Stenhammar, Fünftes Streichquartett. Wer hört heute schon noch Stenhammar? Dabei haben seine Quartette manche Qualität der späten beethovenschen. Wie ebenfalls Vagn Holmboes, die ich danach anhören möchte – als Begleitung durch meinen ganzen, nun begonnenen Tag. >>>> Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit. Auch mein Traum steht in der lydischen Tonart.
Ein guter Brief >>>> Karl Ludwig Pfeiffers zu den Elegien. Mir gibt so etwas Mut, einfach, weil es einen darüber beruhigt, daß man poetisch nicht doch auf einem kompletten Irrweg ist:(…) Vielleicht kann man aber einen starken Eindruck am Hauptitel festmachen: Schon die Schreibweise verstärkt und überschreitet das T(h)ierische, das auf so vielen Ebenen vom Dreckigen bis zum Sublimen entfaltet wird. Ganz nebenbei fällt dabei die Einsicht ab, dass man mit Ihrem Text die theoretischen Verhandlungen des 20. Jahrhunderts zum Erfahrungsbegriff (und zu seiner vermeintlichen Verabschiedung) wieder aufnehmen müsste. Da ich dazu tendiere, alles in meinen jeweiligen Jargon zu übersetzen, wage ich doch die Vereinnahmung der Texte mit dem Begriff der Tatsächlichkeit, die sich vor allem über die teils quasi-theoretische, vor allem aber emphatisch po(i)etische Schreibweise einstellt und die ohne die naturalistische Inszenierung des Empirischen auskommt. (…)Worauf ich ihm geantwortet habe:Ihren Begriff der Tatsächlichkeit finde ich ausgesprochen interessant, auch wohl, weil er meiner Idee des Fiktiven als eines Möglichen nahezukommen scheint und weil (…) es mir nicht um eine Rückwendung zu überlebten Formen geht, sondern wirklich um Modernität. Ich denke (…) immer wieder neu, daß alte Formen qua Differenz Zeitgenössischkeit ganz besonders klar hervortreten lassen (können), unabhängig von der Dignität, die sie über ihr Altsein haben: gemeinsame kulturelle Erfahrung, die sich wie ein kollektives Erbe in die Gene eingeschrieben hat. Es war in den Elegien aber auch eine Form von Unmittelbarkeit (Vorschein von Unmittelbarkeit, selbstverständlich) herzustellen, die eine Nähe transportiert, vor der sich kein poetisches Herumexperimentieren schiebt: zu vermeiden war, psychoanalytisch ausgedrückt, Rationalisierung – eine Form der, wie Sie ganz sicher wissen, psychischen Abwehr.
Dennoch, ich muß wieder an das Europaprojekt; nachher wird mit Vilnius telefoniert werden. Ein Entscheidungsgespräch, nehme ich an. Allerdings ist erst einmal >>>> die Berliner Argo-Veranstaltung des kommenden Freitags in Der Dschungel zu annoncieren. Eigentlich wollte ich auch persönliche Einladungen hinausschicken, aber weiß nicht, ob ich das zeitlich noch hinbekommen werde.
Ein Wort noch zu >>>> den DTs, weil ich gestern mit einer Freundin drüber sprach: „Wen willst du damit beeindrucken? Jetzt auch noch deine Körperfettwerte zu veröffentlichen!“ „Wer liest denn schon die DTs?“ rief ich da aus.
Tatsächlich aber könnte man diese kleinen Trainingsprotokolle am Ende jedes nachtäglichen Resümmees nicht zwar als eine versteckte Botschaft für jemanden Bestimmtes, indes als eine nächste Volte verstehen, irgendwie doch das Private zur Veröffentlichung disponibel zu halten, nachdem ich die alte Form des Arbeitsjournales aufgegeben habe. Doch in Wahrheit ist der Grund viel simpler. Es sind, für mich selbst, Prüfmeldungen. Erst einmal unpoetisch, rein faktisch gesprochen, ist das gesamte Trainingsunternehmen eines, das sich auf Projekte vorbereitet: wenn ich, nachdem mein Sohn achtzehn geworden sein wird, auf diese Weltreise gehen sollte, ohne nennenswertes Geld und also davon abhängig, daß ich zwischendurch jobbe, was dann „einfache“ Jobs sein werden, körperliche, dann muß der Körper auch in Schuß sein. Das gilt nicht nur für diese Reise, sondern auch danach für den Friedrichroman, weil ich des Staufers Wege nachgehen will, zu Fuß über die Alpen bis in die Pfalz, mit einem Segler hinüber ins Heilige Land usw. Ich werde dann über Sechzig sein, weit über Sechzig schließlich; das muß ich mit verstärktem Training ausgleichen, um die Projekte schließlich auch durchführen zu können. Ich schreibe nicht aus der Retorte, sondern was ich erzähle, habe ich alles irgendwie konkret erlebt: physisch erlebt. Habe es durchlebt. Die reine Sublimation ist mir zuwider.
