Zweiter Brief an die Leserin. Argo. Anderswelt. (200).

Wegen ARGO haben Sie mein Verständnis; ich selber kenne es von manchen Büchern sehr sehr gut, daß sie, als ich mit ihnen erstmals begann, aber auch überhaupt nichts mit ihnen anfangen konnte; und die von Ihnen erzählten zehn Jahre später ist das eine und andere plötzlich zu d e m Buch geworden. Da ich obendrein ausgesprochen ambitioniert modern in den Formen bin, zugleich aber höchst traditionell im Umgang mit ihnen (ich schrieb Ihnen schon von meinem eklatanten Konservatismus), wird hier ein Widerspruch deutlich, der eigentlich – trete ich mal von meinen Innensichten zurück – zu Unverständnis führen m u ß. Ich werde nie eine Diskussion mit Genazino vergessen, in der er mir vorwarf, ich brächte Sachen zusammen, die zusammen nicht gehören: sein Beispiel war damals – es ging um das seinerzeit noch unveröffentlichte THETIS -, daß ein Polizeichef in einer durch und durch modernisierten Welt seinen „Waffensack“ packe. Ich hatte und habe genau das aber intendiert: immer auch das sehr Alte im Neuen zu zeigen. Genazino war bis zum Schluß nicht zu überzeugen. Das wunderte mich nicht, so ist auch seine von mir geschätzte, aber eben nicht bewunderte Prosa; was sie an Genauigkeiten auch immer transportiert oder hochpoetisch herzustellen weiß, weiß sie doch nicht, Widersprüche zu transzendieren. Ich gehe da genau anders vor; auch die von mir betriebene Verquickung elaborierter, fast spezialisierter Literaturformen mit einem persönlichen Vitalismus und, ich möchte mal sagen, einem Rausch an der unmittelbaren Welt: Vulkane besteigen, auch wenn sie ausbrechen; in die Dschungel hineingehen, meist alleine; und die vorgeblichen “Fickgeschichten”, die in Wirklichkeit so eklatant wenig mit Fickgeschichten zu tun haben, sondern meistens Leidenschaften sind, jedenfalls waren, in denen sich einer wirklich v e r l i e r t, gehört in diese Art der Weltwahrnehmung. (…) Ich w e i ß, was ich mit ARGO unternehme, das i s t so neu gar nicht, weil es ziemlich strikt einer poetologischen Linie folgt, die 1983 mit DIE VERWIRRUNG DES GEMÜTS begann, sich 1993 im WOLPERTINGER geradezu schon erfüllte, aber das war v o r meinem ständigen Umgang mit dem Computer, jedenfalls einem, der mehr ist als nur ein Schreibinstrument… dabei dachte ich in diesem Buch den Computer schon theoretisch v o r, sogar in einer noch heute nicht realisierten Form der Möglichkeiten-Logik, also war es ein Bio-Computer – und es war so nur eine F o l g e, daß ich ganz unabhängig vom Mainstream auf den Cyberpunk verfiel, ohne ihn aber damals gelesen zu haben. Das macht verständlich, weshalb die Konstellation meiner Figuren einerseits zwar über den BLADE RUNNER geprägt ist, andererseits aber von vor allem Thomas Mann und der, sagen wir mal grob, deutschsprachigen romantischen bis spätromantischen Literatur. Die Musik tut da ein weiteres. Also ich nehme das keinem Leser übel, der sagt, er könne damit nichts anfangen. Es tut manchmal weh, vor allem, wenn kein Verlag die Vision begreift und tragen will; aber ich habe dennoch Verständnis. Weiß allerdings, wie Gustav Mahler mal ausrief: Meine Zeit wird kommen. Ob ich dann noch leben werde, weiß ich n i c h t; für die Arbeit selbst ist das schnuppe.
Mich ärgert allerdings eines: Wenn mir “schlechtes Schreiben” vorgeworfen wird, als wäre ich ein bastelnder Dilettant. Man muß nur ein bißchen in Den Dschungeln lesen, ein bißchen sich in die Hörstücke vertiefen, um geradezu schlagend zu merken: das k a n n es nicht sein. Ich will einfach nicht permanent als eine “leere Stelle in des Wortes eigentlicher Bedeutung” (Mosebach) bezeichnet werden, sondern zumindest da die Anerkennung erfahren, wo sie für jeden, michbezüglich, schlagend ist: im Handwerk. Schon die theoretischen Arbeiten beweisen nicht nur einen Anspruch, sondern auch Können. Über alles andere – auch, ob ich einen “Fehlweg” gehe – möge die Zeit richten. Auch ich, ja, kann mich irren. Ein ganzes Leben kann sich irren. Das ist so. Und wir, die wir schreiben, n e h m e n dieses Risiko, ganz bewußt, inkauf.

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