Montag, der 26. Juni 2006.

5.08 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung.]
Aufzustehen um 4.30 Uhr ging nicht, wohl aber um 5. Aber die Augen sind dick. Egal, ich setz mich an ARGO. (Ich weiß nicht recht, wie ich es einstweilen mit weiteren Auszügen halten soll: ich überarbeite ja und schreibe nichts neu. Bei bislang 252 ARGO-Einträgen über zweieinhalb Jahre hinweg, hab ich zudem nicht im Kopf, was bereits alles als Entwurf eingestellt wurde, und ich will nicht redundant werden. Na, mal sehen. Vielleicht zitiere ich fragmenthalber, wenn eine Partie oder ein Detail signifikant anders wird, etwa bezüglich >>>> EA Richter, der sich übrigens gemeldet hat und sich offenbar >>>> aus dem Projekt wieder zurückzehen möchte; dazu nachher mehr).
Es handelt sich jetzt übrigens um die erste Überarbeitung der Rohfassung, nämlich am Computerbildschirm; das ergibt die EF (Erste Fassung), die von 1zeilig auf 1 ½ zeilig umformatiert und ausgedruckt wird. In die EF werden die Kommentare der Freunde und, soweit sie hilfreich waren, der Leser Der Dschungel eingearbeitet, danach wird sie auf dem Papier korrigiert und zur ZF (Zweiten Fassung) bearbeitet und ausgedruckt. In diese werden dann die unterdessen 368 Fußnoten sowie die derzeit 411 ARGO-Notate eingebaut. Entweder wird der EA Richter-Strang erst hier hineingefädelt oder aber bereits in der roh-ÜA; wo ich damit beginne, wird jetzt der Lesefluß zeigen. Die ZF wird schließlich ausgedruckt. Dann wird noch einmal lesend korrigiert, umgestellt, auch jetzt erst geschaut, was entbehrlich ist. Das ergibt eine DF (Dritte Fassung), die in aller Regel ein Viertel- bis Halbjahr liegengelassen wird, um mich zu distanzieren. Im ARGO-Fall wird es so sein, daß ich zwischen EF und ZF die Erfindung des Fünften Teils schieben werde.
Dies nur, damit Ihnen ein kleiner Eindruck meines Arbeitsverfahrens n a c h der Grunderfindung, dem eigentlichen Schöpfungsakt (also der Rohfassung, des von Do immer so genannten Rohlings), vermittelt wird.
Guten Morgen, Leser.

8.50 Uhr:
Was mir gerade Gedanken und leichtes Magenkrampfen verursacht: Es geschah eben zum zweiten Mal, daß der Vater eines Schulfreundes meines Jungen auf mich höchst abweisend reagiert, und ich weiß nicht warum. Dabei hatten wir ein schönes, freundschaftliches Verhältnis, bevor ich den Bamberger Aufenthalt antrat. Ich hatte sogar fragen wollen, ob sein Junge nicht mal den meinem für ein Wochenende begleiten möge. Was ist da also passiert? Mir macht das nicht so sehr deshalb ein wenig Sorgen, weil mich das kränkt, sondern weil mein Kind so etwas instinktiv mitbekommt. Jetzt wollte ich deshalb eine fragende SMS schicken, finde aber die Telefonnummer nicht. Ärgerlich.
Zur Arbeitswohnung spaziert danach, um einen Hefter für ARGO IV zu besorgen und sowieso nach dem rechten zu sehen. Und dann sitz ich mal wieder am heimatlichen Schreibtisch und weiß: hier gehörst du hin.
À propos… mein Junge: – Fragt er doch am Frühstückstisch abermals nach Italien. Ich frage ihn, wohin da er denn wolle, und er sagt: „Nach Capri. Ich möchte wieder zur >>>> Sphinx. Und möchte noch einmal die Grotta Azzurra sehen.“ Ich würde gern nach Billigflügen schauen, über Neapel möchte’ ich ja ohnedies ein Hörstück schreiben. Aber bekomme auf meine Terminanfragen bei *** mal wieder keine Antwort. Und ins Blaue hineinbuchen sollt’ ich besser nicht. Na ja.

15.39 Uhr:
[Ligeti, L’escalier du diable für Klavier.]
Ah, gepflegte Füße, ich sag Ihnen! Und dann noch von solchen Händen! Es ist wie ein ganzer Tag Sauna, an dem du, umgeben von schönen flirtenden Frauen, deinem Körper eine Wohltat nach der anderen bereitest, und du hängst da, beide Arme am Beckenrand, mit gesenktem Kopf zum Wasserspiegel, während von über dir kühle Topfen auf deinen Nacken fallen, um den Hals herum auf die Brust laufen, wo sie sich im Haar sammeln, bis sie schwer genug sind, um daraus hinabzuklätscheln.
Ich schritt beschwingt heim und merkte wieder, daß mir Blicke folgten, hier ein Lächeln, da ein schnell zur Seite geworfener Lischlag. Es ist derart gut, in seinem Körper zu sein. Berlin ist wundervoll heute. M e i n e Stadt, gar keine Frage. Jedenfalls in Deutschland.
Nun aber ARGO weiter. Um sechs treff ich Eisenhauer mal wieder. Zum Billard. Danach den Profi. Und zwar, so hoff ich, im >>>> Strandbad Mitte.

Nachtrag:
[Aus dem Notizbuch übertragen.]

Strandbad Mitte
(Auf den Profi wartend.)

