„Gute Nacht, Hans. Und wegen der Diskette: Ich guck sie mir an.“
J u d i t h war das gewesen, Judith Hediger, die da angerufen hatte; erst jetzt wurde mir das klar, und erst jetzt erinnerte ich mich an sie, als – ich muß das so ausdrücken – die beiden wie um eine Insel im Fluß herumlaufenden Deters-Arme sich in mir wieder vereinten. – Um zu
verdeutlichen, was Cordes meint, sei mit dem nun folgenden Kapitel Achtzehn b ein ganz sicher auch Ihnen nicht unbekanntes Gedankenspiel eingeschoben. Es tut zur Aufdeckung möglicher Realitäten einiges hinzu:
Sie fahren von Berlin nach Hamburg, um – sagen wir – Desideria zu besuchen, die Sie bislang nie gesehen haben, aber aus einer Internet-Korrespondenz kennen. Sie haben einige Male mit ihr schriftlich geflirtet, aber kennen sonst nichts, kein Gesicht, keine Stimme. (Ich könnte auch Lilith nennen, bevorzuge indessen für dieses Beispiel den unverbindlichen Tanzschritt). Nun war es zwar fast schon einmal zur Begegnung gekommen, doch zog Ihnen die Dame einen Tennislehrer vor. Na gut. Rechnungen sind irgendwann immer zu begleichen; einer wie Sie tut sich schwer, sie auszubuchen. Des Spaßes halber nennen wir Sie… Moment… ja, prima, so bekomme ich ihn ganz elegant bereits h i e r in den Text, obwohl der junge Mann erst im Vierten Teil dieses Romans wieder aufgenommen werden soll… allora!: Jason Herzfeld. Es sind ein paar Jahre vergangen, Jason hat sich prächtig entwickelt und jederlei Tennislehrer einiges Pari zu bieten. Deshalb ist er höchst zuversichtlich, ja ein wenig übermütig, als er in den Audi eines Freundes steigt und auf die A 24 braust. Bereits in Höhe Neuruppin beginnt der Wagen auszubrechen, irgend eine Unwucht in den Reifen, schon platzt hinten links der Mantel, und der Audi bricht aus. Jason fährt gerne schnell, er rast auf der Überholspur, das Steuer blockiert, und mit 220 Sachen scheuert das Autochassis an der linken Leitplanke entlang, sie schneidet geradezu hinein, dann verhakt sich etwas derart fest mit dem hinteren Kotflügel, daß es dem Wagen den halben Kofferraum aufreißt. Dadurch bekommt das Fahrzeug einen Drall, dem Jason nicht mehr gegensteuern kann. Obendrein war hinter ihm ein 7er BMW zu dicht aufgefahren. Wie auch immer, da ist nichts mehr zu machen. Der ganze Unfall braucht vielleicht drei Sekunden, Jason erlebt sie wie Minuten. Dann erlebt er nichts mehr.
In einer anderen Version fährt er allerdings weiter und reagiert auf die Unwucht, indem er das Fahrzeug langsam abbremst. Das kann er, denn hinter ihm fährt kein BMW. Er schert rechts ein, steuert allerdings nicht, was vernünftig wäre, die nächste Werkstatt an; vielmehr setzt er den Rest der kleinen Reise mit knapp 100 km/h fort und erreicht Hamburg und Desideria insgesamt wohlbehalten. Dennoch hat er nach dem Vorfall das Gefühl, in einer anderen Dimension umgekommen zu sein. Sozusagen ist seine Seele im Moment ihres Erlöschens rechtzeitig in die nächste mögliche Welt gesprungen und setzt dort das bisherige Leben fort, als wäre eigentlich gar nichts geschehen.
Diese zweite Wirklichkeit läßt sich abermals verzweigen. In einer nunmehr dritten fährt Jason nämlich d o c h die nächste Werkstatt an, benachrichtigt Desideria übers Mobilchen, das aus ihrem Treffen nichts werde, jedenfalls nicht mehr heute; danach informiert er, ebenfalls übers Mobilchen, den Freund. In einer vierten Wirklichkeit überschätzt Jason selbst bei 100 km/h die Fahrtüchtigkeit des Autos und springt diesmal in Höhe Ludwigslust dem Tod auf dieselbe Klinge, unter der er sich bei Neuruppin gerade noch so hinwegducken konnte. In einer fünften wiederum…
Wer sagt uns, daß sich all diese möglichen Wirklichkeiten nicht tatsächlich begeben? Daß sie sich nicht nebeneinanderher anschichten? Eine jede hätte Folgen, die das gesamte System
modifizieren. Und h a t sie Kapitel Achtzehn c vielleicht. Wäre also Judith erschienen, hätte nicht die vermaledeite Suche nach der Dunckerstraße eingesetzt, dann hätte Goltz Hans Deters auch nicht im SILBERSTEIN aufspüren können. Was er aber tat. So daß Deters dieselbe Diskette Niam Goldenhaar gab, die er in der anderen, in J u d i t h s Möglichkeit, bei d e r ließ. Da nun aber beides g e s c h a h, laufen mit einem Mal zwei Wirklichkeiten parallel. Und beide sind zu erzählen. (Bis sie in mir als wieder e i n e m “Deters”-Arm mit dem ominösen Telefonat neuerlich zusammenlaufen.)
