„Menschen, denen die Natur mit um so größerer Gleichgültigkeit zuschaut, je mehr sie in ihr ein Klageweib sehen möchten. Gustaw Herling (1). Unterm Pflaster glimmt das Feuer (11).


Es liegt etwas in der südlichen Luft, in dem Himmel, dem Meer, der Sonne, den Bäumen, was Leiden nicht zuläßt und ein Rückwärtsschauen nicht erlaubt. Leben heißt hier vorwärtsstreben, laufen, ohne zu verweilen, ohne auch nur kurz stehenzubleiben, ohne sich umzusehen, und sogar unter Tränen weiterzulaufen.
Gustaw Herling, >>>> Der standhafte Fürst, dtsch. von Nina Kozlowski.

5 thoughts on “„Menschen, denen die Natur mit um so größerer Gleichgültigkeit zuschaut, je mehr sie in ihr ein Klageweib sehen möchten. Gustaw Herling (1). Unterm Pflaster glimmt das Feuer (11).

  1. vorwärtsstreben … laufen gar! neinnein: “lentus in umbra” : “gemächlich im schatten” :
    Wir, aus der Väter Bezirk und liebem Gefilde vertrieben,
    Fliehen das Heimatland: Du lehrest gemächlich im Schatten
    Tönen des Hains Nachhall Amaryllis’, der Lieblichen, Namen.

    Vergil, Bucolica, Ekloge 1
    sicher, in Neapel, sieht’s anders aus, aber die “südliche Luft” verschwiemelt so manches. der “romantischen” vorstellung wird gleichsam eine beschreibung der leistungsgesellschaft nachgeschoben.

    antithese:
    scurdámmoce ‘o ppassato,
    simmo ‘e Napule paisá!…

    1. @parallalie. Mir scheint hier eher der Vergil – wenngleich der “heilige Zauberer” Neapels – zu romantisieren; Herling, der viele Jahrzehnte, bis zu seinem Tod, in Neapel wohnte, ist davon eher frei. Es ist ja eben nicht so, daß die Leistungsgesellschaft vor Neapel haltgemacht hätte; sie prägt sich da sogar besonders aus, weil sie, marxsch gesprochen, auf eine riesige Reservearmee zurückgreifen kann und auch vieles dafür tut, daß das so bleibt. Der mit Abstand größte Arbeitgeber Neapels, die Camorra, sorgt dafür; sie aber ist, wie >>>> Saviano sehr klarmacht, das Zentrum der Leistungsgesellschaft, ist Kapitalismus-pur. Das “Gemächliche im Schatten” ist, da hatte bereits Goethe recht, ein Ergebnis der stieren Arbeitslosigkeit. – Unabhängig davon gibt es in der Tat immer wieder Befreiungsbewegungen, die aber ihrerseits Kämpfe von nicht geringem Risiko sind – etwa die von mir nach Richters Hinweis auch hier schon immer wieder erwähnte Cooperativa >>>> La Paranza.

    2. vergil wird schon nicht romantisieren, darum kümmert sich die rezeption, wahrscheinlich sogar meine eigene. auch lassen sich diese kategorien schwerlich auf die antike übertragen. der widerspruch bleibt indes für mich bestehen, der sich zwischen klischee und die epitheta der leistungsgesellschaft schiebt. ich würde im zusammenhang mit der camorra-wirtschaft eher von einer ausbeutungsgesellschaft sprechen. ich kann mir da kein “voranstreben” vorstellen, das passende prädikat wäre für mich hier “tirare a campare” (sich durchwurschteln – es irgendwie hinbekommen), “alla meno peggio” (so gut und schlecht es halt geht). auch wenn der autor, wie du mir schriebst, lange jahre dort gelebt hat, war doch meine erste assoziation zu dem “voranstreben” und “laufen”: bundesrepublik (von einst… wie’s jetzt ist, ahne ich nur vage). – es sei denn – da es sich um eine übersetzung handelt – da wurde ein “andare avanti” (ein ausdruck, ähnlich wie “tirare a campare”) falsch interpretiert, das ja ein generisches “weitergehen” meint, aber kein streben. “correre” als möglicher ausgangspunkt fürs “laufen” könnte durchaus mit einem “sich abhasten” wiedergegeben werden. ich bleibe dem wiedergegebenen text gegenüber skeptisch.

      hier eine rezension zu dem erzählband, in dem “Der standhafte Fürst” erschienen ist: http://www.alexandria.unisg.ch/export/DL/60182.pdf‎

    3. @parallalie zu Herling, zur Leistungsgesellschaft und zu Aids.. Das ist eine sehr schöne Rezension, die Du da gefunden – und wohl auch gesucht – hast. Sie hat leider den Nachteil, daß sie “die Plots” verrät – schade für jemanden, der Herling erstmals liest. Andererseits ist aus ihr ziemlich gut zu lesen, wie direkt ein scheinbar autobiografisches Schreiben wirkt, das eigentlich gar keines ist, sondern sich nur mit Eckdaten der Autobiografie in die Wirklichkeit einhakt. Ähnliches gilt ja – über einige Strecken – auch für Die Dschungel.

