[Arbeitswohnung.]
So richtig weiß ich nicht, was mit mir los ist: abermals verschlafen. Tatsächlich mußte mich die Löwin wecken, die um Viertel nach acht anrief, sondern läge ich wahrscheinlich noch immer im Bett und träumte. So ist es nämlich: Ich träume, träume und träume, und das so dicht unter des Wachseins Oberfläche, daß ich’s beim Aufwachen immer weiß. Aber schon nicht mehr, w a s ich denn träumte, sondern nur ein allerdings sehr helles Ungefähres, Verschwimmendes. Vielleicht sind es die siebzehn Jahre Anderswelt-Arbeit, die nunmehr in ihr Ende fließen, was mich so schlafleicht macht, so bereit zu schlafen. Denn ich habe, anders als sonst, nicht das geringste schlechte Gewissen, sondern fühle mich wohl dabei. Auch setze ich mich nach dem Aufstehen nicht wie üblich sofort an das Arbeitsjournal, sondern nehme mir erst einmal eine der anstehenden Arbeiten vor, heute die Hörstücke, die ich plane. Habe bis eben fünf Exposés in eine Email an meine WDR-Redakteurin geschrieben, wie aus der Hand hüpfend heraus. Beschwerend ist allein, daß ich jetzt gerade meinen letzten Cigarillo aus der Lederhülle zog; da ist dringend Nachschub zu besorgen. Aber ich muß ja eh zur Post.
Ich warte auf UFs Rückmeldung zu dem Zwölfjahreshalber: ob das so funktioniert, also auch für sich allein, als spannende, bzw. unterhaltsame Lektüre; als Beigabe zu dem Roman funktioniert es in jedem Fall. Wer wegen eines, zum Beispiel, unvertrauten Namens aus dem Fluß herausfallen könnte, muß jetzt nur nachblättern, und weil ich zu jedem Namen, bzw. Begriff eine kleine Geschichte erzähle, bzw. Zitate aus den Vorbüchern gestellt habe, ist das nicht so trocken wie bei einem puren Register. Meine Überlegung geht dahin, daß wir nach dem ersten Abschnitt des Nullgrunds, der ganz normal als Fließtext gedruckt wird, diesen zweiten, eben den Zwölfjahreshalber-Abschnitt in kleinerer Type zweispaltig setzen; danach folgt dann wieder der Fließtext. Auf diese Weise wäre der eingeschobene Abschnitt zwar deutlich als Teil des Romans erkennbar, aber doch auch von ihm getrennt, und wegen der Zweispaltigkeit müßte man nicht ewig blättern, sondern der Abschnitt fiele jeweils sofort ins Auge. Wichtig ist er vor allem für alle Leser:innen, die die ersten beiden Andersweltbücherr nicht kennen und erst mit Argo in den Erzählkosmos einsteigen – etwas übrigens, das völlig unseren Leben entspricht: Wenn wir jemanden Neues kennenlernen, steigen wir auch in dessen Leben mitten hinein, anstatt es erst chronologisch nachzuvollziehen. So auch – darüber sprachen die Löwin und ich intensiv vor drei Tagen – lernen wir eigentlich am besten; wir bezogen das auf die Erfahrung der Musik und ihrer Geschichte und unserer Hörgewohnheiten. Wenn ich Menschen etwas nahebringen will, wenn ich sie etwas lehre, dann vermeide ich deshalb das chronologische Vorgehen, sondern „patchworke“. Die Vermischung von Zeiten ist sehr viel organischer und darum le(be)ndiger als jeder Akademismus. Auch hier wieder die Neapelnähe: besetzen statt ausstellen, im Alten leben und es in ein Neues transformieren, statt ein Museum draus zu machen. Denn jedes Gemälde, das in einem Museum hängt, ist imgrunde verloren.
Heute vormittag erst ein paar Verse für den Epilog, dann fange ich mit dem Typoskript für das Neapel-Hörstück an.
Guten Morgen.
12.49 Uhr:
Was für >>>> ein Gefriemel! Jetzt frühstück ich erst mal was. Sò,.
Ich lese hier schon seit einigen Jahren und immer wieder auch – und durchaus gerne – Statements, die nicht meiner eigenen Meinung entsprechen.
Aber mit Verlaub:
Denn jedes Gemälde, das in einem Museum hängt, ist im Grunde verloren ?
Ob der unreflektierten Einseitigkeit dieser Aussage verschlägt es mir gerade die Sprache.
