7.07 Uhr:
[Villa Concordia. Khadem-Missagh, Violinballade.]
Guten Morgen, Leser.
Sätze, die mir, bezüglich des Badens in der vor meinem Blick dahinfließenden Regnitz, heute morgen auf angenehme Weise nachgehen. „Selbstverständlich können Sie im Fluß baden, aber ich empfehle Ihnen“, sagte vorgestern abend Bernd Goldmann, Direktor des Künstlerhauses, „tun Sie es etwas weiter flußaufwärts. Wir können weder noch wollen wir es Ihnen verbieten, auch hier hineinzuspringen, aber bedenken Sie die starke Strömung: Das Wehr ist sehr nah, und die Turbinen ziehen. Wenn Sie allerdings glauben, trainiert und kräftig zu sein, dann: bitte sehr.“ Diese Haltung ist mir nah. Menschen müssen über ihre Risiken, auch Lebensrisiken, selbst entscheiden können. Kommen sie, weil sie eines nahmen, dabei um, so ist das in der Ordnung und kein Verlust von Leben, sondern Teil von Leben selbst. Verlust von Leben ist vielmehr, ihnen solche Entscheidungen zu verwehren – die sozialen Gründe sind allesamt Rationalisierungen von Lebensabwehr, also lebensfeindlich. Wer auf den Berg geht, muß es können; kann er’s nicht, sollte er es sein lassen. Läßt er’s aber nicht sein, ist auch das seine Entscheidung. Nur so auch erscheinen Genüsse, nur so erfüllt sich Lust – oder sie wird schmal eingegrenzt fade. Noch Goethe kraxelte im Straßburger Münster herum, ohne Netz. Heute ist dort alles abgesichert, drei- vierfach, überall sind Geländer und gesicherte Treppen eingezogen, damit nur ja auch möglichst viele Touristen hineinkönnen und weitere und weitere, die Coladose in der Hand und auf Popcorn kauend. Hier wirkt Profanierung: das – auch in Kulturgüter sublimierte – Erhabene wird auf den Boden des guten Verdienstes gezerrt.
Bin um halb sieben auf, nachdem ich nachts noch >>>> Blow sah, einen im Nachsinnen heute früh marginalen Film mit einem n i c h t marginalen Johnny Depp, aber n u r dieser Schauspieler reißt es nicht heraus. Franka Potente wirkt furchtbar bieder, Penelope Cruz nur zickig und fast erosfrei, und die Geschichte ist ein einziges Mal wahr: wo der Kokainfürst jemanden erschießen läßt und zu Depp, der Zeuge ist, sagt: „Das war ein tapferer Mann. Er hätte fliehen können. Aber dann wären seine Frau, seine Kinder, seine Verwandten gestorben.“ Mir fällt dazu eine Bemerkung Michaels ein: „Kokain ist eine vergleichsweise harmlose Droge, aber an keiner anderen hängt so viel Blut.“ Doch darüber geht der Film dann nahezu hinweg und bleibt letztlich das flache Portrait eines flachen, sagen wir, Drogenhippies. Ich hab mir die letzten zwanzig Minuten nicht mehr angesehen und keine Lust, das heute nachzuholen. Links neben mir liegt der erste Band der Sämtlichen Werke Jean Pauls, worin ich mich gestern in der Bibliothek kurz festlas, und rechts neben mir Marlon Shy’s schöner Bildband über die Prostituierten von Kamatipura:In jedem Gesicht beschämende Unverfälschtheit, seltsame Anziehungskraft. Ich war hingerissen von der merkwürdigen Sanftheit mancher Augen, war befremdet von der Gleichgültigkeit, war entzückt über Umarmungen als spontaner Ausdruck der Zuneigung, lauschte dem einschmeichelnden Geplapper der samtigen Stimmen in seltsamen Sprachen, deren unbekannte Melodie selbst in aggressivem Geschrei noch lockt. Silhouetten, die aus der Dunkelheit erscheinen, schwach leuchtendes Haar, schimmernde, seidige Haut mit Narben verziert, glitzernder Nasenschmuck, verhaltene Farben, Patchouli-Duft, feine Gesten und grobe Scherze. Schnitzereien in Rinde und Haut sind sie, die Gesichter.
