lauschen, konzentriert, damit es nicht untergeht, hören können.
So verschlief ich, verschlief mich weg: sich wegverschlafen.
Aber das Lichtfest. Dschungelleser:innen wissen, wie nah es mir ist: das Hoffnungsfest schlechthin, ob nun christlich, ob heidnisch. Für mich heidnisch: Erde, Erde, Erde:: Sonne.
Aber selbstverständlich ist jede Rede von der globalen Erwärmung eine Erfindung von Panikmachern und linken Ideologen. Wir müssen in diesem Dezember ja nur vor die Tür treten, um die Wahrheit zu erfahren: 15 Grad Celsius am Mittag, ich trage schon keine Mäntel mehr, dicker Pullover und Wolljackett reichen. Vielleicht noch einen Schal. Die Aussichten für Januar und Februar sehen, las ich, nicht anders aus. „Die Tierwelt Afrikas trieb mit dem Klimawechsel nach Norden. Tief in den Alpen lebten schon Lö­wen. Zurück kam die Zeit zum Säbelzahntiger“: >>>> Thetis.Anderswelt, 1998. Wer mag und ein Gespür hat, kann den Säbelzahntiger metaphorisch nehmen.
Lichtfest. लक्ष्मी habe, sagte sie gestern, überlegt, ob einen Waffenschein zu machen: Sarah Connor.
Auch soviel zur Science Fiction. Der Satz taugt für ein Gedicht.
Leben. Wir müßten bereit sein, erwiderte ich, jede müsse es und jeder, Schuld auf sich zu nehmen, weil es Situationen gebe, in denen Gründe keine Rolle mehr spielten. Ich habe darüber in den letzten zwei Monaten viel geschrieben, auch Ihnen. Es könne nicht angehen, sagte wiederum die Löwin, daß jeder, der wegen der Ströme Fliehender Bedenken lautwerden lasse, sofort als Faschist beschimpft werde, zumindest in die rechte Ecke geschoben. So etwas führe zu Verhärtungen und schließlich tatsächlich zu einem Rechtsruck. Ich dachte sofort daran, wie mit Hans Jürgen Syberberg umgegangen worden ist, dem übrigens Lutz Hagestedt >>>> eine kluge und einfühlsame Hommage geschrieben hat. Danke dafür, Herr Hagestedt.
Vielleicht denken einige ja d o c h um.
Ein guter Tag, dies zu schreiben, ein guter vor den geweihten Nächten. Das Gefühl von Heiligkeit, die Ställe und Scheuern wurden mit Weihrauch luftgesalbt. Die Lichter kamen in den Baum, um schon das Licht vorwegzugeben, aber die Lichter – und sei dies auch nur eine Wähnung, nur eine rituale Idee. Realitätskraft der Fiktionen. Pluralität, das viele Viele – eben k e i n Monotheismus. K e i n Einziger, nicht nur e i n Einziges, Letztes und Letzter. Sondern Götter, nicht Gott.
Alles verkopft.
Amerikanische Ureinwohner ehrten das Tier, das sie erjagten. In unseren Gegenden wurde der Baum geehrt, den man fällte. Die Dinge waren noch nicht Ware.
Ein wenig davon ist im täglichen Brotdank der Christen zurückgeblieben und noch heute darin.
An wen wir das Tischgebet richten, spielt es eine Rolle? Nicht wir haben zuhanden.
15 Grad Celsius, und die Haie sterben aus.
Der Säbelzahntiger wiedererstand als der Mensch.
Ich denke an die fernöstliche Vorstellung des harmonischen Weltalls: Harmonie nicht als sentimentale Wohlbefindlichkeit, sondern als Ausgleich der Kräfte. Jarrett spielt fast nur noch in sich, kaum noch, daß er tastenvirtuos die Finger voltigiern läßt. Virtuosität spielt keine Rolle mehr, nur noch Innigkeit. Auf >>>> dieser CD gibt es keine instrumentale Zirkusakrobatik, alles ist bei sich:



Ich möchte sie jeder und jedem schenken, die und den ich liebe.

