INFEKTION! (2). Von Abstieg, ja Hinfall der Oper zu Formen der durchkomponierten Performance. Georges Aperghis’ „Récitations“ als ein, in Strenge und Freiheit des Spiels, vorzügliches Beispiel, Helmut Oehrings, indes, „Aschemond“ als eines für abgedroschenen Schwulst ODER Die Zukunft des Kunstwerks als Machwerk.

Fotografien: >>>> Monika Rittershaus.
Fotografie im Saal: ANH/iPhone.]




Hin- und herüberlegt habe ich, ob ich über >>>> „Aschemond“ überhaupt schreiben soll. Als wir am Mittwoch abend die zweite Vorstellung nach der Uraufführung verließen, kochte G., mein bester Freund, vor Ekel und kanalisierte ihn in Verachtung: „Das war die schlechteste Oper, die ich jemals gesehen habe“. Schon saßen wir in der Strandbar beisammen, um uns zu erholen. Er schimpfte und schimpfte. Denn in der Tat: Was einem da zugemutet wurde, ist nicht zu begreifen, dieses Ausmaß an Regression und Regressionssucht, Kitsch, Schwulst, hohlem Pathos, überdies einem – an Henry Purcell – Mißbrauch, der die ästhetische Vergewaltigung nicht nur streift, wenigstens aber – nimmt man die Oper als von Helmut Oehring geschrieben – einerseits gnadenlosem Plagiieren gleichkommt, anderseits einer Form von Leichenfledderei, über die bereits Karl Kraus schrieb, daß es für einen kleinen Menschen nicht wirklich leicht sei, einem großen auf den Kopf zu spucken, und zwar auch dann nicht, dies nun nicht mehr Kraus, wenn man an fremder Kopfhaut saugt, um vom Gehirn abzukriegen. Egal. Alle haben gejubelt; auch die Kritiken nachher.
Man fragt sich nur: wem zu? Denn wirklich, die Sängerinnen und Sänger waren großartig, desgleichen sämtliche Instrumentalisten, der Dirigent; auch die Bühne, imgrunde, stimmte, die Videoprojektionen stimmten, die Abläufe, die Regie – nur als das, was dieses Stück sein soll, ging es bis in den Selbstmord durch seine Peinlichkeit daneben. Und dies wahrscheinlich bereits als Konzept.

***

Doch damit will ich nicht beginnen, sondern mit der gestrigen Premiere der sehr viel bescheidener daherkommenden, tastenden, auslotenden >>>> „Récitations“ des gräcofranzösischen Komponisten Georges Aperghis in der proppevollen und extrem aufnahmebereiten Werkstatt des Schillertheaters- einem Raum, der für Experimente gemacht ist, weil er sich mit einfachsten Mitteln, gestern auch tatsächlich fast nur darstellerischen in jeden anderen Raum der Welt verwandeln läßt: unserer Innenwelten, aber auch der realen Gegenwart und beides zugleich.