Wie das Antlitz Gottes.Ich werd mal gucken, ob ich heute an ARGO komme. Ein bißchen nur, denn mit dem Jungen ist das Teleskop aufzubauen, das ihm gestern Alexandra geschenkt hat. Jetzt aber schreibe ich erst einmal den >>>> Nachtrag.
>21.56 Uhr:
[Mozert, Requiem (ed. Beyer).]
Der Junge schläft. Wir haben Emil und die Detektive ausgelesen, er ist ganz vernarrt in Kästner; morgen werd ich gleich versuchen, das zweite Emil-Buch zu bekommen. Im Dom sind wir gewesen, ich hab dem Jungen Fresken gezeigt und erklärt, was sie sind; wieder hat er eine Kerze angezündet. Gearbeitet hab ich kaum, aber ein Projekt ging mir im Kopf herum, das ich >>>> eben skizziert habe. Leukert vom hr war ja bereits interessiert, ich interessierte nun gerne noch Zenke (DLF) dafür und werde das kleine Exposé, das ich eben getippt habe, nachher noch per Email hinausschicken. Bei dieser Produktion würde ich auf den Ansatz von Arbeiten zurückgreifen, an denen ich vor bald dreißig Jahren saß: literarische Texte über Musiken rezitieren und die Formen miteinander sprechen lassen. Damals entstand meine Interpretation von Kafkas Kübelreiter, die ich über den Purgatorio-Satz aus Mahlers Fragment gebliebener Zehnter las. Meine seinerzeitige – erste feste – Partnerin, die klassische Gitarristin Regine Hoch, nach 1980 Hoch-Shekov, und ich hatten noch einige andere Stücke erarbeitet, etwa eigens von mir verfaßte Texte zu Frank Martins Quatre pièces breves oder auf Henzes Tento; das war noch in meiner Bremer Zeit (was aus Regine wohl geworden ist?). Interessant, ja demütig stimmend, wie tief bereits so frühe Entwürfe sich eingraben und dann nach Jahrzehnten wieder hervorkommen und ihre Vollendung fordern. Manchmal denke ich, nicht nur die eigentlichen Inhalte, sondern auch die Formen sind immer schon d a – ganz wie Liebe immer nur auf den ersten Blick da ist: man sieht und weiß. Es ist eine Form des /?p=11277“ target=“_blank““>>>>> Verhängnisses, welches als solches nicht notwendigerweise etwas Schlimmes sein muß, denn es kann auch jahre- vielleicht sogar lebenslang e r f ü l l e n. So auch mit den Formen: vielleicht s c h e i n t es nur so zu sein, als veränderten sie sich; tatsächlich durchlaufen sie Wandlungen, sagen wir: Aspekte – und wenn sie zuweilen auch ganz fremd aussehen, so sind es schließlich doch immer dieselben. Und irgendwann kommt der Moment, da nehmen sie die Maske herunter und lächeln einen an: Du hast es damals schon gewußt, aber, Dichter, was kann ich dafür, daß du mich noch nicht beherrschtest? noch nicht s o zu gestalten wußtest, wie es mir zusteht? So war meine Verstellung nötig. Denn ich wollte dich in die Lage versetzen, mir, wie Benjamin sagt, den Namen zu geben, den ich h a b e. Der meiner, n u r meiner, ist.
(Der Junge verschoß im kleinen Pak vorm Schloß beim Fußballspielen den kleinen Ball, – schoß ihn über die Mauer, auf deren Sims er einmal geradezu leichtfüßig prallte, in die Regnitz. Die Strömung n a h m ihn sofort, zog ihn mit sich zum Wehr. Da hat mein Kind ganz furchtbar geweint. Morgen früh wird er vom Sohn und dem Mann der hiesigen CoDirektorin zum Spielen abgeholt; ich werde die Zeit nutzen und einen neuen Ball besorgen.)
Bin komischer Stimmung, Leser. Bin in einer Stimmung, die mir ganz alt vorkommt. Was mit meinen Lebensjahren gar nichts zu tun hat. Ich fühle zur Zeit überhaupt keinen Druck, auch nicht, wie sonst, Arbeitsdruck. Sondern habe das Gefühl, es sei alles recht und es gebe keinen Grund zu eilen. Als wäre ich angekommen, ohne es eigentlich gemerkt zu haben. Das meint auch ARGO. Ich s t e h ja schon vor der Europäischen Mauer, ich s t e h ja schon vor dem Schiff. Und muß nun nur noch hinein. Mehr ist es nicht: Handwerk, nix sonst.