Zur scharfen Ambivalenz des Neapel-Hörstücks. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 3. Juni 2013. Unterm Pflaster glimmt das Feuer (9).

7.59 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Verschlafen. Nach dem gestrigen >>>> Nachmittags, nun ja, -„Zusammenbruch“.

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Die Frage ist: Wie gehe ich das Neapel-Hörstück a n? Meine Liebe zu der Stadt ist weiterhin da, aber sie ist schwer verwundet, seit ich Savianos Bücher las; sie glüht nach wie vor, aber da sind Momente, wie tiefe Löcher auf Terrain, großen Verpuffens, auch ein schlechtes Gewissen über diese Liebe mit dabei, weil hinter allem oder fast allem, was mir gefiel, was mich aufjauchzen ließ und läßt, ein System des Ungeheuren Bestialischen stehen könnte und sehr wahrscheinlich steht, der Unterdrückung, der Erpressung, des Mordes, des Raubbaus an Land, der Zerstörung eines der herrlichsten Gebiete Europas durch Beton und Vergiftung, ja Kontaminierung ganzer Landstriche auf Jahre hinaus. Darum habe ich mich gestern entschlossen, den wirklich alten, quasi ewigen Topos der Hölle und des Paradieses wieder aufzunehmen, ja in den Titel des Stücks zu nehmen. Was ich erst n i c h t tun wollte, weil es mir zu sehr Klischee zu sein schien. Es ist aber keines, wenn auch aus nunmehr anderen Gründen als früher. Wobei >>>> Savianos Reportagen zeigen..

(Unterbrochen, weil wegen Vorbesprechung der Jugendweihe die Mutter meines Sohnes herkam.)

9.30 Uhr:
… wobei also seine Reportagen zeigen, wie geschlossen „das System“ ist, eigentlich sind es Systeme, die aber matrisch ineinanderhängen, wechselseitig dependent. Und wenn ich jetzt – in den letzten Aufsätzen dieses mutigen und immer noch sehr jungen Mannes – an seine Isoliertheit denke, die nicht nur eine des Raumes ist, incl. permanentem Polizeischutz, sondern auch eine psychische, weil selbstverständlich mit Schmutz auf ihn geworfen wird, als wäre e r das Unheil Neapels und seiner umgebenden Provinzen und nicht die Camorra – und wenn ich mir vorstelle, wie er selbst es beschreibt, daß die Todeskommandos, die „strafende“ Exekutionskommandos sind, oft erst Jahre, ja Jahrzehnte später zuschlagen, dann wird furchtbar deutlich, wie sein Durchhauen des allgemeinen Verschweigens quasi das eigene Todesurteil unterschrieben hat, dessen Vollstreckung aus Camorrasicht um so mehr abschreckende Wirkung entfalten wird, je später sie stattfindet. Besonders aufschlußreich ist zudem, wie eng Saviano das „System“ mit dem Wirtschaftsliberalismus prinzipiell verknüpft, daß wir hier sehr viel mehr über den Kapitalismus-an-sich, über seinen Grundcharakter erfahren, als wenn wir das Augenmerk „nur“ auf das legale Geschäftsleben richten, in das die Camorra-Unternehmen aber zugleich involviert sind: das „böse“ Geld wird verwendet, um – und zwar in großem internationalen Stil – auch „gute“ Geschäfte zu machen. Ganze Staatshaushalte – und (wirtschaftliche) Entwicklungen anderer Nationen, etwa Schottlands – werden hiervon mit-, wenn nicht sogar grundfinanziert. All dies, quasi, von dem damit verglichen kleinen Neapel und seiner Umgebung aus.
Ich k a n n nicht von meiner Liebe zu dieser Stadt erzählen, in der mir nach wie vor eigenen, gerne und ausgebig schwärmenden Art, ohne davon mitzuerzählen. Genau für diesen ambivalenten Prozeß muß ich eine Form finden, die, ohne das eine zu schmälern, das andere randscharf integriert. Solche harten Ambivalenzen werden aber nicht als angenehm empfunden; das wird ein Problem dieses Hörstücks sein. Ich will, daß das Glück mitgefühlt wird, das mich in Neapel immer überkommt, aber auch das Entsetzen, wenn man seinen Schleier auch nur ein paar Zentimeter lüpft. Zugleich ist dies exakt der Charakter des, ästhetisch betrachtet, Kitschs; auch das will ich im Hörstück gestalten. Die >>>> „Neomelodici“, an deren Weisen das einfache Volk hängt, sind dafür das im Wortsinn schlagendste Beispiel. Eingebettet dies alles in eine der reichsten Kulturgeschichten, die wir in Europa kennen, und auch in eine der verwirrendsten, widerstrebendsten Zeitgeschichten seit der Antike. Es wird deutlich, daß Neapel auf eine spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs entsetzende Weise seine Schlüsselrolle für Europa gar nie verloren hat; daran mitgewirkt hat, und zwar direkt, auch die NATO. Was könnte „besser“ dafür das Sinnbild sein als der durchaus nicht erloschene Vulkan, dessen erneuten – und dann kaum vorstellbar katastrophalen – Ausbruch die Wissenschaft längst erwartet? Wie friedlich er momentan „ruht“:

(Wovon Saviano erzählt, findet heute statt: Es ist unser aller direkte und eine allernahste Gegenwart:: in unmittelbarer Nachbarschaft. Schon, d a s sich klarzumachen, ist menschlich anstrengend – weil es auf unsere Verdrängungen einschlägt.)
Und dennoch liebe ich diese Stadt, und zwar heiß. Wie gehe ich damit um?