Einen großen Blutfleck fand ich, als ich aufgestanden, in meinem Bett: Ich bin ein Dichter. So würde es mich zum Neuen Jahr >>>> nach Enna treiben, auf Ceres‘ Felsen. Weiter dann an die fonte di >>>> Ciane, und abermals weiter zur Mandelbaumblüte bei Girgenti, im Süden das weite afrikanische Meer:

/ – – / – – / und verzehrt sich völlig in Zähren,
Und in die rinnende Flut, darinnen sie eben als Gottheit
Waltete, wird sie verdünnt. Man sah, wie der Leib sich erweichte,
Biegsam ward das Gebein, und die Nägel die Härte verloren;
Und von der ganzen Gestalt wird flüssig zuerst, was am dünnsten,
Erst ihr bläuliches Haar, dann Finger und Schenkel und Füße –
Gliedern von schmächtiger Art ist ja leicht, in kaltes Gewässer
Uberzugehn. Die Schultern darauf und Rücken und Seite
Schwinden hinweg und die Brust zu rieselnden Bächen geschmolzen.
Endlich ersetzt das lebendige Blut im versehrten Geäder
Wasser, und übrig ist nichts, was wäre mit Händen zu greifen.
(Ovidius)
Ob es für Dichter:inn:en heute noch erstrebsam sei, ein schönes Gedicht zu schreiben, wurde >>>> vorgestern abend gefragt. Und die Diskutanten wichen aus.

Daß wir ausweichen, ist unser Verhängnis.
Daß wir uns nicht begeistern, sondern pragmatisch klügeln.

Das Laken aus dem Fenster hängen, um das Nichtpragmatische zu ehren, indem wir ihm opfern. Oder ihr: Wer weiß? Denn Elfen gehören in den Baum, Zwerge, Schattenalben, Tiere. Und die Früchte, die uns nähren, das Gebäck. Es gab gestern bei Roßmann nur noch fünfzehn Päckchen Weihnachtsbaumkerzen; die kleinen bunt überzogenen Lebkuchen, die ich immer zum Schmücken verwandte, sind schon seit Oktober weg. Momentan werden die ersten Osterhasen produziert, damit sie Mitte Januar in den Geschäften stehen können. Diesmal gibt die Witterung ihr recht, der Konsum-Industrie. Zyniker könnten kindermagisch denken: Der Konsum hat bewirkt, daß im Hinterhof einer Freundin bereits jetzt manche Bäume Blütenknospen treiben. Und erst jetzt hören wir manche Vogelscharen die große Jahresreise antreten und sehen sie sich sammeln dafür.

Als flöhen sie das rückkehrende Licht, das sie aber suchen.

Das nächste Jahr wird ein Gedichtjahr werden.
Ehre den Frauen.
Ihres aller

Unhold

P.S.: Ich stelle Ihnen hier>>>>unter die „Andere Weihnachtsgeschichte“ ein, die sich als Erstes Blumenstück im >>>> Wolpertinger findet.

2 thoughts on “Vor den geweihten Licht- & Rau(c)hnächten. Das KeinArbeits-, sondern Vorfestjournal des Donnerstags, dem 24. Dezember 2015. Wiewohl die Wintersonnenwende bereits zwei Tage zurück.