Daß die Aufführung derart gelang, liegt nicht nur an der bewundernswerten Uta Buchheister, die stimmlich Extremes zu leisten hat, sondern auch und besonders an der Elisabeth Stöpplers, der es tatsächlich gelungen ist, aus dem quasi informell gebauten, scharf durchkonzipierten Musikmaterial eine bewegliche und bewegende, teils dem Absurden verschriebene, teils aber unmittelbar ins Empathische und in unaufgesetzte Emphase hinüberzubrechen, und dies unter Verwendung einfachster theatralischer Mittel bis hin zu einem geradezu schlagenden, wellenschlagenden nämlich, Spiel mit allem Rheingold der Welt.
Aperghis’ Stück betont in dieser Interpretation nicht nur das experimentelle Theater der 50er/60er Jahre, sondern übertritt bereits in sich selbst die Grenze von Performance, mimischer Darstellung, Clownerien, Verzweiflungen und Begeisterungen, ja selbst zum action painting. Damit ist das Stück noch völlig frei von – um dies im deutschen Mißverstehen des Begriffs zu schreiben: – „postmoderner“ Affirmation, die den Abend davor, also Oehrings Schwulststück, vielleicht am allerbesten charakterisiert und auch die Begeisterung, mit der es aufgenommen wurde. Nein, Asperghis ist, bei aller komödiantischen Lust, streng. Er läßt uns auf die Binnentöne hören, Binnenklänge, ganze Klanghöfe – dabei immer nur sehr kurz angesungen –, die als Musik eben auch Geräusche verstehen, auch solche, die durch die Gänge der Darstellerin erzeugt werden, durch die Absätze ihrer Schuhe auf dem hohl von ihnen klingenden Boden, oder allein durch ihr Atmen, dann wieder vermittels rhythmischem Fingerschnippen. Wobei es eine Meisterleistung für sich ist, vom französischen Text so in einen deutschen zu springen, daß sich Einzelne aus dem Publikum direkt ansprechen lassen. Was denen erstmal peinlich ist, klar, aber das gab sich gestern abend schnell, und spätestens, nachdem wir von unseren Sitzbänken aufstehen mußten, weil die Darstellerin sie verrücken wollte und das auch tat, und als wir dann wieder saßen – mit bisweilen ganz anderer Sicht, anderen Nachbarn – lösten wir uns und wurden zum Teil des Spiels. Wobei besonders spannend ist, daß in Stöpplers Auffassung das Publikum letztlich ebenso Teil des Interieurs ist wie der (mit blauer Farbe befüllte) Feuerlöscher, wie anfangs die immer wieder aus der Wand kippende Tür, wie die Längsstreben, die von der Decke herabkamen und ihrerseits Teil der Aktion wurden. Daraus spricht aber nicht nur karikierende oder sich zergrübelnde Spiellust, sondern – weil die Sängerin letztlich allein bliebt, denn die aktive Mitwirkmöglichkeit des Publikums ist scharf begrenzt – vor allem eines: Einsamkeit.

So eilt ihr denn auch niemand zuhilfe, wenn sie sich vermittels einer Starkstrom(!)kabels erhängen will und wirklich sich erhängt. Und die Alarmsignale gellen. Auch, daß diese Inszenierung zweidreimal elektronische Zuspielungen verwendet – deren Aura ließ Berios „Ommagio à Joyce“ von 1958/59 erinnern – sowie entfernte Schlagermusik, die für die „falsche Hoffnung von außen“, eine letztlich industrielle, steht, fügt sich in dieses Konzept nahtlos ein, selbst sollte Arpeghis’ Partitur, die ich nicht kenne, das nicht vorsehen: Récitations ist quasi-seriell puristisch. Aber fremde Klänge g e h ö r e n zur Realität einer Bühne, zu ihrem Material: sofort wahrzunehmen, als nach Einsatz einer Rauchmaschine – auch dieses inszeniert – ein Notfenster viertels aufgezogen wurde, um den Qualm wieder abziehen zu lassen, der aus dem Publikum eine ältere Dame veranlaßte, sich davonzumachen. Mit einem Mal hörten wir alle das Draußen, indem wir auf unser Drinnen konzentriert waren, das sich zu dieser Aktion auf dem Musiktheater zu verhalten lernen mußte. Dafür wurden wir mit einem der zugleich einfachsten wie märchenhaftesten Finales belohnt, das ich in der Oper überhaupt je erlebt habe.



RÉCITATIONS
von Georges Aperghis

Inszenierung Elisabeth Stöppler – Ausstattung Annika Haller
Dramaturgie Detlef Giese

