So weich, so ernst – und doch so klar,
Wo durch den Dämmer brechen mag
Die Sonne weiß und sonderbar.
Ein wunderliches Zwielicht spielt
Beschaulich über Berg und Tal,
Und die Natur, lind abgekühlt,
Sie weint und lächelt allzumal!
Wie ein Kristall, von Flor umhängt,
Erglänzt geheimnisvoll die Luft,
Der Tag glimmt spärlich und bedrängt,
Wie Lampenschein in einer Gruft.
Die Hoffnung, das Verlorensein
Sind gleicher Stärke in mir wach;
Das Leben und die Todespein,
Sie ziehn auf meinem Herzen Schach.
Ich aber schaue innerlich
Still lächelnd zu in guter Ruh,
Und meine Seele rüstet sich
Ergebend ihrem Schicksal zu.
Gottfried Keller, 1846.
[Arbeitswohnung. Schubert, Klaviersonate c-moll.]
Es war >>>> der Cage-Abend, eine CAGE-Nacht eigentlich, in der ich das Bedürfnis spürte, Schubert zu hören, vor allem die Klaviersonaten. Anstatt auf Alfred Brendels unterdessen Referenz-Gesamteinspielung zuzugreifen, holte ich mir eine alte Cassette aus dem Regal, und die spielt jetzt. Für die anderen Sonaten wird es heute aber wohl doch Brendel werden, obwohl ich seinen stark-analytischen Zugriff nicht immer überzeugend finde; etwas Muskel sollte schon dran sein, nicht nur Gehirn. Es wird lustig werden, meine Kritik zu Hosokawas „Hanjo“ ausgerechnet mit Schubert zu überarbeiten.
Um sechs hoch, bin ich sofort schwimmen gefahren. Es regnet vor sich hin, da spar ich mir ein Naßlaufen, zumal ich mit dem Training sowieso wieder einen Ruhetag einlegen sollte. Als solcher gilt mir die eine Stunde Brustschwimmen, wiewohl ich eben, und erstaunte ziemlich, las, daß ein Stunde Schwimmen fast so viel Kalorien verbraucht wie eine Stunde laufen, nicht ganz, das Verhältnis liegt bei mir 620:880, übern Daumen, also bei zwei Dritteln. Während ich so zwischen den meist alten Leuten (den trainierenden Schnellschwimmern ist eine eigene Bahn abgesperrt) autoscootermäßig hin- und herkreuzte, entwickelte ich zum ersten Mal seit über einem Monat einen wirklichen Frühstücksappetit, und zwar exakt auf Graubrot und weichgekochtes Ei, nicht Brötchen, nicht Croissant, nein, Graubrot. Also holte ich mir ein paar Scheiben, die im Kühlschrank hoffentlich bis nach meiner Rückkehr „halten“ werden – denn mehr als eine Scheibe wollte ich nicht essen, bin auch tüchtig satt davon. Man glaubt ja auch das nicht: Eine solche Scheibe Graubrot gibt dem Körper Energie für, bei meiner Laufleistung, knapp anderthalb Kilometer forcierten Joggens. Ich bin unterdessen ziemlich bewandert in Körperwerten. Auf 71 kg, übrigens, runter. Das will ich jetzt stabilisieren und mich dann über Krafttraining wieder auf 75-76 hochbringen; aber das Ziel gilt erst für nach Italien, erstmal soll sich der Körper auf 70-72 einstellen.
Es ist ein stiller Regentag. Kellers schönes Gedicht lernte ich zuerst über Othmar Schoecks Lied-Vertonung kennen. Es fiel mir heute früh direkt beim Aufwachen ein. Und dann fiel mir ein, daß ich nachher zum Arzt gehen muß, um mich impfen zu lassen. Nämlich hat man mir erzählt, daß dies für eine Einreise nach Dschinnistan ebenso erforderlich ist wie das Visum, das ich freilich schon habe. Jedenfalls grassiere derzeit ein Virus dort, den ein versehentlich hereingelassener Realist mit eingeschleppt habe, und der verbreite sich wie ein Flächenbrand. Selbst Dschinnistan ist also nicht mehr gefeit, auch Sitara ist bedroht, am Funktionalismus einzugehen; plötzlich fingen da, wurde erzählt, sogar in abgelegensten Dörfern die Leute nach Zwecken und Mehrwert zu fragen an, verließen ihre Heimatregionen, um Cash zu machen, und fragten nach dort bis dato unbekannten „Effizienzen“, ja sogar das Wort von der Quote gehe neuerlich um und zerstöre die Balance, die sich dort Natur, Kultur und der bürgerliche, bzw. ländliche Alltag über, kann man sagen, Jahrhunderte bewahrt haben. Man merke das bereits an einer Veränderung des Klimas. Usw. Jedenfalls, um noch einreisen zu dürfen, brauche ich jetzt diese Impfung; eine Spritze gegen den Realismus: wer hätte geglaubt, daß es das gibt – und sogar als kassenärztliche Leistung. Schon allein deshalb will ich das nicht in den Wind schlagen. Den Termin hab ich noch gestern nachmittag ausgemacht: 15.30 Uhr heute nachmittag.
