Argo. Anderswelt. (101). Dritter Teil: “Aissa der Stromer”. Anfang.

Es war für Porteños nicht leicht, Unterkunft in Kehl zu finden. Das vor der Geologischen Revision idyllische Rheinstädtchen war wie Koblenz Kaub Mannheim ein mittlerweile schärfer kontrollierter und überwachter Ort als jeder Grenzübergang zum Osten. Denn von den genannten Städten und auch von Kehl aus ging es in die Weststadt hinüber. Wie ein klotzig herausgeschobener, stumpfer Monolith, der sich als monumentaler Erker aus der angrenzenden enormen Arkologie und über diese hinaus erhob, ragte er, sich oben indes spitz verengend, sichelförmig über den metallischen Rhein in den hodnischen Vorhang hinein, der es Buenos Aires unmöglich machte und wohl auch machen sollte, etwas von der Weststadt zu sehen, in deren informatischen Illusionen zwischen Poloturnieren und simulierten Wäldern die Reichen und Unsterblichen in ihren Bungalows und Hazienden lebten. Bis an die von scheinbar lebenden Atlantiksichten tapezierte westliche Mauer, die sich von Reims bis in die Haute Marne hinabzog, langte diese dreidimensionale Freiluftperformance, die dem Porteño ungebrochen als Paradies galt. Man konnte unterdessen auch nicht mehr wie früher, sozusagen Augen zu und durch, in den Vorhang hineinfliegen, sondern es hätte, wem nicht die trotz der gerade im Rheinbruch auch schon v o r der Geologischen Revision obwaltenden Erdbebengefahr dicht an dicht errichteten Kraftwerksmeiler sowie die militärischen Anlagen auf den Magen drückten und sowieso das dunkelgraue, von blauen und gelben Inselflecken durchwucherte Flußmagma selbst, einsam am darben Ufer gestanden wie an der Grenze einer der wenigen in Buenos Aires verbliebenen, doch riesig rohen Brachen, aus denen selbst Arbeitslose evakuiert worden waren, oder ausgesetzt auf einem lebensfeindlichen Planeten, der nur von Elektronik durchstrickte Steinwüsten kennt. Den Rheingraben, obwohl er immer noch hielt, füllte eine flüssige Methanverbindung, die nach ihrer ganz unvorhergesehenen Bildung den Namen Methanotan erhalten hatte; er war das jamunagewordene Symbol für einen maschinell kontrollierten Regreß der Ökologie in die Vorgeschichte irdischen Lebens. Selbstverständlich war der Zugang in den Europa zerschneidenden von Nord nach Süd reichenden, ein paar Kilometer breiten Todesstreifen nur Grenzschutzeinheiten nicht untersagt, und eben bloß die ungeheuren arkologischen Erker griffen bis an den Rhein; es war deshalb fast so, als durchtrennte auch hier eine Mauer Europa. Tatsächlich war der ungeschützte Aufenthalt in Rheinnähe ausgesprochen gefährlich. Nicht weil das dort fast unmittelbar einsetzende Gefühl von Taubheit in den Gliedmaßen, die Müdigkeit und die besonders Erinnerungen angreifende Verwirrtheit bleibende Schäden hinterlassen hätten, sondern weil der Buenos Aires vor allem zur Energieerzeugung dienende Fluß ununterbrochen mit Sauerstoff in Verbindung kam und es deswegen häufige Explosionen gab; nicht selten hatten sie einen signifikanten Wirkradius. Deshalb hielten die Arkologien auch solchen Abstand zum Fluß. Die Weststadt drüben gleichfalls, aber das sah man ja nicht. Der Rhein war ganz bewußt nicht um- und überbaut, also nicht in einen nach außen abgeschlossenen Kanal gezwängt worden, was technisch kein sonderliches Problem gewesen wäre; sondern er sollte eine Art Abschreckung sein und etwa halbstarke und obdachlose Porteños, die ohnedies nichts zu verlieren hatten, über seine Hunderte von Kilometern daran hindern, es zu Fuß über die grüne Grenze zu versuchen. Es gab zum Rheingraben weiter nördlich einen Zugang von der großen Westbrache aus, die zum Fluß hin klaffte; vom Fluß aus waren die Pfeiler des Ponte 25 de Abril zu sehen, klein, eisenbahnmodellhaft Richtung Osten, also zum Stadtzentrum hin; grob und kantig hingegen und monumental die nackten, von Niagarafällen aus Kabeln überschütteten wolkenhohen Mauern der arkologischen Stadtkomplexe selbst. Doch die Unglücklichen, die in der Bache frei vegetierten oder in von Palisaden aus bestacheltem Metall interniert waren, hätten es schon durch den Klärschlamm nicht geschafft, der rechtsrheinisch den ufernahen Kraftwerken bis zu den Waden stand. Furchtbar häßlich glänzte über allem der Hodna-Schild. Den kaum ein Porteño je sah, man durfte ja, der karzinogenen Strahlung wegen, nicht aufs europäische Dach, das zwischen Schild und Arkologie gezogen war; das war schon rein eine Frage des Verantwortsbewußtseins gegenüber der Gemeinschaft. Die innere, moralische Handlungszensur funktionierte wie beim Rauchen vorzüglich: Wer wollte seinem Nächsten die Kosten aufbürden, die eine ärztliche Versorgung aufgrund leichtfertigen Verhaltens hätte notwendig gemacht? Die Krankenkassen waren belastet genug. Schon insofern waren, hätte man es überhaupt aus einer der Arkologien hinausgeschafft, Aufenthalte am Rhein gänzlich ausgeschlossen; es kam auch keiner auf die Idee, schon weil jede Romantik da unmittelbar in die Knie gegangen wäre, jedenfalls bei Tag. Nachts allerdings leuchteten und glitzerten die scharfen Hänge der Stadt wie sternengefüllte Universen, bei deren Betrachtung man steife Nacken bekommt. Gen Westen aber nur Dunst, je nach Helligkeit, bzw. Dämmerungsgrad milchighell bis grau verschliert.

>>>> ARGO 102
ARGO 100 <<<<

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .