Banale Morgenkämpfe und der künstlerische Umgang: Dokumente. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 25. Januar 2013. Abends Brittens Peter Grimes: Premiere an der Deutschen Oper zu Berlin.

4.50 Uhr:
[Arbeitswohnung. Pettersson, Sechzehnte.]
Diese Sechzehnte für Saxophon und Orchester ist Allan Petterssons gewiß seltsamste Sinfonie, weil der, ich kann es nicht anders ausdrücken, Bedeutungshof dieses bestimmten Instrumentes ein völlig anderer ist, als die Bedeutungshöfe „klassischer“ Instrumente sind, und zwar gerade, weil das Sax hier nicht als Orchesterfarbe, sondern solistisch führend einkomponiert ist; auch wenn Pettersson von einer Sinfonie spricht, handelt es sich viel eher um ein Konzert, das zudem eigenwillig frei in diesem Gesamtschaffen schwebt; auch in den Konzerten für Geige und dem für die Bratsche hat es nicht eigentlich eine Formklammer. Ich höre das Stück jetzt zum vierten Mal hintereinander, gestern zweimal, heute morgen schon zum zweiten Mal und versuche die Arbeit einer inneren Herstellung von Kontinuität. Ich erkenne die weiten, petterssontypischen Syntaxen, das Stück fügt sich dennoch nicht ein, weil immer etwas von Barkellern mitklingt, immer etwas von Neuer Welt in abendlichen Schummerphasen. Wirklich eigenwillig.
Pünktlich auf nach vier Stunden Schlafs; ich sprach mit dir: „Wenn du jetzt liegenbleibst, begibst du dich des Willens, den du im Wachsein bekundest, begibst dich deiner selbstgewählten Freiheit. Mache dir das klar.“ Das brauchte zweidrei Minuten, um zu mir durchzudringen, dem anderen Mir, das weiterliegen wollte, dahingestreckt und flüssig an den Fingern und den Zehen in das Bettzeug eingezogen, mit dem der ganze Körper morgens, in der eigenen Wärme nämlich, wie ein Eines atmet. Das Gegenteil von Haltung. Als mein Kopf das begriff, stand ich auf. Angenehm kalt im Zimmer, wegen das aufklaffenden Oberlichts: http://wetter.de behauptet draußen minus 12 Grad, auf minus 17 soll‘s noch gehen. Man bleibt da erstmal nackt und setzt sich aus, das gibt Leben in die Zellen, und erst, wenn das Oberlicht geschlossen ist, löst man die Muskelspannung, indem man in die Klamotten schlupft. Dann das Übliche: Die Computer einschalten, in der Küche, die Pavoni einschalten, sich weiter anziehen, dann den Ofen besorgen. Undsoweiter.
Schließlich die Programme und Aufruf des inneren Terminkalender: das vorerst letzte Interview nachher, hier bei mir, außerdem kommt der Schornsteinfeger und kontrolliert den Ofen. Es sind weitere Texte für das Hörstück umzuschreiben, auf Sprecher hinzuschreiben, dann sollte ich das bereits entworfene Typoskript ganz neu anlegen, neu strukturieren, einfach, weil jetzt das bislang vermißte Material da ist, an dem ich mich bei Hörstücken prinzipiell orientiere: aus ihm, nicht aus meiner inneren Vorstellung muß gestaltet werden, das Material führt, nicht die Absicht. Das ist m e i n e Art, mich dem Dokumentarischen zu nähern. Danach erst kann geformt werden. Trotzdem brauche ich für dieses Stück eine Arbeitsvorlage, schon wegen des Studiotermins am Sonntag vormittag, auch und gerade diejenigen Partien, die ich selbst einsprechen werde.

Am Abend >>>> wieder einmal Oper, Brittens berühmter, gewaltiger, inhaltlich hoch ambivalenter, weil moralisch im völlig Ungewissen bleibender Opernerstling Peter Grimes; darüber werde ich morgen schreiben; aber das wird ein unruhiger Tag werden, weil alle Zeit über Elternsprechtag an der Schule meines Jungen; meine Mutter, mit Bezug auf mich, nannte sowas früher „Großkampftag“; ich werde den Laptop mitnehmen, um zwischen den einzelnen Gesprächen weiterzuarbeiten und nicht Zeit durch Hin- und Herfahrn zwischen Schule und Arbeitswohnung zu vertun. Noch weiß ich nicht, wie die Gesprächstermine liegen.

[Pettersson, Sechzehnte. Abermals.
Zweiter Latte macchiato, zweite Morgenpfeife.]

14.45 Uhr:
[Pettersson, Zweites Violinkonzert (Erste Fassung).]
Espresso, tiefschwarz stark, nach dem Mittagsschlaf. Die Schornsteinfegerin >>> war da, und ich erzähle dort auch von einem Kingelstreich, muß aber jetzt gleich an mein Typoskript zurück. Fünfzehn einzeilige Seiten „stehen“ bereits. Ich habe wirklich sehr viel Material, das hab ich gar nicht gemerkt, wie wie viel längst zusammengekommen ist, so viel, daß ich alles gar nicht werde verwenden können und nun abermals, wie ich es liebe, aus der F ü l l e arbeiten kann. (Zu essen steht ein Fruchtsalat bereit, den ich mir selbst geschnitten; Nüsse dazu, Wal- und Haselnüsse, ferner Feigen, Datteln, Rosinen zu dem Apfel, der Birne und der Mandarine. Alles mit Honig angesetzt und einer Spur Salz und dem Saft einer Zitrone. Nachher kommen der ungesüßte Joghurt und Haferflocken drauf.)

UF schreibt mir, ich möge den Pettersson mal unterbrechen, weil Witold Lutosławski heute seinen einhundertsten Geburtstag habe. Doch bin ich, auch darin anders als das Feuilleton, Jubiläen nicht geneigt. Auch dann nicht, wenn ich einen Künstler schätze.

3 thoughts on “Banale Morgenkämpfe und der künstlerische Umgang: Dokumente. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 25. Januar 2013. Abends Brittens Peter Grimes: Premiere an der Deutschen Oper zu Berlin.

  1. Danke für Deinen Mut, dich so dem Leben, Schreiben, Lieben und Kämpfen gleichermaßen hinzugeben und dich so „anfühlbar“ zu machen.
    Auch gerade dieser Post – es kann so dahergesagt klingen – für diese Klarheit.
    Klarheit jenseits von Selbstzensur durch Scham, nachträgliche Ironie, Banalität oder Aussortiererei. In dieser Hinsicht ist das was du tust für mich im wahrsten Sinn des Wortes vorbildlich.
    Es kann Zeiten geben, da diese Dinge überlebenswichtig sind.

    1. Liebe Katja, wunderschön war es dann, als die Schornsteinfegerin, ja, eine Frau, hier in die Arbeitswohnung kam und sah, daß ich noch einen Kachelofen habe und gar nichts anderes, um zu heizen. „Das ist so eine schöne Wärme!“ rief sie aus, eine schmale, ja zierliche Person mit derselben Wärme in den Augen, die sie für diesen Ofen meinte, und wir kamen sofort überein, wo eine Frau, die mich besuche, sofort den ihr eigenen Platz finden würde, wie eine Kätzin nämlich direkt an den Kacheln dort, wo die Couch den Ofen berührt. Ein federleichtes Gespräch führten wir, sie immer den Zylinder auf dem Kopf und auf den Wangen Schmieren Rußes, der ihre Haut sehr dunkelte, aber schimmernd wie von Samt war.
      Sie trug, was einzutragen war, handschriftlich auf ein von ihr handschriftlich vorbereitetes Papier, auf das sie auch selbst den Grundriß dieses alten Hauskomplexes gezeichnet hatte, Vorherhaus, Seitenflügel, Quergebäude, die Lage des Gartenhauses mit allen drei Treppenhäusern, und handschriftlich zeichnete sie nun ebenfalls die mit eigenen Augen gesehene Lage der Kamine dazu.
      Schon gestern war ich von einem Handwerk fasziniert gewesen, vom Handwerk fast an sich, von Kennerschaft und Können, Wissen und Nähe zu den Dingen und der Art, mit der man sie anfaßt – nie ohne Achtung vor ihnen. Diese junge Frau, eine Meisterin längst, ganz ebenso. „Gleich könnte es etwas rumpeln“, sagte sie zum Abschied, und zum zweiten Mal reichte sie mir ihre Hand, „wenn wir auf dem Dach sind.“ Ein paar Tips noch hatte sie mir gegeben, wie ich den alten Ofen am besten pflege.
      Dann war sie fort, und ich setzte mich wieder ans Handwerk meiner eigenen Arbeit.

      Sehr herzliche Grüße,
      ANH

      P.S.
      Und soeben zog mich ein Klingelstreich aus meinem Texte: „Haben Sie den Winter gesehen?“ fragt die lebendige Mädchenstimme, die vor ausgelassener Frechheit hüpft. „Ja“, sage ich. „Wo ist er denn?“ fragt wieder sie. Ich: „Überall um euch herum.“ „Aber doch der Frühling nicht?“ „Nein, der nicht. Der ist grad verreist.“
      Jetzt wußten sie nicht weiter, es waren mehrere, klar, und sie lachten. Mit diesem Lachen ging der Klingelstreich zuende.

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