Sein Blick fiel auf die Hediger. Leinsam hatte noch nie ein Gefühl für Verhältnismäßigkeiten gehabt und sah deshalb nicht im entferntesten, wie wenig ausgerechnet diese Frau zu ihm paßte. Ihre Kühle lockte ihn, auch daß sie derart hochgewachsen war. Er setzte sich nicht weit von ihr in einen der niedrigen 50er-Jahre-Sesselchen, ließ sich seinen synthetischen Wein kommen und wartete auf die Gelegenheit. Momentan telefonierte die Frau jedoch, jedenfalls versuchte sie es, und zwar vergeblich, wie ihrem pikierten Gesichtsausdruck anzumerken war, mit dem sie plötzlich in das noch aufgeklappte Gerät starrte. Leinsam hatte keine Ahnung, daß Judith Hediger kaum etwas von dem bemerkte, das e r wahrnahm; schließlich gab es für sie weder die Zerstörungen noch Buenos Aires insgesamt. Judith Hediger lebte allein in Berlin. Folgerichtigerweise entging ihr deshalb auch Leinsam – ich meine, er wäre ihr sowieso entgangen, aber aus nicht ontologischen, sondern Gründen des Desinteresses. Leinsams Platz war für sie aber real leer. Daran änderte es auch nichts, daß sich Cordes zu ihr setzte, nachdem er hereingekommen war und zu Leinsams Verärgerung so höflich darum gebeten hatte, daß sie es ihm .gestattete. Immerhin waren rundum wenige Tische unbesetzt. Dessen, fand Hediger, höchst eigenwilliger Einstieg in ein Gespräch ließ Leinsam auch nicht wirklicher werden: „Wissen Sie, ich gehe allezeit mit so etwas wie einem Roman schwanger, in dem auch Sie eine Rolle spielen.“ Ja, Leinsam blieb für die Frau noch dann unsichtbar, als Cordes sie eigens auf ihn aufmerksam zu machen versuchte. „Wenn Sie mir nicht glauben, schauen Sie diesen Mann an! Dort, sehen Sie?“ „Nein. Wo? Welcher Mann?“ „Ich kann Ihnen seine halbe Lebensgeschichte erzählen!“ Frau Hediger lachte auf. Was ein Spinner! Aber dann sagte Cordes: „Falls Sie mir immer noch nicht glauben, dann sollte ich Ihnen vielleicht erklären, weshalb Ihr Freund Herbst eben so abrupt das Telefonat beendet hat.“ Das nun machte sie baff.