13.07 Uhr:
W a s ist es, das ich liebe?

(Der Anfang steht, heute am Nachmittag werde ich ihn in Der Dschungel einstellen, will erst noch ein bißchen weiterformen.)

>>>> Neapel-Hörstück 10
Neapel-Hörstück 8 <<<<

6 thoughts on “Zur scharfen Ambivalenz des Neapel-Hörstücks. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 3. Juni 2013. Unterm Pflaster glimmt das Feuer (9).

  1. (Unsere Angst ist b e g r ü n d e t. Darin liegt das Problem. Die Omertà zu brechen – oder sich anderswie nicht anzupassen – hat Konsequenzen, mitunter tödliche, mitunter “nur” solche der eigenen Ökonomie: Arbeitsplatzverlust oder sowieso Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Mobbing usw.; die Konsequenzen gehen auf unsere Kinder über. Es ist dies ein Problem in sämtlichen diktatorischen Staatssystemen, aber auch, wenngleich nicht von selber Radikalität, in demokratischen, die den Consensus favorisieren – die Matrix, in der wir als Module angeordnet werden sollen, damit der Betrieb ungestört läuft.
    Wir alle stehen geradezu täglich vor der Frage, ob wir, anstelle offen zu vertreten und auch zu tun, wovon wir überzeugt sind, nicht besser die Klappe halten, damit wir uns keine Nachteile einhandeln. Wenn uns die Frage lästig wird – ihr ständig ausgesetzt zu sein, macht nervös -, verdrängen wir sie und entwickeln uns selbst gar nicht mehr merkliche Mechanismen des sich Bückens.)

    1. Das@PHG wäre vermessen. Nicht größenwahnsinnig, dagegen hätte ich nichts. Vermessenheit aber ist peinlich.
      Ein Dante Neapolis’ kann nur ein Napuletano sein. Vielleicht gibt es ihn längst, aber es kennt ihn keiner oder kennt ihn noch nicht oder wird ihn niemals kennen.
      Mein Blick jedenfalls wird immer einer von außen sein. Das hat Vorteile, weil sich auch in ihm etwas Wahres begeben kann, das den Nahewohnenden vielleicht verschlossen ist und vielleicht sogar notwendigerweise; es hat aber auch etwas Uneigentliches, Herausgenommenes und damit Wohlfeiles, weil man selbst unter den Strukturen nicht leidet, die eben auch Neapel sind. Daher das Heikle meines Unternehmens. Ich könnte ja – niemand würde mir hierzulande dafür auf die Finger hauen, wahrscheinlich im Gegenteil eher – einfach nur meine Beglücktheiten schildern, nur das, was ich erlebe. Aber ich muß das, ohne es zu verraten aber, ins Verhältnis setzen. Genau das ist auch das “Geheimnis” guter phantastischer Literatur: daß sie immer auf einen geradezu ebenso naturalistischen wie sozialen Realismus bezogen ist. Anders wäre es billig: Reise-Entertainment.

    2. unverzeihlich “Neapel vom Meer aus zu sehen ist leicht.” W. Benjamin
      Das Glück des Reisenden und Fahrenden ist, dass er herantritt, ohne dabei zu ihnen überzutreten. Auch die spekulative Perspektive des Dichters ist von dieser in den Augen der anderen unverzeihlichen Art. Er mag auch involviert sein in das Hin und Her zwischen Etablierten und Aussenseitern, und alles ist ein Hin und Her zwischen Aussenseitern und Etablierten, er mag sogar unter jene geraten, die draussen auf dem Felde sind und sich lauter rote Löcher in den Bauch schießen; aber der Dichter erblickt noch im Geäste die Krähe: ach, sagt er dann zu ihr, wir sind ja ewig nur zwei Waisenkinder hier, ach sagt er dann zu ihr, wir sind ja ewig nur zwei Waisenkinder hier.-

    3. @tom zu Villon. Ich kenne den Benjamintext (von 1924) sehr wohl. Und Villons schöne Stadt Morah haben Sie mir soeben, und sehr klug das, in die Erinnerung zurückgebracht. Danke dafür.
      Auch die villonsche Wahrheit muß in dem Hörstück (das Wort in hegelschem Verständnis:) aufgehoben werden – und wird das auch, denke ich. Sofern >>>> mein Ansatz trägt. Es ist ja aber auch großes Wahres an Benjamins und Blochs gerade am Beispiel Neapels entwickeltem Begriff von der Porösität; nicht zuletzt ihretwegen wäre es so nötig, die Stadt zu befreien, aber zu allererst, selbstverständlich, der Menschen wegen. Damit das gelingt, müssen wir sie aber neu zu sehen lernen, was ein “altes Sehen” impliziert; dazu braucht es den Blick auch von außen. Wenn ich mit jemandem, zum Beispiel, der Berlin noch nicht kennt, durch die Stadt gehe, um ihm oder ihr etwas zu zeigen, dann wird sie oder er das, was ich ihr zeige, anders sehen als ich; und wie vertraut auch immer ich mit dem Gezeigten längst bin, ja gerade, weil ich es bin, kann ihr oder sein Blick mich am Gezeigten Neues lehren – und zwar “lehren” in dem Sinn, daß ich s t a u n e.
      Den napoletanischen Inhalt des Begriffs “Porösität” bestätigt übrigens aufs sinnlichste der napoletanische Schriftsteller >>>> La Capria.

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