„Ähm, träumen Sie?“ fragte sie.
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Judith Hediger Ist das eine weitere Bösartigkeit von Ihnen? Reicht es nicht, dass Sie meinen Schlaf mit Vergana in Ketten legen?
*Lacht verzweifelt*
Mit Judith Hediger schicken Sie mich nun auch noch auf die Suche nach einer Verwandten (vielleicht nach einer engen, vielleicht sogar nach meiner eigenen Frau) und zwingen mich zu einer weiteren Spurensuche, die – wie so oft bei Ihnen – nicht einfach sein wird…
Oder ist es Überheblichkeit meinerseits, Spuren und Verbindungen zu sehen, die nicht existieren?
Die Dschungel sind. In allem, was sie unternehmen, die sinnliche Repräsentanz einer möglichen neuen Poetologie. Wozu a u c h gehört: Wie entsteht eine Figur? Auf welche Weise kam etwa ihr Name zustande, der in der abendländischen Kultur (und in vielen anderen Kulturen, die nicht völlig auf Dingwelten abstellen) nicht nur Begriff und Bezeichnung ist, sondern etwas m e i n t. Ergreift jemand die Hand einer Erzählung, die ihrerseits Teil eines Erzählorganismus ist, dann ist er – oder sie – Teil dieses Erzählorganismus geworden… und zwar auch dann, wenn es keine andere Verbindung als nur diese eine Synapse gibt.
(Im übrigen ist so etwas ein Teil meines Verfahrens, alltägliche Realität in die Dichtung zu bekommen, ihr einen B o d e n zu geben, der nicht nur Projektion ihres Autors ist.)
Namen Während meinem Studium (ist Jahre her) habe ich mich sehr intensiv mit Ecos Zeichentheorie auseinandergesetzt. Er trennt sehr strikt zwischen den Zeichensystemen und dem, was wir Realität nennen – er hat diese Diskussion sehr lange sogar vermieden, erst in einem seiner späteren Werke – Kant und das Schnabeltier – hat er diese Thematik aufgegriffen.
Ich finde den Ansatz Ihrer Poetologie äusserst anregend und würde sehr gerne ausführlich darüber diskutieren (allerdings lieber bei einer Flasche Wein oder zwei, hier in Rio dürfte es auch eine Caipirinha sein). Sehr schön das Bild des Lesers, der die Hand einer Erzählung ergreift und somit Teil des Erzählorganismus wird (Lector in fabula). Eine Frage stellt sich mir aber zu Ihrem Verfahren, alltägliche Realität in die Dichtung zu bekommen: eine alltägliche Realität ist immer an spezifische Menschen gebunden, nie an sämtliche Leser. Im Falle des Namens “Hediger”: Durch Judith hat ARGO für mich einen Boden gewonnen, auf dem ich – wenn auch schwankend oder bisweilen torkelnd – stehen kann. Gilt dies aber auch für andere Leser, die den Bezug zu diesem Namen nicht haben?
Oder anders gefragt: Ist die Realitätsspur, die Sie durch Ihr Verfahren in die Dichtung legen, für andere, die nicht an dieser spezifischen Realität teilhaben, als Spur in die Realität erkennbar? Oder ist das nicht wichtig?
Das weiß ich nicht. Es gibt ja auch andere Formen von “Händen”: die Metaphorik etwa, auch die Handlung eines Textes usw. Unser aller Fantasien sind s o verschieden voneinander nicht – so wenig wie unsere Körper.
Daß Sie noch auf schwankendem Boden stehen, ist – abgesehen davon, daß dieses Schwanken einer der Grund”festen” der Anderswelt-Arbeit ist (laden Sie sich gelegentlich von der fiktionären Website aus den Essays “Das Flirren im Sprachraum” herunter) – … ist verständlich, da ich ja keine zusammenhängenden Texte aus ARGO in Die Dschungel stelle, sondern immer nur Fragmente des eigentlichen Romans.
Bezüglich Eco merkt man seine Haltung am deutlichsten an seinem für mich besten Roman, im “Foucaultschen Pendel”. Bezüglich Realität und Fiktion geht er darin am weitesten und versichert zugleich permanent, daß alledies nur erfunden sei. Ohne diese kleine furchtsame Hysterie wäre der Roman einer der g r o ß e n geworden.
Mir wäre lieb, wenn sich wenigstens einer der Unfälle in Höhe der Ausfahrt Herzsprung oder meinetwegen auch Heiligengrabe ereignen könnte, wenn man sich schon auf dem Wege zu mir befindet …
Auflachend. Das wird sich einrichten lassen. Nur sollte der Autor wissen, wo dieses Heilige Grab sich befindet… und es muß weit genug weg sein, um zu verhindern, daß Sie Jason noch rechtzeitig retten…