  1. Eine andere Weihnachtsgeschichte

    Immer war Bruno Pomposiewitz ein humorvoller Mensch gewesen, voll einer seltenen und gleichsam kraftvollen Güte, sei es nun, diese Verfassung habe sich ihm vererbt, sei’s, er habe sie sich erst mit den Jahren ausgebildet. Nur zu gern umgab er sich mit Freunden, Ke­gelbrü­dern und Kollegen und war sogar seinen Nachbarn beliebt. Sein Charakter hatte le­diglich ei­nen einzigen, aber doch grundlegenden Makel, der alljährlich aus der gewisser­maßen Kanali­sation seines Wohlmuts, die stetes Lachen verstöpselte, heraufgeklettert kam. Es ließe sich behaupten, die grundsätzliche Freundlichkeit, die ihn mit Welt und Leuten verband, bündle und fokussiere sich darin. Wenn aber das Weihnachtsfest nahte, drehte sich das um und um. Was ihn so sehr verstimmte, daß er unerträglich wurde. Erst am Heili­gen Abend fand er jeweils in seinen Humorismus zurück, einen reichlich despotischen al­lerdings. Bis dahin blieb er Adventslast. Für das Fest traf sämtliche Vorbereitungen er, kümmerte sich um Einkäufe, den Hausputz, das Backwerk. Er war es, der die Speisefolge und Sitzordnung bestimmte, der seinen Gästen vorschrieb, ob und welches Lied gesungen werde, der festlegte, wann Bescherung sei, – und keiner durfte ungefragt den Christbaum auch nur ansehen; es wäre Bruno Pomposiewitz wie eine Lästerung erschienen und hatte bereits einige Male Un­gehorsamen den Wohnungsverweis eingetragen.
    Da er nämlich ehe- und kinderlos geblieben war, hatten es sich früher, soweit auch sie ehelos waren, die Freunde zu einer Pflicht gemacht, ihn an jedem 24. Dezember zu besu­chen, um ihn, den sonst ihnen so freundlichen Menschen, nicht, wenn es auf ihre Freund­lichkeit an­kam, vereinsamen zu lassen, und humanistisch wurde in den grünen Apfel gebis­sen, der ei­nem, wie man sehr genau wußte, den schönen Abend ziemlich versauern würde. Was Weih­nachten sei, so schien Bruno Pomposiewitz zu bedeuten, wisse niemand andres als er, und wer in die Beglückung des Erlösungsrauschs geraten wolle, habe sich ganz un­bedingt seiner Führung anzuvertrauen. Als der alte Mann über die Weihnächte immer grantiger geworden war, fielen die Rücksichtnahmen wie Tannennadeln nach Neujahr ab, und eine graue, unan­sehnlich-karitative Pflicht schimmerte in den Augen der Freunde durch. Die erste, die eine Ausflucht suchte und fand, war Pomposiewitzens Schwester Lenore, deren schwere Opera­tion sie außerstande setze, allweihnachtlich den weiten Weg von Kassel nach Bremen zu un­ternehmen; als nächster sagte Christoph Sämann ab, der alte Kriegs- und Sportclubskamerad und einstiger Kollege: Es gehe ihm der Tod Corinnas ge­rade an Weihnachten so nah, und Bruno möge einsehen, daß ihm der illuminierte Baum ja doch nur Tränen treibe.

    Als ihnen das Fest diesmal entgegenrückte, fühlte Bruno Pomposiewitz sich von den Freun­den gemieden. Im Verein machten sie einen Bogen um ihn oder schauten zu Boden, kam er heran. Er war zu stolz, um Worte darüber zu verlieren. Sollten die Leute doch se­hen, wie ih­nen das Fest unter den Jahren zerging, sollten sie seinetwegen der Profanierung dieser herr­lichsten aller Feiern zur Hand sein, – er, Bruno Pomposiewitz, werde sie zu grandioser Lichtwerdung auftreiben. Dazu nämlich sei er, der Elektroarbeiter Bruno Pom­posiewitz, auserkoren.
    Er mied den Verein und sogar seinen schrulligen Kameraden Branske, und weil ihn die Ge­sichter der Kollegen bedrückten, blieb er, ohne Nachricht zu geben, auch dem Arbeitsplatz fern. Man rief ein paar Mal an bei ihm, fragte besorgt nach seinem Befinden. Da er aber oh­nedies kurz vor seiner Pensionierung stand und allgemein seine Weihnachtsirrnis sprich­wörtlich war, nahmen selbst die Arbeitgeber es leicht. Man wußte, daß er im Neuen Jahr mit altem Eifer arbeiten werde.
    Nachdenklich hockte der alte Mensch im Sessel seiner Wohnung, schaltete kaum einmal das Radio an, ging nur hinaus, um die nötigen Besorgungen zu tätigen und ergab sich einer all­gemeinen und speziellen Melancholie. Er stellte sogar die Türschelle ab, indem er ein Stück­chen Toilettenpapier zwischen Klingglocke und Klöppel steckte, legte den Hörer ne­ben das Telefon, wählte eine Drei und hatte fortan Ruhe genug, sich darüber Gedanken zu machen, wo er diesmal den Baum aufstellen und was er dazu fortrücken, vielleicht gar aus der Woh­nung werfen werde. Und je mehr er sich einsenkte in seine Vision, desto ruhiger wurde er und gewisser, es dieses Mal zu schaffen. Ja, zu schaffen, dachte er, hätte aber kaum sagen können, eigentlich was. Es kreiste eine Vorstellung in ihm von eher sprachlo­ser Deutlichkeit. Man müsse, dachte Pomposiewitz, sich vom Ungefähren führen lassen, ganz sanft, sich er­geben und tun, was von alleine geschehe. Gegen eine derartige Überwäl­tigung kam ihm alles übrige sehr wertlos vor. Werde sein Werk ihm gelungen sein, erhalte die Welt schon Kennt­nis davon.

