Das Blei und der Wind: den Kapverden entgegen. PP161: Der dreißigste auf den einunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Donnerstag, der 1. Mai 2014. Vierter Seetag nach Ascension.

(17.37 Uhr, i.e. 19.37 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
13º48‘ N/23º32‘ W.
Kurs 304º NW.
Schwere Wolken, manchmal Sonne.)

In der Tat schickt uns Britannien offenbar unentwegte Wettergrüße. Sie werden‘s nicht glauben, aber bereits jetzt muß ich einen Pullover überziehen, wenigstens die Schals umbinden, sie aber mit einem Knoten am Körper festmachen, sonst trägt auch diese der Wind mir davon. Nur wenn die Sonne durchkommt, ist die Äquatornähe noch zu spüren. Imgrunde absurd, daß ich hier friere. Ich trinke aus Trotz den Campari Soda dagegen an, habe im übrigen, deshalb erscheint dieser Text erst so spät, den Tag mit dem Abbau des Alkohols von gestern verbracht, war erst gegen Mittag fähig, wenigstens den Gogolin weiter- und nun auch, Seelenlähmung, ganz zuende zu lesen. Als nächstes stehen Friedrich Rückerts Makamen das Hariri auf dem Programm meines Kindles.
Schwer gesoffen hab ich gestern nacht, nicht wegen der Kälte, nein, sondern als mich die Jungs in der Bar dazu brachten, mit ihnen zu würfeln, weil nämlich unser Officer H. hatte sicher verkündet, er sei nicht zu schlagen. Das forderte mich heraus. Wer verlor, mußte die jeweils kommende Runde bezahlen; die Zechen insgesamt warn hoch. Ich kenne die Psychologien der Spieler; imgrunde gebe ich an Bord längst gar kein Geld mehr aus, abgesehen von der prima teuren Fußpflege, die ich mir, Reflexzonenmassage inklusive, vor drei Tagen angedeihen ließ, um mich fürs verpaßte Ascension schadlos zu halten. Die junge Thai operierte ganz ohne Klingen, nahm eine Art rauhen Spatel für die zu enthärtenden Ballen und Fersen und, anders läßt sich das nicht nennen, arbeitete, nämlich körperlich hart. Ich konnte die Kraft nur bewundern, die sie in ihren zarten Unterarmen hat. Zart war der Strich ihrer Hand, mit der sie Glätte überprüfte. So schloß ich die Augen und genoß.

Blei das Meer im Moment, über fast den ganzen Tag, flüssiges Blei ohne nennenswerte Dünung, wiewohl der Wind, der Wind, der Wind. Nachdem ich noch morgens gewankt war zum Kaffee, goß ich mich hinzu, lag auf der Liege und war von der inneren Unzucht durchströmt, eine Art „reines“ physiologisches Fühlen. Die kurze aber feste Jeans behielt ich besser an. Noch um elf, als ich für einen weitren Kaffee aufstand, hob sich der Kreislauf und ging in die Knie, hob sich wieder, so surfte ich zur Kaffeestation und surfte sogleich wieder zurück auf die Liege, an Schreiben war da nicht zu denken. Es war dann ein Akt der Vernunft, ein bißchen was zu essen und das zu mir Genommene, ohne daß ich selbst etwas dazutat, sich in mir aufspalten zu lassen, auf daß es den Organen klug zugutekomme.
Hat funktioniert, ich wollte sogar – jetzt aber! dachte ich, da war es etwa fünf – im Sportraum trainieren, vorher kurz mit der Löwin skypen, die aber nicht da war, doch eine Nachricht geschickt hatte, da sei ja gar kein neuer Text. So daß mich mich entschloß, ihn nun doch noch zu schreiben. Was ich hiermit tue, auch wenn es nicht eigentlich Neues gibt. Andererseits, ich spreche wenig zwar an Bord, schon wegen der anderen Sprache, aber unausgesetzt spricht ES in mir, eine Art fremdes Selbstgespräch, das gedacht wird, kaum je einhält, und sich immer wieder in mein schwarzen Notizbuch schreibt. Gestern war ein, so gesehen, produktiver Tag. Dazu Gogolins deutscher, sehr sehr deutscher Roman, der zugleich Zeitspiegel ist, der siebziger Jahre und ihrer intellektuellen Verfaßtheit, die zwar begreift, doch hilflos fühlt und diese stumpfe, aus dem Schock rührende Fühllosigkeit weiterreicht, wobei sich geschichtliches böses Erbe mit dumpfer Kindheit auf das fatalste amalgamiert hat. Ich erinnere mich, daß ich mit etwa zwanzig schrieb: „Wir sind die Generation der Verschwindenden“ – was damals bei mir, dem Jüngeren, ein empfundener Reflex war, ist bei Gogolins Protagonist ein tatsächliches Versinken. Damals auch, nicht in Literatur allein, gab es die ersten sogenannten Aussteiger, es war geradezu eine Welle, aber eine der, anders als in Gogolins Roman, Kraft. Achternbusch formulierte „Du hast keine Chance, aber nutze sie“; bei Gogolin streicht sich die zweite Satzhälfte durch. Und man erfaßt, daß keine der Romanpersonen, auch nicht der Chronist, eine Chance hatte.
Es ist ein, auch in seiner hochsensiblen Formung, nicht dunkles, sondern graues Buch, eines, das eine Schuld auf sich nimmt, die man nicht trägt noch jemals tragen könnte. Allenfalls am Ende schimmert etwas wie Hoffnung durch, eine seltsam hölderlinsche, die ihr Macht aus der Unmöglichkeit bezieht. Da, auf der letzten Seite des Buches, knüpft es an Achternbusch an.