Voix Seule Uta Buchheister



Womit wir wieder im Abend zuvor und bei meinem Freund G. wären, der da die schlechteste Oper, die er je gesehen, erlebt zu haben schimpfte. Das Perverse daran ist, nicht immer, aber oft, daß man dennoch klatschen muß – einfach, weil die Ausführenden so hervorragend sind. Das spricht nun aber besonders gegen das Stück, weil sehr gute Ausführende selbst klapprige Opern zum Leuchten bringen können, einen quasi auf die Schultern heben und über jede Peinlichkeit, jeden kompositorischen Fehler, jedes schiefe Happyend oder bizarr ausgedehnte Sterbeszenen hinwegtragen. Bei sehr guten Ausführenden akzeptieren wir – quasi eine Übereinkunft – noch die abstrusesten Handlungsverläufe. Und hier waren die Ausführenden nicht nur gut, sondern von absolutem Weltniveau, sei es Marlies Petersen, sei es der unfaßbar engelhaft singende Counter Bejun Mehta, sei’s Topi Lehtipuus Tenor, sei’s Roman Trekels sonore, ganze Räume öffnende Tiefklang. Nicht anders die wie immer ausgezeichnete Akademie für Alte Musik und die Mitglieder der Staatskapelle Berlin.

Wenn aber von deren virtuoser Gestaltungskraft zum Schluß nichts bleibt als das Gefühl, in eine obendrein versalzene fette Buttercremesüße getunkt worden zu sein, dann ist das entsetzlich – und um so entsetzlicher, als Kritik wie Publikum das nicht nur nicht gemerkt, sondern es als Wohltat empfunden zu haben scheinen. „Ich denke, du lehnst den Pop ab?“ zischelte mir während der Aufführung nicht nur ironisch, nein höhnisch der Freund zu. Da hatte ich aber längst in den Taschen die Fäuste geballt. Wären nicht die Purcell-Lieder, aus denen sich Oehrings Parasiten-Oper die Wirkung herausschmarotzt und für Eigenes ausgibt, derart schön vorgetragen worden, ich hätte das Haus nach der ersten halben der zweieinhalb Stunden verlassen, und es wäre mir ein Genuß gewesen, von ganz in der Mitte die Leute zum Aufstehen nötigen zu müssen, kurz: Unruhe in dieses weihevolle Pubertieren zu bringen. Wahrscheinlich hätte ich auch zum ersten Mal in meinem Leben im Opernhaus die Tür geschlagen. Meine Güte, die da vorne waren völlig nackt, aber hinterher jubelten alle dem Kleidermacher zu.
Dabei war billig schon der musikalische Auftakt: nach elektronischem Dräuen à la Geschichten aus der Gruselgruft ein Herzschlag unter alles gelegt – wie wenn man da die Absicht nicht bemerkte. Bemerkte man auch nicht. Dann schon, leicht verfremdet von Oehrings Instrumentation, der erste Purcell-Song, gefolgt von metaphysischem Seinwollen des Klangs und Stimme, bedeutungsschwanger, aus dem Off, mal wieder eine Anlehnung an Ligetis Requiem, dann, sagen wir mal, Psychodelickereien. Dazu eine Story, wie sie abgelatschter gar nicht sein kann. Mann um die fünfundvierzig kehrt in sein Heimathaus zurück, gerät an das Tagebuch seiner toten Mutter und erfährt nach und nach – indem er teils als Geist, teils als Kind-wieder-selbst Zeuge der Vergangenheit wird -, weshalb sich seine Mutter unmgebracht hat. Nun ja, das kann wirklich einen Grund gehabt haben, über den niemand je sprach. Aber was stellt sich heraus? Aus Liebeskummer und wegen eines Überdrusses an den von Trieben bestimmten Menschen und daran, daß sie Rituale des Alltags noch und noch wiederholen. Jesses, denkt man da, das soll dieser doch eigentlich reife Mensch nicht vorher schon gewußt haben? Wo ist da das Geheimnis? Was aber Helmut Oehring und Klaus Guth, der für die Texte mitverantwortliche Regisseur, daraus abziehen, ist eine Sehnsucht nach Regreß, die jeden erwachsenen Menschen kotzen lassen müßte, wäre es nicht so entsetzlich lächerlich.

