Harzreise im Winter. Kleine Poetiken (5): Johann Wolfgang von Goethe.

Dem Geier gleich,
Der, auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend,
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.
Aber abseits, wer ist’s?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.
Ach, wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank?
Erst verachtet, nun ein Verächter
Zehrt er heimlich auf
Seinen eignen Wert
In ung’nügender Selbstsucht
Du stehst mit unerforschtem Busen
Geheimnisvoll offenbar
Über der erstaunten Welt
Und schaust aus Wolken
Auf ihre Reiche und Herrlichkeit
Die du aus den Adern deiner Brüder
Neben dir wässerst

Die >>>> Harzreise im Winter ist eines der längeren Gedichte Goethes, ich stelle es hier gekürzt ein, was unstatthaft ist, – statthaft aber wiederum doch, als dies, mit Man Ray gesprochen, die Schale nicht größer sein läßt als die Banane, kurz: Ich habe Ehrfurcht vor dieser Lyrik. Nicht nur daß sie mir, dem Außenseiter, in meinen späten Jugendjahren, besonders in der ebenfalls partiell von Brahms vertonten Version, oft Trost gewesen ist, ohne mir Selbstmitleid zu gestatten, denn „Mit dem tausendfarbigen Morgen / Lachst du ins Herz ihm!“. Sondern mit allerhöchstem poetischen Geschick reißt Goethe in das harmonische Weltbild, das, stellvertretend für die Deutsche Klassik, ganz besonders er vertrat, mit eigener Hand ein Loch, das die Romantik dann zur Grube aufgestemmt hat, in dessen Tiefen sie zu Mineralien und IchKernen vordrang, um sie ins Laboratorium von Existenzphilosophie und Psychonalyse zu schleppen. Für mich steht „Die Harzreise am Winter“ am Anfang der modernen, der ambivalenten Literatur. Sie erschreibt den Übergang einer in Gottes Hand liegenden, objektiven harmonia mundi – „Denn ein Gott hat / Jedem seine Bahn/vorgezeichnet“ – in die Zerrissenheit skeptischer, subjektiver Multiperspektivität. Im Grunde, so sehr Goethe auch immer noch die Balance aufrechtzuerhalten versucht – „Und Altar des lieblichsten Danks / Wird ihm des gefürchteten Gipfels/Schneebehangener Scheitel“ -, macht die Harzreise Schluß mit Gott. Sie ist Johann Wolfgang von Goethes Steppenwolf: „Ach, wer heilet die Schmerzen des / Dem Balsam zu Gift ward? / Der sich Menschenhaß / Aus der Fülle der Liebe trank?“ Abseits richtet dieses Gedicht den Blick, wo im Gebüsch ein Ausgestoßener Leidender steht, der in die heitere Welt nicht mehr hineingehört. „Ist auf deinem Psalter, / Vater der Liebe, ein Ton / Seinem Ohre vernehmlich“?
Das KunstStück der Harzreise beruht aber nicht auf dem Unheil, das sie benennt – man kann bereits von Psychodynamik sprechen: „Erst verachtet, nun ein Verächter / Zehrt er heimlich auf / Seinen eignen Wert / in ung’nügender Selbstsucht“ -, sondern in der Eingangsstrophe. Denn zwar wie ein Vogel auf seinen Fittichen kreisend frei in der Luft „Schwebe mein Lied“. Doch sind es nicht Falke Bussard Adler, die Goethe benennt, sondern der Geier: homo homini lupus schaut der ganz so nach Beute, wie die Jäger es tun, von denen das Gedicht später erzählt. Achten Sie auf die fast Homer geschuldete Wortwahl und wie hier bereits der Nietzsche des moralfreien Übermenschen vorausgenommen wird: „Mit jugendlichem Übermut / Fröhlicher Mordsucht“. Und noch diese Parallele – Jäger und Raubvogel – ist ambivalent, denn selbstverständlich schaut der Geier nach Aas, so daß bereits in der Eingangsstrophe ein fast zynischer, gänzlich ungoethescher Pessimismus schwingt, so sehr der Dichter die Jäger auch immer rechtfertigen will, „Späte Rächer des Unbills, / Dem schon Jahre vergeblich / Wehrte mit Knütteln der Bauer“. – Aber abseits, was ist’s? Da steht einer, der in die mordfröhliche Bande nicht mehr gehört, steht abseits und schaut dem lärmigen Treiben zu und hört die Hunde das Wild verbellen, Jagdhörner schallen, den hetzenden Nüsternatem der Pferde – und wendet sich um, schlägt sich zurück in den Pfad… ja man möchte meinen, er selbst sei das Wild… und „Hinter ihm schlagen die Büsche zusammen“. Und dann kommt der tröstendste, der wunderbarste, allerklassischste Satz dieses Gedichts: „Das Gras steht wieder auf“. Steht auf wie ein Vorhang fällt, um den Gejagten zu verbergen. Oder steht auf, weil alles Leid ein Ende hat. Und dennoch ist es die Öde, die den Einsamen verschlingt; der Trost besteht sowohl zu Recht, wie er doch lügt. Das bleibt. Das ist so wenig wegzudichten wie, daß die „Winterströme stürzen vom Felsen / In seine Psalmen“, Schönheit und Elend dicht aneinander, beide sind wahr und bedingen sich, mundus non harmonia est. So daß, wenn Goethe seinen Text dennoch in die Apotheose führt und IHn „Geheimnisvoll offenbar / Über der erstaunten Welt“ aus eben den Wolken auf die „Reiche und Herrlichkeit“ blicken läßt, auf denen der Geier kreist, der Gedanke sich einschleicht, GOtt sehe „mit unerforschtem Busen“ aus dessen, aus den Augen eines, der nach Aas schaut. – Es muß sehr kalt gewesen sein in jenem Winter im Harz.Dem Geier gleich,
Der, auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend,
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.
Aber abseits, wer ist’s?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.
Ach, wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank?
Erst verachtet, nun ein Verächter
Zehrt er heimlich auf
Seinen eignen Wert
In ung’nügender Selbstsucht
Du stehst mit unerforschtem Busen
Geheimnisvoll offenbar
Über der erstaunten Welt
Und schaust aus Wolken
Auf ihre Reiche und Herrlichkeit
Die du aus den Adern deiner Brüder
Neben dir wässerst

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