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Der Auftrag von Volltext kam, für Lars Steffens Popps >>>> Haus der Halluzinationen. Abzugeben am 31. Mai. So winkt die Arbeitswohnung schon.

(Meine bei Volltext erschienene Fahlmann-Rezensionen werde ich nach meiner Rückkehr in Die Dschungel stellen, damit der Text leicht greifbar bleibt.)

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Aus dem schwarzen Notizbuch, gestern:16.43 Uhr. Permanent wird gespielt an Bord, da lag ich mit M. Bayoon bereits richtig; nur ist es nicht, wie meine Wahl war, Domino, nirgends, sondern es sind Kartenspiele und Scrabble und auf dem Oberdeck Schach; ich sah das erste Reisebackgammon im Überseeclub, leider mit häßlichen Kunststoffplättchen als Steinen, und es wird „geschummelt“; ich kenn das Spiel noch gut aus meiner Wiepersdorfer Zeit, da war‘s mit Marcel Beyer die ganzen Nächte durchgegangen.(: Als ich dieses notierte, wußte ich noch nicht, wie mich das kaum fünf Stunden später einholen würde.)Ich werde dennoch beim Domino bleiben. Denn das Traumschiff ist eines schon von daher, daß sie alle an Bord einander verstehen, vom Filippino im Maschinenraum über den britischsten Passagier bis hinauf zur Brücke. Das muß ich im Roman einführen, „daß wir uns alle verstehen“. Sie verstehen einander, aber erkennen sich nicht. „Ich habe immer gedacht, daß wir einander erkennten. Aber wir verstehen uns nur.“ : So geht das Buch dann los. Und Lanmeister weiter: „Ich kann mich, wie seltsam, nicht erinnern, daß es je anders war.“Mit diesem so leise einsetzen, daß es die Leser:innen gar nicht recht bemerken, aber fortan für so gegeben halten wie Cherubinos Unsichtbarkeit hinter dem Stuhl. Sie müssen es organisch hinnehmen, ganz wie Lanmeister selbst.
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Immer schon um vier sind alle Kekse weg. Ab halb vier ist der afternoon‘s tea eröffnet. Seit ich keine Schokolade mehr habe, nehm ich mir immer Kekse mit auf die Kabine, für spät abends, aber darf auf keinen Fall zu spät im Essenssaal erscheinen. Hab ich die Kekse dann, schleich ich mit dem kleinen schlechten Gewissen eines davon, der in der Speisekammer heimlich aus dem Honigeimer nascht.
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Wie plötzlich der Impuls, nämlich immer wieder, aufpocht, mit dem Roman nun endlich zu beginnen. Vier Wochen hat das gebraucht!
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Gogolins Seelenlähmung, dieses deutsche Buch, am Äquator.
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Tatsächlich! Ich komme aufs Zimmer, und da ist mir das „Zertifikat“ der Äquator-Überquerung korrigiert unter der Tür durchgeschoben worden. Jetzt kann ich das Ding auch aufhängen. So nebensächlich ich tat, daß mir das sei, so erstaunlich hüpfte mein Herz da! Und wie ausgerechnet ich ganz begeistet vom Kisch sein kann und immer wieder auf dieser Reise bin. Es ist zum den Kopf Schütteln. Kitsch als Abschied vielleicht, als stoßgedämpfte Abschied? Normalerweise schätze ich Sportwagen, in denen man spürt, wenn die Räder über ein Eurostück fahren.
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Daß die weißen Uniformen der Offiziere aus einem Kunst-Stoff sind, Perlon, sowas, weshalb sie keiner gerne trägt, denn sie kratzen und man schwitzt furchtbar drin. Alle sind froh, wenn sie das Zeug wieder ablegen können.
Kitsch: Plötzlich André Hellers Begeisterung nicht nur verstehen, sondern selbst in sich fühlen. Und daß ich in diesem Moment an den jungen Zöllner von Perth/Airport denken muß, diesen australischen Don Juan de Marco. Wie nahe! So nahe nahe nahe. Und schon ein Moment der Metaphysik: K., im Captain‘s Club nun, spielt den ersten Satz der Mondscheinsonate. Da verstummen die zuvor noch leise plaudernden Gäste, und jede sieht zu ihr hin, als wäre man zurückgesunken und getragen. Man atmet atemlos. Selbst die Kellner stehen und schauen. Fünf der tiefsten Minuten, die ich hier an Bord bisher erlebt habe.