Als ich mir gestern bei Cage – hübsch: das Cagespielhaus:
Jetzt aber erstmal die gestern entworfenen zwei Kritiken fertigschreiben und überarbeiten und in Der Dschungel einstellen. Dann an den Cage.
Guten Morgen.
15.45 Uhr:
Immer noch Briefe und immer noch Schuberts Klaviermusik. Jetzt muß ich aber wirklich an die Kritiken. Aber für Heidelberg konzeptionieren wir gerade eine Fortsetzung der Lesungsform, die ich >>>> seinerzeit mit Ricarda Junge begonnen habe. Draußen gießt es und gießt es, piove come il dio lo manda, wie hunderfreundlich das Italienische sagt; wenn das morgen auch noch so sein wird, sollte ich dann vielleicht besser abermals schwimmen gehen, einfach, weil ich ansonsten die klitschnasse Laufschuhe mit in den Rucksack packen müßte; ich will ja auch durch Sitara dauerlaufen. Schwimm ich halt eine halbe Stunde länger; das Krafttraining läßt sich auch hier mit Hanteln und Körpergewicht absolvieren, obwohl das nicht ohne Bizarrerie ist, wenn man im engen Arbeitsraum zwischen Büchern, drei Tischen, der Anlage, dem Cello und dem Notenständer am Boden herumstemmt.
Hab mir sämtliche Gedichte des ziemlich guten, einst auch berühmten, doch unterdessen fast vergessenen Richard Dehmel auf den Kindle geladen. Sehr schön zum Beispiel das hier:
Hinterm kleinen Haus am kleinen Weiher,
dicht umdunkelt rings von Weidenruten,
breitet eine junge Pappel
ihre Zweige zu den tiefen Fluten.
Seltsam heimlich ist’s an diesem Orte;
schon als Knabe hab ich hier gesessen
und umschwiegen von den hohen Binsen
weinend so mein junges Leid vergessen.
Wieder starr‘ ich in das schwarze Wasser;
aber keine Thräne kann ich finden;
nur die Pappelzweige seh‘ ich winkend
dort sich spiegeln in den stillen Gründen.
Ach so: Hab die Spritze intus. War ein Riesending – na ja, bei d e r Verbreitung von Realismus -, ging aber schnell; es war fast, als saugte meine Vene den Schutzstoff an. „Da muß ich ja überhaupt nicht drücken“, bemerkte meine Ärztin und – es sah aber charmanter aus, als das Wort klingt – grinste. Dann wollte sie zum Essen eingeladen werden, was ich wegen der Reise auf den 4. oder 5. geschoben habe. „Na ja“, so wieder sie, „wenn Sie denn heil zurückkommen und man Sie also nicht als einen lebendigen Antikörper einfach dabehält.“ „Ich will ergründen alle Lust,/so tief ich dürften kann“, dehmelte ich… „… und stürbe ich daran“, schloß sie schlagfertig meinen inneren Zitatband und entließ mich aus der Praxis. Frauen wie diese machen mich benommen.
18.55 Uhr:
[Schubert, Trio d-moll.]
So, geschafft: Die Kritik >>>> steht drin. Nun an den Cage, aber vorher zur Familie hinüber durch das flußnasse Berlin: Flüsse vom Himmel.
Schön ausgeführt. Das mit dem Schwimmen… 🙂
Wie lange ich das Wort „Bluejeans“ nicht mehr gelesen habe! Süß.
(- Sie lassen sich spritzen gegen das Realitätsvirus? Ich hätte eher gedacht, dass Sie der Impfstoff wären)
@Frau Phyllis. Na ja, es gibt ja auch schwarze Jeans und gemusterte.
Wissen Sie, woher der Begriff „Jeans“ stammt? Er leitet sich von Genova, Genua, ab, wo auf Bestellung aus Nordamerika ein besonders reißfester Stoff hergestellt und dorthin dann exportiert wurde. Im Wege der Sprachverschleifung wurde dann aus dem italienischen“Genovese“ das englischsprachige „Jeans“.
Ich höre, Sie seien in Paris zur Zeit. Regnet’s da auch so?
Il ne pleut jamais à Paris.
Jamais. ..
Paris Nur gut, dass ich in Chartres bin.