    Als er am 23. Dezember morgens erwachte, fühlte er sich wider Gewohnheit und Erwar­tung schwer, ja belastet. Eine Entscheidung stand bevor, die er scheute, so sehr er sich ihr entge­gensehnte. Später als gewöhnlich erhob er sich und schlurfte, seine Kräfte zusam­menklau­bend, ins Bad, bekleidete sich wie sich andere betrinken, nahm einen schwarzen Kaffee, und das Nieselwetter draußen war nicht angetan, seine Laune zu heben. Es wollte Weihnachts­stimmung nicht geschehen. Hastig und gänzlich fühllos gingen draußen die Leute ihren Be­sorgungen nach. Die Straßenbahn vor dem fünfstöckigen Wohnpart kreischte erbärmlich in den Geleisen. Vor der Kreuzung staute sich Verkehr. Männer mit hochgeschlagenen Kragen, Frauen, die sich mit Schals vermummten und träge aus den um­schatteten Augen schauten, schleppten sich, trotz des Regens ein wenig weißlichen, schnell verwehten Dampf vor den Mündern, über die Gehsteige und schlängelten durchs Au­towühlen. Das Wetter weichte jede Lichtvision auf, verschluckte sie wie ein erblindeter Spiegel. Pomposiewitz, mit Eigensinn, schaltete die Außenreize von seinen Empfindungen weg, fand in Trotz. Mit boshaften Be­merkungen quälte er die Baumverkäufer, deren kleine Plätzchen er durchstöberte. Die Tan­nen drückten sich, gebunden in weiße Transportnetze, aneinander. Aber nicht ein Baum ge­fiel dem alten Mann. Hier war ein Nadelgehölz ver­krüppelt, dort schief gewachsen, hie zu schmal, dort zu buschig. Der Alte benahm sich, als hätten ihn Händler, die so was zu maulaf­fen wagten, ganz persönlich beleidigen wollen.
    Der Regen strömte in den Mittag wie Zement. Da leuchtete ein Baum durch die Wasserma­s­sen, wie Pomposiewitz ihn schöner noch niemals gesehen hatte. Schon ahnte er den Glanz, in den er ihn hüllen könne, schon atmete er tief den würzigen Geruch, der den Nadelspitzen entströmte, erwärmten sie sich. Der Händler hingegen tat erstaunt. Aber um Gotteswillen, sagte er, das könne der Kunde doch nicht ernst meinen! Er habe seinen Arbeiter gescholten, daß der ein solch ungestaltes Ding überhaupt sich habe aufschwatzen lassen, und nun finde sich sogar ein Käufer.
    Er möge nur sagen, bat Pomposiewitz, was er verlange, er werde es zahlen.
    Aus irgend einem Grund war es jenem darum zu tun, diesen von dem unglücklichen Kauf abzuhalten. Er zog ihn sogar am Mantelärmel fort, wies auf einen und den anderen Baum. „Nun schauen Sie doch einmal, ist der nicht ganz wunderbar gewachsen?“ Aber Pomposie­witz war obstinat. Das ärgerte den Verkäufer. Weil er den senilen Kunden endlich loswer­den wollte, gab er ihm das furchterregende, schwer geschlagene Gewächs um einen weni­ger Spott- als realistischen Preis, doch eben geradezu geschenkt, und Pomposiewitz, durch­aus nicht mehr von kräftiger Statur, ließ sich das halbverdorrte, stämmige Ding auf die Schulter laden und zog ab. Während seines Heimwegs blieben nicht selten Menschen ste­hen und starrten dem besessen schleppenden und vor sich hinfluchenden Mann amüsiert, oft auch nur verwundert nach. Er grölte schließlich, ein Betrunkener offenbar, Weihnachts­lieder.