Dazu gesellt sich obendrein eine extreme, als „edel“ und „verloren“ kaschierte Ablehnung von Sexualität, wie wir sie allenfalls von calvinistischen Sekten kennen oder, na gut, aus dem Biedermeier – hier um so schlimmer, als sie sich – abermals bedeutungsschwanger aus dem Off über die Szene gesprochen – an einem aus dem Zusammenhang gerissenen Shakespeare-Sonett bedient, das schamlos hochgemotzt ins Deutsche übersetzt wird, ohne auf Metrik und Metaphorik zu achten, ja sie zu mißachten, was den Text in ein moralinsäuerliches Rülpsen verwandelt, das als Botschaft daherkommt und wahrscheinlich der neuen zeitgenössischen Reinlichkeit – einer, die zugleich gerne foltert – ausgesprochen entgegenkommt:

Der Tod der Seele in schamloser Vergeudung
ist die Wirkung der Lust; und bis sie wirkt,
ist Lust meineidig, mörderisch, blutig, voll Schuld,
brutal, drastisch, roh, grausam, ohne Vertrauen.
Nicht länger genossen, geradewegs verschmäht.
Vorbei, gehetzte Vernunft, nicht mehr da,
vorbei, gehaßter Verstand, verschluckt wie ein Köder,
ausgelegt, um das Opfer verrückt zu machen.
Zuvor: versprochene Wonne, danach: ein Traum,
was überdies die letzten beiden Verse des Sonetts unterschlägt, im folgenden in Shakespeares Original:The expense of spirit in a waste of shame
Is lust in action; and till action, lust
Is perjured, murderous, bloody, full of blame,
Savage, extreme, rude, cruel, not to trust;
Enjoy’d no sooner but despised straight;
Past reason hunted; and no sooner had,
Past reason hated, as a swallowed bait,
On purpose laid to make the taker mad:
Mad in pursuit, and in possession so;
Had, having, and in quest to have, extreme;
A bliss in proof, and proved, a very woe;
Before, a joy proposed; behind, a dream.

(All this the world well knows; yet none knows well
To shun the heaven that leads men to this hell.)

Um Ihnen klarzumachen, mit welcher Verfälschung Oehring und Guth hier „arbeiten“, im folgenden Karl Kraus’ hinreißende Nachdichtung dieses Gedichtes:Wird Geist gewendet an den Plan der Lust,
sind Lust und Geist im Werk der Schmach verschwendet.
Kein Meineid, kein Verrat ist unbewußt,
nicht Mord dem Sinn, den jene Lockung blendet.

Doch sie verkürzt ihn. Denn in tollem Wagen
wird Lust Verlust und nichts verbleibt den Sinnen
als noch der Wunsch, sich fortan zu versagen
und niemals mehr von neuem zu gewinnen.

Wie Wahnwitz giert und allzu bald ersattet,
bevor das Unmaß der Erfüllung voll —
unselig, den die Seligkeit ermattet,
und den das Glück gleich einem Gift macht toll.

Wer wüßt’ es nicht, und würde nicht durch Gluten
des Himmels doch sich in die Hölle sputen!