      Zur “Sache” aber selbst: Ich halte die hier vermittelte Sicht nicht für einen Übersetzungsfehler, besonders nicht den in Deiner Herleitung gemutmaßten, weil Herling polnisch schrieb, also nicht auf Italienisch. Und wenn ich den Namen der Übersetzerin richtig interpretiere (Nina Kozlowski, sie ist heute >>>> “Lehrbeauftragte für polnische Landeskunde”), dann ist sie selbst Polin oder doch wenigstens polnischer Herkunft.
      Ich kann Deine Skepsis nachvollziehen; aber bereits zu Goethes Zeiten – wie er selbst gegen das Klischée der herumlungernden armen, den Lieben Gott einen guten Mann lassenden Lazzaroni einwendet – war dieses scheinbar sonnenselige Lungern vom Umstand der Arbeitslosigkeit verschuldet. In Secondigliano und den anderen Beton-Vororten Neapels lungern die Jiugendlichen. Die Arbeitslosenquote von Jugendlichen beträgt in Neapel an die 70%, in ganz Neapel liegt sie bei 50. In der Stadt selbst sieht man nicht mehr Obdachlose als unterdessen auch bei uns; sie haben “Sammelgebiete”, etwa – in Scharen – auf der Piazza Principe Umberto nördlich des Garibaldi-Bahnhofs:

      ,
      sowie – leider für diesen wunderschönen Platz – am östlichen Anfang Spaccanapolis, auf der Piazza Bellini – da liegen allmorgens Berge von ausgetrunkenen Wein- und Bierflaschen:

      Ansonsten sind die Menschen quasi dauernd beschäftigt: Wie schon auf Ernst Bloch macht die Stadt gerade in den Armenvierteln oder, sagen wir, den “einfachen” Quartieren den Eindruck eines Bazars – “Soukh” schreibt Bloch korrekt, und qausi überall wird gehämmert und renoviert und geeilt und geliefert, und zwar dauernd – abgesehen von der Zeit der Siesta, also in Neapel zwischen etwa 14 und 17.30 Uhr. Was Herlings “nicht erlaubtes” Rückwärtsschauen anbelangt, so ist dies aber sehr wahrscheinlich auch ein Ergebnis der Omertà, also des absoluten Stillschweigens über Verbrechen, das wiederum das Ergebnis einer jahrzehnte-, wenn nicht sogar jahrhundertealten brutalen Einschüchterung ist und, selbstverständlich, kombiniert mit der Hoffnung mancher, irgendwie mal “dazuzugehören”. Wer es, wie Saviano, durchbricht, gerät nicht nur in die Gefahr, von der Camorra liquidiert zu werden – sie schließt Rechnungen, wenn es sein muß, auch erst zwanzig/fünfundzwanzig Jahre später (die Camorra führt über so etwas pedantisch Buch); was auch ein symbolischer Akt ist, der die Omertà fast absolut werden läßt -, sondern wird auch von Bekannten, ja Freunden gemieden, weil es zur Strategie der Camorrafamilien und ihrer Handlanger gehört – sehr viele Kinder unterdessen -, auch solche Bekannten und Freunde mit hinzurichten. Hier nimmt das allgemeine Verbrechen die Gestalt eines Schicksals an, gegen das man sich tatsächlich nicht wehren kann, sondern dem man mit Erdulden entgegensieht – das ist quasi bereits “erblich” sozialisiert; das orientalische Insch’allah spielt mit hinein. Wo aber die Möglichkeit zu arbeiten besteht, wird sie nicht nur willig, sondern mit energischstem Willen ergriffen. Auch dies fiel schon Goethe auf. Wobei die Zeiten seit damals auch generell andere geworden sind; etwa ist die Vergiftung des kampanischen Bodens objektiv; auch die Bauern verlieren ihr Land. Wohin zieht man dann? In die Betonwüsten. Das füllt die industrielle Reservearmee zusätzlich auf.

      Noch ein Wort zur Ausbeutungsgesellschaft: Das ist Leistungsgesellschaft par excellence – sehr gut zu sehen an China, aber auch in Japan zu beobachten. Es ist Kapitalismus pur, sozusagen sein “Herz”, das aber nur mehr Pumpe, nicht metaphorisch auch Seele ist: ein losgelassener Wirtschaftsliberalismus. Beteiligt an der Camorra-Industrie sind nicht nur die kampanischen, calabrischen und sizilischen Familien, sondern ein Großteil des mittlerweile sogar weltweiten Handels, ja sogar Nationen: Schottland verdankt einen Teil seines wirtschaftlichen Aufschwungs canorranischen Investitionen und Unternehmungen dort, die meßbar aufs Bruttosozialprodukt durchgeschlagen haben.
      Perverserweise spielte die Camorra unter Mussolini, der sie völlig zerschlug, keine Rolle mehr; ihr Wiederaufstieg beginnt mit Einzug der Alliierten, wobei es besonders perfide ist, daß sie, in diesem Fall die USA, den Zugang von Süden her überhaupt nur über Lucky Luciano und seine sizilischen Mafia-Strukturen erhalten konnten und erhalten haben. Wenn wir nun an die Quatro Giornate di Napoli denken, in denen die Napoletaner sich selbst – als einzige Stadt Italiens – von den Faschisten befreiten, kommt einem Herlings Gedanke furchtbar wahr vor, demzufolge die nachfolgenden “Befreier”, um ein Volk fügsam zu machen, auch davor nicht zurückschrecken, ihnen die Pest einzuschleppen. Übrigens mußte ich, als ich Herlings Erzählung las, an AIDS denken. Und ich dachte daran, daß Bloch die verlorenen Bauernkriege als ein bleibendes Trauma der Deutschen interpretierte. Solch ein Trauma könnte auch sowohl der verlorene Aufstand Masaniellos (1647) als besonders darauf die hervorgebrochene Pest gewesen sein – für alle Zeiten eingebrannt.

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