    In der Wohnung erkannte er, was er da angewuchtet hatte. Als er aus dem Bad kam, wo er sich die Hände gewaschen und das Harz von den Fingern und aus der Handspanne gerieben hatte, erschreckte ihn das Ungetüm endlich, das gegen den Eßschrank lehnte. Jedoch fing er sich nach drei Klaren, saß eine Zeit lang im Sessel. Trotziges Wohlgefallen betrachtete seine Erwerbung. Er werde den Mißgriff zurechtbiegen schon und ins Eigentliche führen! Er kramte Säge, Kneifzange und anderes Werkzeug hervor, Messer, Bänder, brachte den Baumständer an und zurrte den Hoffnungsträger an Heizungsrohren fest. Dann bog und drehte er sie zurecht, die Natur, kürzte die Spitze, kniff unten Gezweig ab, setzte es ge­schickt anderswo an, flocht sogar Ästchen zusammen.
    Der Nachmittag verstrich. Er nahm eine Flasche Kellergeister aus dem Kühlschrank, schenkte sich ein, hätte, da die Dunkelheit so früh und unvermittelt einbrach, Licht anschal­ten müssen, zog es aber vor, Kerzen zu entzünden. Leise vor sich hinsummend, zerkaute er einen Schluck, wieder sitzend, schaute sich wohlgefällig den Fortgang seiner Arbeit an. Tat­sächlich war der Baum bereits nicht wiederzuerkennen, und es schien, als wäre ihm der Christsaft in die Äste gestiegen. Ein grünliches Leuchten umfloß die Tanne. Mit berech­tigter Zuversicht schüttelte Bruno Pomposiewitz den letzten Mißmut aus sich heraus. Was schließlich, am späten Abend bereits, in seinem Wohnzimmer stand, hatte mit dem mittags erworbenen Ungetüm nichts mehr gemein. Als Pomposiewitz dann endlich den Baum­schmuck holte und vor sich auf dem Teppich ausbreitete, sorgsam, Stück für Stück, das je­des er anhauchte, mit dem Ärmel glänzend rieb, war es bereits tiefste Nacht.

    Er schlief fest bis in den späten Morgen hinein, erwachte allerbester Laune, ja schwang sich jugendlich forsch aus dem Bett, warf dem Objekt seiner Neigung ein paar verliebte Blicke zu, erledigte die Morgentoilette und sofort danach seine Einkäufe. Er könne sich, glaubte er, Zeit lassen nun, – mehr noch, sparte die Schmückung wie eine Belohnung auf, bereitete sogar schon die Festspeise zu und stellte sie für den Abend beiseite, deckte den Tisch mit dem fei­nen Porzellan, das ihm einst Lenore geschenkt hatte, dem Tafelsilber, den Kristalleuchtern und -gläsern, je eines für Rosé- und für Weißwein, der Serviette im Reif. Dazu drapierte er Überreste von Tannenzweigchen. Als er es nun gar nicht mehr aushielt und die Spannung so groß war, daß Pomposiewitz fürchten mußte auseinanderzureißen, erst da hockte er sich auf den Teppich und musterte noch einmal seine Preziosen. Sie lenk­ten ihn sogar von den schmerzenden Bandscheiben ab. Wie er dann erste schimmernde Kugeln in die Zweige hakte, um die er Lamettahaare hing, war es ihm, als entäußerten sie sich völlig ihrer Gegenständ­lichkeit. Er sang leise, summte, trank und beglückte sich an vergangenen Augenblicken, und welch ein reicher Mensch, dachte er, sei er gewesen bis­lang!
    Gelegentlich nur, inmitten seines Rausches, kam er zu sich. Dann wandte er sich um, ging, verstummt, zum Fenster und blickte in der vagen Hoffnung hinaus, es komme ihn doch noch jemand besuchen. Aber nicht einmal mehr das sonst so lästige Telefon schellte. Weil ihm dies die Hochstimmung wie eine Gardine wegzuziehen drohte, machte er kehrt, hielt ein Selbstgespräch mit dem Baum. Der saugte das ihm so zugestreckte Leben in die Zweige, die sich erhoben und stolz und rund wie Schneewehen standen. So prächtig nun der Baum sich auswuchs, so kam Bruno Pomposiewitz zu Bewußtsein, wie vergeblich das sei. Denn noch nie hatte er etwas so Lebendiges geschaffen. Aber wozu hatte er das? Ein Gitter fiel zwi­schen ihn und die Tanne, und er, ein fremder Körper, wurde aus dem Zimmer geschoben. Von solchem Unglück verwirrt, zog der alte Mann, nachdem er im Flur Licht gemacht hatte, sich den Mantel über und verließ die Wohnung. Er brauche, wußte er, je­manden, der ihm hinüberhelfen, der diesseits die Hängebrücke verankern könne, deren an­deres Ende er, Bruno Pomposiewitz, in den Zweigen festgebunden hatte, um gleichsam seiner Erlösung entgegen­zuschreiten. Jetzt hing sie nur lose herab. Einst, als noch Freunde bei ihm gewesen waren, hatte er selbst sie, für diese, gehalten. Niemand hatte sein Opfer annehmen wollen.
    Bald war er durchnäßt. Es beruhigte ihn nicht einmal, wie märchenhaft hinter manchen Fen­stern die Kerzenpyramiden brannten. In den Scheiben huschten Schatten von Men­schen. Das schloß ihn aus, als sähe er Theater. Wenn der Heilige Abend ihm bislang stets Beglückung gebracht hatte, so hockte ihm dieses Jahr ein Frosch im Gemüt, den Pompo­siewitz einfach nicht abhusten konnte. So sehr er die Straßenzeilen durchstöberte, sogar unter den Weser­brücken schaute er nach, auf Parkbänken, in Unterführungen, nirgendwo ließ sich ein Un­glücklicher sehen, deren es, wußte er, doch Tausende gab, die immer vorm Bahnhof herum­lungerten sonst, mit ihren leeren Augen und umwickelten Händen. Nur ein Pulk abgearbeite­ter Weihnachtsmänner kam ihm entgegen und ulkte müde mit ihm. Sonst leergefegt alles.

