Rechtgläubigkeit und Verbrechen. Zu Schuldfrage und NieSühnbarkeit. Im Arbeitsjournal des Dienstags, dem 22. Januar 2013.

6.30 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Das Gerichtsvollzieher-Hörstück: >>>> Tonaufnahmen als Protokolle übertragen und bereits einzelne Clips auszeichnen. Erst mal.
Latte macchiato, Morgenpfeife.

Die Löwin um halb acht.

7.37 Uhr:
Nachdem gestern der Bildblog >>>> auf meinen Text hinwies, schossen die Zugriffe innert dreier Stunden um weitere Eintausend hinauf; schon faszinierend. Und selbstverständlich kam es zur Unterstellung, einer meiner Kommentatoren leugne den Holocaust; ich habe darauf >>>> vorhin reagiert. Es ist sehr bezeichnend, mit welcher Art „Argument“ nach wie vor versucht wird, gegnerische Ansichten mundtot zu machen, schlichtweg durch Denunziation. Ich spüre, daß hier ein Tabuthema wirkt, eine moralische Idee von Endgültigkeit, kurz: ein Götze oder Gott, je nach Perspektive. Aufklärung soll nicht sein, weil, so die Position, das höchstmögliche Böse erreicht sei; und so, als höchstmögliches Böses, soll es auch – unkritisch – betrachtet und, kann man sagen, negativ angebetet werden. Es ist dies, in der Tat, die Funktionsdynamik dogmatischer Religionen. Exakt so hat das Erbschuld-Ideologem gewirkt, das zudem einen Teil Schuld an dem Genozid trug: insofern die christlichen Kirchen die Meinung verbreiteten, „die“ Juden trügen die Schuld am Tod des Nazareners und dieses sei unsühnbar. Damit, genau damit, begann der Judenhaß als eine finstere Tradition quer durch das Mittelalter bis in die Neuzeit und in die Moderne. Es führte direkt nach Auschwitz.
Tabuisierung ist also das Thema, – eine, die nicht zulassen will, daß man genau anschaut, weil das Lästerung sei; die aber das Bild a l s Bild zugleich erhalten will: vor ihm seien wir für alle Zeiten schuldig, wobei dieses „wir“ nicht bestimmt wird, weil es auch gar nicht bestimmbar ist, jedenfalls nicht anders als durch eine Erbschaft, völkisch nämlich. Als Gäbe es ein Böses Gen, das sich in einem Volk von Individuum zu Individuum vererbt und in allen Individuen dieses Volkes.
Die dogmatischen Vertreter der moralischen Rechtgläubigkeit, auf deren Seite sich >>>> Ögyr positioniert hat, merken gar nicht, wie perfide sich in ihnen der Irrtum von Reinheit fortsetzt, sei es einer der Ideen, sei er einer von „Rassen“; in seiner Argumentationslinie wird das Ariertum perpetuiert; denn schuldig in seinem Sinn kann ja nur sein, wer „dazugehört“, und sei es als Enkelin und Enkel der Großväter und -mütter, die das Unrecht zu verantworten haben, das ich, weil es von solchen Dimensionen ist, meinerseits-religiös ein Unheil nennen will.
Interessant aber auch, wie geradezu sofort das eigentliche Thema – nämlich nachträgliche Verfälschung von Büchern zum Zwecke moralischer Correctness – auf das derart große und de facto nicht bewältigbare Thema des von Deutschen verübten Völkermords verschoben wird, und wie schnell es dann wieder um die Vergleichbarkeit oder Nichtvergleichbarkeit von Geschehen des Unheils geht. Psychoanalyisch vermute ich, daß der sich seiner Schuld „bewußte“ sich rein aus Notwehr mit dem Aggressor identifiziert hat, denn überhaupt kein nach 1945 Geborener trägt irgend eine Schuld an den Geschehen davor. Eben sie anzunehmen, wurde aber gefordert, und weil diese Art Schuld von keinem gesunden Menschen getragen werden kann, ohne daß er selbst krank wird, identifiziert er sich und besetzt die Schuld libidinös. Deshalb die oft radikale Verteidigung der Selbstschuld: Man möchte sein Liebesobjekt nicht verlieren. Teilt man es einvernehmlich mit anderen, wie Jesus etwa, ist man sogar in Gemeinden geborgen. Bestreitet jemand die Schuld – wohlgemerkt: nicht die Schuld der Deutschen vorher, die sich hätten auflehnen müssen, wobei auch das sehr theoretisch ist, weil keiner von uns weiß, wie wir selbst, anders sozialisiert, damals gewesen wären; auch Angst, und zwar berechtigte, hat eine große Rolle gespielt -, – bestreitet also jemand seine eigene Schuld an den Vorgängen der Vergangenheit, dann gefährdet das die Wärme der Gemeinde aller Schuldigen, in der man sich zuhause fühlt und die man „Deutschland“ zu nennen übereinkam. Die einen außerdem entlastet: man habe ja nicht mehr das Recht, irgendwo anders moralisch mitzusprechen, und eine weitere Ungeheuerlichkeit wie die in folgende und weiterfolgende Generationen hineinreichende Atomvernichtung von Hirsohima und Nagasaki wird gegenüber dem von „uns“ erreichten höchstmöglichen Bösen zu Marginalien der Weltgeschichte. Es sind diejenigen, die die Unvergleichbarkeit des Unheils vertreten – einen Verdinglichungsprozeß -, welche damit zugleich die, zum Beispiel, ethnischen Säuberungen in Schwarzarika mit all ihren entsetzlichen Auswüchsen zu etwas minder Furchtbarem machen; jeder abgehackte Kinderarm wird lächerlich gegenüber dem „wirklichen“ und absoluten Bösen von Auschwitz. Es ist diese Dynamik, gegen die ich aufstehe, und viele andere stehen dagegen mit mir auf; ich täte es aber auch alleine.
Nicht Bewältigung der Vergangenheit, sondern ihre Nichtbewältigung, ihre Nichtbewältigungbarkeit ist hier das Thema. Die Schuld ist zum Fetisch geworden, seine Befragung tabu. Daher die ganzen Aufgeregtheiten etwa im Fall Botho Strauss‘, aber auch Martin Walsers und – ja, auch Peter Handkes. Wie befreiend ist dagegen der Umgang der meisten heutigen Jugendlichen mit diesem Thema, >>>> wie bedrückend aber auch, weil ihr Umgang mit der Kultur, um die es geht, nicht mehr sehr viel zu tun hat, sondern der Kultur eines Staatenverbunds zugutekommt, der machtpolitisch das Erbe des Kolonialismus übernommen hat wie kein zweiter sonst in der Moderne und der es so auch unerbittlich fortsetzt. Das hat aber auch den Grund, daß in dieser Kultur, der US-amerikanischen, Widerstand noch möglich ist und auch stattfindet, während ein Widerstand gegen die vererbte Schuld – und damit ein Widerstand gegen eine Wiederholung solcher Schuld oder weitere, neue Schuld – moralisch untersagt wird. Da deshalb in unserer Kultur kein gutes, aufrechtes Leben möglich ist, emigrierte man in die andere Kultur, ganz so, wie vor Zeiten Menschen real ihre Heimatländer verließen und immer noch, heute, andere Menschen das tun, weil man daheim nicht länger überleben kann.