Es gilt aber noch etwas anderes, das auch in den Elegien immer wieder Thema ist: Geist ist Körper-selbst, ja geradezu eine Körperfunktion; er stammt nicht „von oben“, wird nicht von jemandem oder Etwas in uns gegossen, sondern wir verdanken ihn unseren Körpern allein. Deshalb müssen wir ihn ehren; wir können das tun, indem wir ihn beachten und ihm, solange uns nicht eine Krankheit hindert, geben, wonach er verlangt. Was das ist, ist von Mensch von Mensch, eben je nach Physis, verschieden. Es stecken Möglichkeiten im Körper (und nur deshalb auch im Geist), von denen wir meist gar kein Bewußtsein haben. Wer den Körper aber ins Zentrum seiner/ihrer Überlegungen stellt, und ich stelle ihn seit langem ins Zentrum besonders meiner poetologischen Überlegungen, der beginnt, eine Art Verantwortung zu spüren insbesondere dann, wenn auf seinen Körper immer Verlaß gewesen ist; eine durchaus religiöse Dankbarkeit: man ist gesegnet worden. So gesehen, ist jedes Training eine Messe, und die Veröffentlichungen der Werte sind Bekenntnisse. Veröffentlicht aber müssen sie sein, weil die patriarchale Struktur unserer Kultur den Körper letzlich verachtet, besonders in ihren drei monotheistischen Religionen, denen z.B. die Menstruation nach wie vor als unrein gilt. Oder, wie die Freundin gestern sehr zurecht anmerkte, daß es immer noch für Pornografie gilt, wenn im Alltag ein erigiertes männliches Geschlechtsteil gezeigt wird – also unsublimiert. Diese Art Körperfeindlichkeit macht uns verkniffen und verkneift auch unsre Kunst. Selbst, wenn wir das nicht wollen. Ich will immer, immer, immer zur Erde. Und also meine Literatur.
Auch das Annoncement für Freitag steht nun drin. So daß ich nun wieder das Europakonzept vorgenommen habe. Zentrales Paradigma bleibt aber >>>> der Körper, zu dem es heute >>>> bei TT eine grandiose Zeichnung gibt.
(12.05 Uhr.)
Holmboe, Sechstes Streichquartett. „Metamorphische Technik“ >>>> lese ich grade. Verwandelt werden aber eher Motive, die gestischen Character haben, als tatsächliche Themen. Ich, bis in Argo hinein, verwandele Themen, halte an „Plots“ immer noch fest. Was bizarr ist, weil mir auch in sehr guten Untersuchungen nachgesagt wird, es gebe keine. Vielleicht ist es so, aber, daß auch ich selbst sie bei Holmboe nicht „sehe“. Weil der Prozeß der Verwandlung sich über sie schiebt, vordrängig wird? Ich habe, bei aller Digresssion, immer „klassisch“ gearbeitet: immer alle Fäden verknüpft. Es hängt tatsächlich nichts unausgeführt heraus. Bin ein bisweilen exzessiver, eben romantischer – Klassizist. Der heftige Widerspruch darin ist der Treibstoff.
Gutes Gespräch mit Vilnius. Moderierend. Was nicht leistbar ist, w a s leistbar ist usw. Das werden jetzt drei Tage permanenter Entscheidungen werden. Zumal ich zur Buchmesse Frankfurtmain wahrscheinlich bereits am Montag fahren werde; es wäre für ein Treffen sinnvoll, das ich anders nicht unterbekäme.
Korrespondenz mit Jürgensen wegen der >>>> Berliner Argo-Präsentation am Freitag. Ich will die herkömmliche Struktur Lesung ./. Gespräch verflüssigen, indem ich dem Abend ein Moment der Improvisation gebe. Das bedeutet entweder mehr Vorbereitung, als wir jetzt noch Zeit haben, oder ein gewisses Risiko. Doch jedes SichÖffnen ist riskant, immer, gleichgültig, in welchem Belang. Wiederum gilt: „Nichts nämlich k l i n g t, schrieb eine Frau, mit geschlossenem Beckenboden“ (Bamberger Elegien, Elfte).
(19.41 Uhr.)
Noch einmal zu den DTs’en selbst. Anfangs waren das – in einer psychisch schwierigen Phase – Arbeitsvornahmen, die zeitlich streng durchstrukturiert waren; sie wurden am Anfang eines Tages als Aufgaben an mich selbst geschrieben, gingen dann aber langsam in das über, was ich „Tagebuch“ nannte, das sich seinerseits mit der Zeit umformte – Sie erinnern sich? die Idee des „chorischen“ Tagebuchs. Schließlich gab ich es für mich auf, während es für meine Mitschreiber:innen erhalten blieb, bis heute, und begann das Arbeitsjournal, das Tagebuch und poetische Überlegungen vermischte, teils selbst als fiktive Erzählung usw. Bis es sich nun eben von jeglich Privatem entfernt. Das DTs – was für „Den Tag strukturieren“ stand – wiederum hat den Character eines fast „reinen“ Arbeits-Resümmees angenommen, das nicht mehr zu Beginn eines Tages mit Blick voraus, sondern am Ende eines Tages oder zu Beginn des nächsten Tages mit Blick zurück geschrieben wird. Es ist etwas Lebendiges und mir deshalb sehr lieb, daß sich in Der Dschungel auch die Rubriken verändern. Auch sie stehen in dem Fluß, der jede Verkrustung von ihnen abwäscht – jede „Konvention“.