    Gegen acht kehrte er gestoßen und aufgeweicht zurück. Da er beim Weggehen das Licht nicht ausgeschaltet hatte, empfing ihn nicht nur der Baum mit seinem Duft, sondern auch ei­ne Helligkeit rief ihn, die in den Augen wehtat. Schnell schaltete er die Lampen aus und setzte sich nicht völlig ins Dunkel, – nein: Fordernd schimmerte die Tanne, blinkten mit­unter die sich leicht drehenden Preziosen, funkelte es nahe dem Stamm. Blicke legte Bruno Pom­posiewitz in das Fenster. Es regnete immer noch, aber leichter geworden jetzt und dünner, choreografisch sozusagen; die Kegel der Straßenlaternen zauberten silbrige Fäden. Pompo­siewitz war völlig betrunken. Schwer in den Gliedern hob er sich an, nahm die Zündhölzer und brachte Kerze um Kerze zum Leuchten. Die gänzlich jenseitige Herrlich­keit, die wie Wasser an ihn schwappte, gab ihm Recht, als er es trank.

    Den Ermittlungen zufolge hatte das Feuer im niederbrennenden Baum seinen Ursprung. Das Licht hatte die Nadeln umgriffen und war durch die auseinanderplatzenden Zweige und Äste gefahren, hatte sofort auf die Gardine hinübergefaßt, den Teppich angebissen und binnen weniger Sekunden das Zimmer mit roten, heißen Zungen ausgeleckt. Schon stand die Woh­nung in Flammen. Nein, es habe niemand den alten Mann um Hilfe rufen hören. Erst gegen halb neun, sagten die Leite vom Haus gegenüber, habe Pomposiewitz die Lich­ter entzündet und sich danach das Festmahl aufgetischt. „Sie sehen ja, daß man von hier gut rüberschauen kann. Wir haben uns keine Gedanken gemacht.“
    Das Eigenartige war, daß man eigentlich keinen Anlaß finden konnte, der das Feuer und vor allem erklärte, warum Pomposiewitz nicht wenigstens geflüchtet sei. Sämtliche Fenster wa­ren geschlossen, die Hypothese des plötzlichen Luftzugs entfiel. Ebenso hatte sich der Baum eigentlich in genügendem Abstand von den Gardinen befunden. Der verkohlte Leichnam lag dort, wo auch die Tanne gestanden hatte, als wäre, bemerkte ein Feuerweh­rer, der alte Mann hineingeschritten in sie.

    [aus:]
    ANH
    Wolpertinger oder Das Blau

    Roman

    axel dielmann verlag 1993
    dtv 2000


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