Das >>>> Strandbad Mitte hat verloren, abgesehen von der Aussicht aufs unterdessen so bezaubernd zurückhaltend renovierte Bode-Museum (in THETIS hab ich’s zur venezianischen Accademia gemacht), daß das schwerbauchige, oben mit Balustaden geschmückte Gebäude nebst seiner Kuppel ganz luftig wirkt. Wird es dunkel, wirft die Spree spielende Wasserreflexe auf den Sandstein. Außerdem gibt es eine Facettenkugel, die in den Baukran nebenan gehängt ist und, wenn es dunkel wird, tanzende Lichttupfer über das Museum sät. Nur das Strandbad selbst ist nicht mehr so schön wie vor zwei Jahren. Es ist eine offene Wirtschaft, vor der Strandsand bis an die Spreebegrenzung aufgeschüttet wurde, darauf sind Liegestühle verteilt und paar wenige Strandkörbe; ausgeschenkt wird rückseits auf dem langen Tresen eines einfachen, doch geschmückten flachen Barackenbaus. Da steht denn auch der Fernseher, damit wir alle mitbekommen, daß Italien gegen Australien per Elfmeter siegt. Zurückhaltend übrigens geregelt, Berlin lebt durch R a u m, anders als in Bamberg v e r l ä u f t sich hier die Love Parade, die in diesem Monat den Character eines allgemeinen Fußballrausches angenommen hat. Dennoch, als der Pächter vor zwei Jahren noch keinen Pop zuließ und als ein Anarchismus der Sinne herrschte, der das Alte Europa zelebrierte, war das Strandbad Mitte ein Ort, zu dem man pilgern konnte. Jetzt ist es nicht einmal mehr Kult, sondern in gemäßigte Normalität abgesunken. Dieses Gefühl verstärkt die bloß durch einen Röhrichtzaun abgetrennte Baustelle nebenan, die einigen Platz einnimmt von der Tucholskistraße und der neugebauten Brücke bis hier herunter: früher führte ein einfacher Metallsteg hinüber. Das war, mag man sagen, primitiv gewesen sein, jedenfalls provisorisch, auch bröckelnd irgendwie; es gab auf der anderen Straßenseite eine Currywurstbude, wenn man die Treppen zur Tucholski hinanstieg. Das wird nun alles geglättet. Die Stadt soll ‚etwas hermachen’, verliert aber genau dadurch an Schönheit; ich hab den Eindruck, auch die Menschen, die hierherkommen, sind nicht mehr so schön, nicht mehr so, daß man ihnen nachträumen will. Allerdings mag dieses Gefühl an der fehlenden Differenz liegen: die schönsten Modeaufnahmen werden vor verfallenden Gebäuden gemacht und nicht von ungefähr eben in Paris oder Venedig. Schönung verflacht die Schönheit, sie macht sie hübsch, ihre Schärfe geht verloren. So gewinnt Berlin zwar fantastische (phantastische!) Gebäude, wie etwa den neuen Hauptbahnhof (aber selbst den hat das letzten Endes ebenso teure Kleinheitsdenken kupiert, das an dem Großentwurf sparen wollte, wie wenn man das eigentliche Konzept völlig umgesetzt hätte), andererseits verliert die Stadt ihre Wildheit (Schönheit ist i m m e r wild und n i e moderat) und wird glattkapitalistisch auf eine political correctness, der es eigentlich um Bequemlichkeit geht, cleangebeugt – ein Vorgang, der im letzten Jahrzehnt auch in Giulianis New York City, namentlich an Times Square, zu beobachten gewesen ist und sich dort unterdessen vervollkommnet hat. Es ist der Kampf eines zum VIP-Schick aufgedonnerten kleinbürgerlichen Miefs, dem die Musicals entsprechen, gegen die Oper, die sich der Natur und dem Schicksal stellt. Gecleante Städte verkommen zu Straß-Schmuck und tun dann so, als wär der Glasstein Brillant. Das ist >>>> dieser Beobachtung vollkommen analog. (LINK FOLGT).
Doch immerhin, ich sitze in einem Liegestuhl, rauche eine kleine Zigarre und habe die nackten Füße im Sand. Sie sind bereits ganz schwarz vor Schmutz, der Sand ist nicht mehr so sauber, nicht mehr so klar wie in den Vorjahren (sauberer, feiner Strandsand inmitten von Verfall: Differenzen). Aber ich denk mir, so stellt sich die Differenz denn d o c h wieder her, trinke einen Averna (sizilianisch: schwerem, explodierend süßem Öl gleich), schau auf die seltsam runden Bäuche junger Frauen und kritzle meine Notizen. Wunderschön wiederum diese weiblichen Rücken, ein schwarzgerahmtes V aus Haut und Wirbelsäule und vorstehenden Schulterblättern. Aber gleich schon wieder seht man die Männchen dazu und denkt sich: Ach ja, ein Versorger. Dennoch bleiben diese Reptilienrücken unfaßbar, auch wenn ihre Trägrinnen ihn um Nestfang inszenieren… – und plötzlich kommt genau so ein Versorger auf mich zu, ein professioneller Fotograf, merk ich, und will Bilder machen. Da wird das Männchen zum Mann, ich bin ganz erstaunt, lache verlegen, er knipst vierfünf Mal, dann zieht er weiter auf seiner scheinbar unvermittelten Jagd. Nimmt nächstes und wiedernächstes Wild hinter Kimme und Korn des Objektivs und strahlt Kraft aus. Immer habe ich das an Berlin geliebt, daß die Stadt einen so überrascht, und ich liebe sie weiter dafür. Man hat ein Urteil/Vorurteil und wird an der nächsten Ecke eines Anderen belehrt – aber so, daß man auflachen muß.
Wie gut er ist, dieser Abend in Berlin. Und ich schreib vor mich hin an meiner >>>> Soziologie der Geschlechter.