III, 360 – … und immer noch keine Musik, aber das wird sich gleich ändern

Hat der Tabaccaio jetzt etwa einen Lehrling? Er selbst telefonierte, am Lottospieltresen stehend, hinterm Haupttresen stand aber ein junger Mann, sichtlich darum bemüht, Ordnung zu bringen in sein Hinterm-Tresen-Sein. Nie zuvor gesehen. Ob er neu sei, fragte ich, was er bejahte. Auf dem Heimweg fiel mir ein, daß die Frage eigentlich ziemlich zweideutig war, denn sie lautete ja “sei nuovo?”, die aber auch so verstanden werden konnte: “sei ‘n’ovo?” Was nichts anderes bedeutet als: “Bist du ein Ei?”

Denn er war ziemlich kahl geschoren. Ich habe seit Tagen Ähnliches vor, wahrscheinlich deshalb mein nach Innen gerichtetes Kalauern. Immerhin ist der Weihnachtsmannbart ab. Mehr zu sagen, traut sich mein Anstand nicht.

Es sei denn, er hat vor, seinen Laden zu übergeben. Denn in den letzten Jahren fiel einiges fort von seinen Tätigkeiten. Man konnte noch seine Strom-, Gas-, Telefonrechnungen dort bezahlen. Überm Haupttresen hingen massenweise Rubbellose. Jetzt nichts mehr. Außer den Zigaretten und Zigarren usw. bleibt noch das Lotto, drei Slotmachines und Kleinkram wie etwa Glühbirnen, Knabberkram und Coca, Fanta, Bierdosen.

Merkwürdig ist, daß nicht wie sonst am Ende der Woche die Wochendverderber mit Arbeiten sich meldeten mit Deadline “Anfang der Woche”. Auch, daß eine Agentur mir an Sylvester einen Betrag überwies (jedenfalls kam die Gutschrift am 2. Januar), der sich aus der letzten Rechnung von 2016 und der letzten von 2017 summierte. Dazwischen liegen immer noch über zehntausend Euronen. Vielleicht höre ich ja deshalb an den letzten Abenden verdächtig oft die ‘Police’.

Kraus selbst hat keine Schuld daran. Auch wenn er heute von der neuen Strafprocessordnung sprach, die in Oesterreich 1899 in kraft trat und den Advocatengaunern ein Dorn im Auge gewesen. Er ist so pillchenweise eine hübsche Lektüre. So langsam lernt man ihn kennen, seinen Stil, der immer höflich ist, immer wohlinformiert, aber niemals hofiert. Was ihn echauffiert, läßt ihn ein eiskaltes Resümee darüber schreiben. Wilhelm Liebknecht über die Dreyfus-Affaire: Analyse pur.

Einen Tag später. Schon wieder derselbe “Lehrling” beim Tabaccaio, aber abermals in seiner Gegenwart. Ich nutzte die Regenpause, wie auch gestern schon. Zumal gestern regnete, hagelte und donnerte es. Wasser mußte aufgewischt werden unter einem der Fenster, die nach Westen gehen. Überwand mich, mußte mich überwinden, die gestern gekaufte Gasflasche in den Hof zu schleppen. Damit sie griffbereit ist.

Nach wie vor troglodytenhaftes Beimirsein. Da nur eine Arbeit zu tun ist, die nicht allzulang ist und erst für den achten fertig sein muß, treib’ ich das am Vormittag neben der Lektüre voran, am Nachmittag kümmert er sich um seine eigene Produktion, d.h. er sichtet, richtet ein. Aber was da heruntergeladen wurde von seinem Blog, ergab ein Worddokument von über 2000 Seiten. Und so stecke ich vorerst im zweiten Jahr.

Dann in der Küche mit dem Holzofen. Restlektüre mit Kleists Briefen, heute schon bei Wieland, und Wilhelmine ist nicht mehr up to date, dafür umso mehr Ulrike, seine Schwester. Beginn eines neuen Projekts aus dem Französischen (meint aber nicht Kleist, sondern ihn bzw. mich). Er kann das Übersetzen nicht sein lassen, weil ihm so ganz die poetische Ader abhanden gekommen für Eigenes (damit Sie wissen, was ich insgesamt meine, klicken Sie unten auf “Bruno Lampe”, ganz oben das neue Projekt, ohne daß ich jetzt mit einzelnen und speziellen html-Codes herumfummele).

Konsequenz der derzeit gewollten Asozialität: kein Clooney-Film gestern, keine Versammlung des Vereins, der hinter dem Bioladen steht, was mich herzlich gelangweilt und den ganzen Nachmittag unproduktiv verschlungen hätte, keine Liedermachervorstellung am Nachmittag, kein Film heute abend, et demain, wer weiß.
Analog zu dem Hypochonder, von dem es heißt, auch ein solcher könne mal krank werden, behaupte ich also, auch das Leben eines Asozialen kann durchaus spannend sein.

Denn das Leben hat doch immer nichts Erhabneres, als nur dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann. Kleist an Ulrike, 1. Mai 1802 “Auf der Aarinsel bei Thun”. Aber keine Sorge, es heißt gleich weiter: Mit einem Worte, diese außerordentlichen Verhältnisse thun mir erstaunlich wohl, u. ich bin von allem Gemeinen so entwöhnt, daß ich gar nicht mehr hinüber mögte an die andern Ufer, wenn Ihr nicht da wohntet.

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