Dennoch werde ich mich jetzt wieder meinem Hörstück zuwenden und zuwenden müssen. Allein schon deshalb, weil ja auch ich leben können möchte.

21.19 Uhr:
Übertragung der O-Ton-Protokolle in ein Typoskript. Mühsame, zähe, auch ein bißchen nervende Arbeit. Zur Auflockerung fliegen Mail- und persönliche Botschafts-Schnipsel durch das Netz. Lieber hörte ich freilich Musik, was bei dieser Arbeit leider nicht geht. Dem Profi für die Bar heute abend habe ich abgesagt, weil ich die Tippzeit brauche. Für den Sonntag zwei Stunden Aufnahmetermin im ARD Hauptstadtstudio bekommen und bereits die ersten zwei Sprecher engangiert, nur für die Zitate, niemand hat wirklich lange Passagen, jeder wird je nach einer halben Stunde wieder heimkönnen. Den Hauptanteil des Stücks haben die O-Ton-Interviews, die ich nach ihrer Protokollierung, bzw,. Transkription je nach Bedarf und Notwendigkeit in kurze Einzeltakes zurechtschneiden werde; diese werden dann nach meinem üblichen Vorgehen im Stück collagiert werden, so daß sich schließlich ein Sprechteppich ergibt, der das Zeitbild zeigt, das mir nun bereits vor Augen ist.
Ein bißchen denke ich noch über die Musiken nach, die ich verwenden werde. Hübsch ist der Abgesang Collines auf seinen alten Mantel, den er ins Leihhaus bringt – dies allerdings, um für Mimi ein Geschenk kaufen zu können und nicht wegen der überfälligen Miete, die die vier Bohèmiens nicht zahlen können. Den kleinen Schummel erlaube ich mir, habe dafür auch einen netten Rocksong über einen Gerichtsvollzieher gefunden. Falls Sie weiteres wissen, her damit.
Eine halbe Stunde lang tippe ich noch, dann mach ich Schluß für heute und möchte mir >>>> „Beasts of the Southern Wild“ ansehen. Die Löwin hat mir den Film ans Herz gelegt, und solchem Pulsschlag folgt man.