@Gast zu den Museen. Meine Stellungnahme ist durchaus nicht unreflektiert, sondern sie entspricht einem Empfinden, das ich nahezu jedesmal habe, wenn ich in ein Museum gehe (es gibt aber Ausnahmen, etwa das >>> MADRE oder das ebenfalls bereits mehrfach erwähnte museo Nitsch). Sehr oft werde ich von dem gar nicht „gewollten“, sondern gleichsam unmittelbaren, aber dann bleibenden Gefühl beschwert, über einen Friedhof zu gehen, der aber keine Grün, keine Organik, kein Nichtgeplantes kennt, sondern Vorschriften, Verbote, Berührungslosigkeit usw. Ich habe von diesem Empfinden schon oft gesprochen und oft darüber diskutiert, mit Freunden, mit Fremden. Und ich werde nie vergessen, wie lebendig ein großes Gemälde des 17. Jahrhunderts wirkte, wie nahe es zu einem sprach, das in der Privatwohnung eines mir bekannten Arztes hing und hoffentlich immer noch hängt: als wäre es dort, um sich täglich neu mit den Menschen, die es sehen, zu verständigen. Es darf dort auch altern, es darf dort auch mal ein Fingerabdruck drankommen – ja, es hat dort die Möglichkeit, Schaden zu nehmen. Was, um lebendig zu sein, grundlegend ist.
Sie mögen anderer Meinung sein als ich; das ist nichts Ungewöhnliches und völlig okay; aber „unreflektiert“ ist von Ihnen ganz sicher falsch gewählt.
Messe Sie da nicht mit zweierlei Maß? Ist Ihre Literatur denn auch tot, wenn sie zwischen Buchdeckeln ein von außen unberührbares, fixiertes Dasein fristet?
Und glauben Sie tatsächlich, dass ein Gemälde an Leben gewinnt, allein weil es angefasst werden kann?
Ich will gar nicht davon sprechen, was Sie dem Bild verwehren, wenn es sich nicht draußen in der Welt beweisen muss, wenn es allein im Privaten rezipiert wird, also zu einem mehr oder minder risikolosem Dasein verurteilt ist.
Da draußen, in Konfrontation mit Moden, mit unterschiedlichen Rezeptionsweisen, lauert doch die Gefahr, dort kann tatsächlich Beschädigung riskiert werden.
Ein Gemälde in Privatbesitz, als Teil einer privaten Lebenswelt, eines privaten Habitus, ist „gesichert“, wird niemals tatsächliche Ablehnung erfahren können.
Museen @Gast ff Ein Werk, das es in ein Museum geschafft hat, hat die Frage von Ablehnung oder Annahme längst hinter sich; es hängt eben deshalb im Museum, weil es längst angenommen worden i s t, und zwar sozusagen als Lehrstoff; es ist Kanon und als solcher verdinglicht. Und bitte, ich spreche nicht von Galerien, das ist wichtig zu unterscheiden – obwohl es auch Galerien gibt, in denen Bilder sterben, Galerien, in denen man nicht sie, sondern die Leute sieht, denen man sich zeigen und weil man zudem trinken will, was es umsonst gibt. Nein, in einem Museum, egal, wie die Moden laufen, ist eine Beschädigung gar nicht mehr möglich; sie wird von Versicherungen, Versicvherungsvorschriften usw. verhindert. Das Schlimmste, was ich in diese Zusammenhang einmal sah, war Antonellos wundervolle Viirgine annunziata in Palermo: Links und rechts neben der ja doch sehr kleinen Tafel standen, bewaffnet mit Maschinenpistolen, Soldaten.
Was nun die Bücher anbelangt, so ist ein Roman selbstverständlich tot, wenn er nicht gelesen wird, sondern nur im Bücherregal steht. In einem privaten „schmückt“ er immerhin noch, und wenn man seinen Blick über die Einbandrücken wandern läßt, lebt er auch immer wieder auf, als und in der Erinnerung. In einer Bibliothek ist eben das nicht der Fall, es sei denn, die Bücher werden stark frequentiert. Ja, wenn meine Literatur nicht gelesen wird, lebt sie nicht, jedenfalls nicht mehr, nachdem ich selbst gestorben sein werde. Für Literatur gilt sogar, daß sie ein Buch gar nicht braucht. Es reicht die Schrift als Erfaßte im Geist; deshalb kann Literatur im Netz wirklich geschehen; das Netz reibt von ihr die Verdinglichung ab oder den, wenn Sie so wollen, Fetisch. In einem Buch, das gelesen wird, wird sie allerdings materiell, was sehr sehr schön ist. Man kann sie sozusagen wirklich anfassen und Flecken auf ihr hinterlassen: Spuren.
Da sprechen Sie mir aus der Seele: „Die Vermischung von Zeiten ist sehr viel organischer und darum lendiger als jeder Akademismus“, wobei man ja das „lendig“ sicher nicht als ein Tippfehler zu sehen hat, selbst wenn es ein Tippfehler sein sollte!
„lendig“ ist extrem schön. Aber ich sollte es dennoch verbessern. Was ich ja mir einer ironischen Klammer, also mit zweien davon, tun kann – und jetzt getan h a b e.