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23.15 Uhr.
Die, verzeihn Sie mir, es ist liebevoll-symapthisierend, nicht machistisch gemeint, nun ja: „;Mädels“ treffen sich in der Crewbar, wohin ich nun nicht mehr darf. Was mich an meinem Beruf nervt, ist die ständige Distanz, die aber doch tatsächlich die meine permanent ist, wie ich immer wieder zugleich versuche, gegen sie anzurennen.
23.27 Uhr.
Der Wind, wie er tobt! Und hatte (unleserlich) längst oben, erzählt mir dann von den … (ah! so war‘s:) Katheryna läuft längst oben immer um das Sonnendeck herum, ihr tägliches Nachtjogging… erzählt mir dann von den Zikadengeräuschen, die auch ich schon vernommen und auch aufgenommen habe. Und die schöne Parfumière, die heute zum ersten Mal während dieser Reise draußen, im Rauchereck neben der Hansebar, sitzt, sei mit einem der Sicherheitsoffiziere verheiratet, prompt sitzt er neben ihr, man heiratet, so läßt sich das betrachten, im Dorf. Viele warten auf den Prinzen. Aber so geht die Liebe nicht. Nein, und C. nickt, so geht sie nicht. Diese ständigen sich-an-etwas-Heransehnensakte.
Jede und jeder will heim. Aber niemand hält es lange, man fluche, wie man will, ohne die See dann dort aus.
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Gedanke vorhin:
Für was/wen hältst du dich so in Form? Antwort: Um noch im Tod ein schöner Leib zu sein. (Nur ein Aufblicken, und die schöne Parfumière ist verschwunden.)
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Keine Ahnung, wie ich das Buch eines Sterbenden schreiben soll, wenn alles in mir zum Leben will, a m Leben sein will. Ich bin das völlige Gegenteil eines Buddhisten, das pesongewordene Gegenteil eines Meditierenden. Bin Akt. Weite! Weiter! Bis es mich, mit einem einzigen Schlag, erschlägt. Ich bin nicht ein einziges Mal seekrank gewesen, war niemals außer mir, sondern alles ist Wille selbst dann, wenn distanziert. Anders als Gogolins Klett renne ich gegen die Bastille meiner Kindheit weiter und weiter an und erstürme sie, schleife die Mauern. Nie nachlassen, nie eine innere Ruhe als Ziel, sie nicht einmal wünschen. Kinder in die Welt setzen und sie gehen lassen dann. Ihnen es nicht antun, daß man müde wird, damit auch sie nie müde werden. Vielmehr selber, ohne daß sie uns noch brauchen, gehen.
Und alles selber erleben wollen, darin sein wollen, eben n i c h t nur Chronist. Fräße mich ein Hai, es wäre ein angemessener Tod. Nicht angemessen ist das Hospital, nicht angemessen ist das Heim, nicht angemessen ist die Vergreisung. Darum schreibe ich ja dieses Buch: eines für angemessenes Sterben. Darum, vergiß das nicht, fährst du hier auf See!
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Und dann begann das Würfelspiel – eigentlich hatte ich, es war fast schon Mitternacht, zu Bett gehen wollen.
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2 thoughts on “Das Blei und der Wind: den Kapverden entgegen. PP161: Der dreißigste auf den einunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Donnerstag, der 1. Mai 2014. Vierter Seetag nach Ascension.

  1. Keine Ahnung Genau das hatte ich Ihnen vor kurzem schreiben wollen: Wie können Sie nur das Buch eines Sterbenden schreiben, wenn gerade alles in Ihnen so zum Leben , zum Gesundsein, zum Jüngersein drängt. Als ob sich Ihr ganzes Wesen gegen diesen Plan wehrt. Da bin ich echt gespannt, wie Sie das schaffen. Dass Sie es schaffen werden, daran zweifle ich eigentlich nicht. Aber vielleicht dauert es noch…

  2. Kurz mit Gogolin gesprochen … … Gogolin sagt, seine Frau habe ihm den Indianernamen ‚Der am Äquator gelesen wird‘ gegeben.

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