Worauf es nämlich ankommt, Shakespeare wie Kraus, ist dieses „Wer wüßt’ es nicht“ – tja, der eigentlich erwachsene Erzählermann in dieser Oper weiß es offenbar n i c h t. Daß er so wenig gereift ist, macht es freilich schlüssig, daß er dann – ein furchtbar schmieriger Text – entwicklungsblöde ins Publikum spricht:Man hat mich als Kind auf ein Traumland konditioniert, auf Märchenköniginnen und kleine Prinzen mit Rosenbüschen, auf bissige Bären und ii-aa-Esel. Das schöne dunkelhaarige Kidn, das einem Sternenpfad folgend durch die Mitternachtshimmel fliegt, in der Filmdosenspule meiner Mutter – all das war mein Leben, als ich klein war.Wohlgemerkt, ein erwachsener Mann.Spüren, wie die zarte Haut sensibler Kinderfinger sich verdickt. Spüren, wie die Geschlechtsorgane laut nach dem – wie furchtbar!Fleisch rufen; und dann: Butter, Brot, Ehe, Sex.Allein schon die unterstellte Notwendigkeit einer Folge von Ehe und Sex – Ehe, klar, zuerst – macht deutlich, welch ein Regreß hier beschworen und dem Publikum manipulativ aufgedrückt werden soll.Warum zum Teufel wird man in diese glatte Erdbeern-mit-Sahne-Mutter-Gans-Welt hinein konditioniert, in diese Alice-in-Wonderland-Märchen, wenn man sowieso auf dem Folterrad landet.Ganz abgesehen davon, daß hier das Unheimliche von Carrolls Alice-Erzählung aufs Naive verdisneyt wird, ist zu fragen, was denn dieses Folterrad sei, das der Held der Oper beklage? Er soll erwachsen werden, endlich – d a s empfindet er als solches. Deshalb kriegen wir auch gleich den nächsten Quatsch auf die Ohren gedröhnt:
Ich will jemanden lieben, weil ich geliebt werden will. Vielleicht werfe ich mich mit der Angst des Hasen vor ein Auto, weil mich die Scheinwerfer erschrecken undMan beachte die Form der Conclusio:ich mich sicher fühle im dunklen, blicklosen Tod unter den Rädern.
Der Mann – und das Publikum offenbar mit ihm – will nicht lernen, mit Amibivalenzen umzugehen, flüchtet sich immer mehr hinter seine als Kind getragene Katzenmaske, deren trauriger Ausdruck unterschlägt, ebenfalls unterschlägt, daß Katzen Raubtiere sind, die gerne ihre Mäuse quälen.
Es sind Oehring und Guth selbst, die die Erdbeersahne verstreichen – darin nicht unähnlich >>>> Lars van Triers „Melancholia“, wo auch schon „Le Weltschmerz“ zur Begründung hinreichen sollte, daß alles untergehen müsse. Anstatt sich den Problemen zu stellen und wirkend einzugreifen, gegenzusteuern. Mein Gott, die Mutter hat aus Liebeskummer Selbstmord begangen. Das ist nicht schön, aber kommt vor. Wir hatten solche Anwandlungen alle, aber sehen wir zurück, begreifen wir daran unsere einstige Unreife. Auch hier kann Shakespeare uns einiges lehren – auch das Lachen, das dieser klebrigen Oper komplett abgeht und von dem Goethe geschrieben, es habe immer einen dunklen Grund. Tutto nel mondo è burla! ruft lachend der begreifende Falstaff aus, auch wenn der Spaß auf seine Kosten ging. Oehring aber will zu Werther zurück, und mit schlechteren Mitteln.
So auch die Regie. Wird jemand – wie die Mutter – hysterisch, verrenkt sie sich an der Wand oder windet sich spastisch am Boden; dazu dräuend die Musik. Hier wird eine Bühnensprache verwendet, von der Sloterdijk einmal sehr zu recht gesagt hat, die Hysterie sei das erfolgreichste Exportprodukt Europas, nämlich eines des Operngeschranzes. Was fürs 19. Jahrhundert freilich noch angehen mochte, wiewohl Mitursache für die dann folgenden Greuel, ist bereits für die zweite Hälfte des zwanzigsten, nach der Erfahrung dieser Greuel, schlichtweg inakzeptabel. Oehrings Oper ist politische Reaktion-pur, ein mit dem Zucker des Selbstmitleids überbackter musikantischer Wiener Kongreß, und entspricht exakt dem Kniefall unter den globale Kapitalismus mit all seinen schauderhaften Folgen. Während ich dies schreibe, soll eine deutsch-US-amerikanische Freihandelszone eingerichtet werden, die die EU quasi auf die USA erweitert, aber ohne daß Europäer dort dauerndes Lebensrecht hätten. Geschmiert wird das alles vom Pop – ich meine nicht den in seiner experimentellen Ausprägung, sondern die am Schlager orientierte billige Massenversion, deren Texte mit exakt derselben an einem sogenannten Einfachen ausgerichteten Verlogenheit daherkommen – , genau dem, da hatte mein Freund völlig recht, ist diese Oper zuzurechnen.
Wenn man sich jetzt die Musik an„sieht“, also insoweit sie von Oehring überhaupt stammt, dann handelt es sich um leichte Dekonstruktionen der Purcell-Lieder, von denen er aber alle Wirkung bezieht. Es tut den Liedern manchmal ganz gut, daß sie von Oehring aus der abgestandenen Hörgwohnheit herausgelöst werden; das bestreite ich nicht; aber so etwas ist mit allereinfachsten Mitteln zu bewerkstelligen und muß mit Komposition gar nichts zu tun haben. Es gab Meister dieses Fachs, Schnittke etwa, der dafür berühmt war, aber auch Berio, und auch bei Henze, in seinem „Tristan“ zum Beispiel, finden wir es: Stücke eines meisterhaften Synkretismus, mit dem ich durchaus sympathisiere – seine Gegner denunzieren ihn gerne als Eklektizismus –, ein Formspiel, das nicht nur Gesten übernimmt, sondern das „alte“ Material im Eigenen kompositorisch aufhebt. Wo Oehring so etwas gelingt, bleibt es aber seinerseits Zitat, etwa kurz vorm Ende der ersten halben Stunde im untergelegten Cembalo. Sogar die E-Gitarre ist aber zaghaft, fast, als müßte sie um Entschuldigung bitten; im übrigen bleibt es beim Auffächern der Klänge, einer Art Zerlegung, die allzu gern in ein Heavy Metal münden, von dem man, große Gutwilligkeit vorausgesetzt, sagen könnte, daß es von Stravinski herkommt.

Was aber alledies mit Shakespeare A Midsummer Night’s Dream zu tun haben soll, auf dem Purcells The Fairy Queen fußt, bleibt bis zum Ende unklar, ebenso wie der Versuch, die mythische und mystische Anderswelt der Naturgeister, die, weil eben Natur, auf Seiten der Triebe stehen, und zwar mit allem Witz, der sich denken läßt, mit dem griechischen Chor zu verbinden, der in der Antike der Erzähler und Kommentator des tragödisch Vorgeführten war. Diese Funktion kann er hier nicht haben, weil es ja Ulrich Matthes gibt, der außer seiner Bekanntheit gar keine Gelegenheit hat, etwas anderes zu mimen, als einen zunehmend regredierenden durch die Szenen irrenden Verwirrten, der schließlich noch grölend singen muß, um dem Geworfenen in ihm einen anderen Ausdruck als den eines unterentwickelten Menschen zu verleihen, der doch dringend nachreifen müßte, um die Diagnose psychoanalytisch auszudrücken. Wie sehr er sich dagegen sperrt, zeigt selbstverräterisch eine Szene des Schlußbilds, wo der altgewordene Onkel, der für die Tote nach wie vor Kerzen entzündet, ihn zu sich nehmen will: eben, damit er zu trauern lerne. Daß der Mann das ablehnt, ist in „Aschemond“, und auch nur vielleicht das, der einzige wahre Moment. Zwei Minuten Aufschuß von Wahrheit gegen einhundertfünfzig, die der Lüge huldigen. Die Elfenkönigin bleibt dabei im Hohlen stecken, selbst, würde man die Massen melancholischer Zuckerbäckerei hinwegschieben können. Wozu es eines ganzen Kettenräumers bedürfte.


AscheMOND oder The Fairy Queen
Oper von Helmut Oehring unter Verwendung von Musiken Henry Purcells.
Konzeption und Libretto von Stefanie Wördemann.
mit Texten von William Shakespeare, Heinrich Heine,
Adalbert Stifter und Helmut Oehring.
Inszenierung Claus Guth – Bühnenbild & Kostüme Christian Schmidt – Licht Olaf Freese
Choreographie Ramses Sigl – Video Kai Ehlers – Elektronik Torsten Ottersberg
Chor Eberhard Friedrich – Dramaturgie Konrad Kuhn & Jens Schroth

Marlis Petersen – Tanja Ariane Baumgartner – Bejun Mehta – Topi Lehtipuu
Roman Trekel – Ulrich Matthes – Uli Kirsch – Christina Schönfeld

E-Gitarre Jörg Wilkendorf – Solo-Gitarre & Banjo Daniel Göritz
Solo-Kontrabass – Matthias Bauer
Staatskapelle und Staatsopernchor Berlin, Johannes Kalitzke
Akademie für Alte Musik Berlin, Benjamin Bayl

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