7 thoughts on “Rechtgläubigkeit und Verbrechen. Zu Schuldfrage und NieSühnbarkeit. Im Arbeitsjournal des Dienstags, dem 22. Januar 2013.

    1. „Söhne und Töchter des Völkermords sind wir doch“. Um diese Zeile des von Ihnen verlinkten Gedichtes zu nehmen:
      Weder bin ich Sohn noch Tochter des Völkermords, sondern Sohn einer Krankenschwester und eines Vertreters für damals, glaube ich, Heizkörper. Der Völkermord ist keine Person, die Menschen zeugen kann, er ist überhaupt keine Person, sondern ein Geschehen. Wenn, dann bin ich allenfalls Enkel einer Generation, die am Völkermord mitgewirkt, aber auch sich gegen ihn verwahrt hat. Meine Großmutter saß als Widerstandskämpferin im Lager, mein um mehrere Ecken mit mir verwandter Großonkel war tätig an dem Grauen beteiligt, meine andere Großmutter ballte die Fäuste in den Taschen, wie Kästner tat, und schwieg. Wessen Schuld trage ich also nun?
      Töchter und Söhne – im weiten, mythischen Sinn von Nachkommen der Ahnen – des Völkermords sind wir beinahe überall auf der Welt; die Frage ist immer, wann hat der Völkermord, der gemeint ist, denn stattgefunden. Ihre Antwort ist für eine politische Arbeit wenig förderlich, im Gegenteil, es wird behindert, und die zeitliche Ferne oder Nähe ist ihrerseits, im übrigen, ein Vergleich, den Sie für einen Genozid nachvollziehbarerweise ablehnen.

      Nein, ich bin kein Sohn des Völkermords, und nach allen mir bekannten Gesetzen und Regularien des Menschenrechts wäre eine solche Anklage nicht einmal verhandlungsfähig, d.h. sie würde aus rechtsstaatlichen Gründen gar nicht zugelassen werden. Das ist gut so, im Interesse aller Kinder, die neu auf die Welt kommen und denen Sie aber die Chance von vornherein nehmen, freie und verantwortungsbewußte, mitleidende und sozial engagierte Personen zu werden. Das, Ögyr, ist ein furchtbares Unrecht, das Sie mit Ihrer Forderung begehen. Es ist selbst ein, mit einem Wort, Verbrechen. Eines an der Seele junger, gerade erst werdender Menschen.

      Aber selbst, wenn mein Vater ein Verbrecher gewesen wäre, ein versuchter Mörder, der nach der Vergewaltigung meiner Mutter gerade noch daran gehindert worden wäre, sie umzubringen, die mich aber trotzdem zur Welt brachte: wäre dann ich an dem Verbrechen meines Vaters schuldig bereits mit Geburt? Wäre es Unrecht meiner Mutter, mich auszutragen, anstatt mich abzutreiben, weil ich ja das Erbe meines verbrecherischen Vaters in mir trüge und dann ebenfalls, wie ein Gen, an meine eigenen Kinder weitergäbe? – Sie merken gar nicht, Ögyr, wie furchtbar Ihre Argumentation ist und daß sie letztlich den Rassegedanken, verbunden mit Reinheit – hier nämlich von Schuld – der Nationalsozialisten fortsetzt. So gesehen, haben Sie das Erbe tatsächlich angetreten. Welch eine perfide Dynamik, deren Opfer Sie in Ihrem Empfinden als Schuldbeladener nun werden, Sie schaffen sich die Schuld, und zwar eine, die in der Tat von Ihnen persönlich gesühnt werden muß.

    1. @Benjamin Stein. Da sind wir d’accord. Vergleiche lassen sich anstellen (:häßliches Idiom), aber immer nur in Hinsicht auf Bestimmtes, nicht etwa moralisch, weil das Moralische selbst keinequantifizierbare, das heißt: letztlich gar nicht normierbare Kategorie ist, noch das sein sollte. Man steht mit Abscheu und Entsetzen vor Auschwitz und steht ebenso mit Entsetzen und Abscheu vor Hieroshima, vor Ruadna, vor dem Sudan, vor dem Völkermord, auf den sich die USA gegründet hat, vor dem Genozid an Inkas und Mayas und immer so weiter und nie ein Ende. Genau das ist es, was die Fssungslosigkeit, die gegenüber dem industriell durchgeführten Völkermord des Dritten Reiches, nicht fassungslos bleiben lassen darf; denn Fassungslosigkeit ist Hilflosigkeit und Hilflosigkeit nicht geeignet, irgend eine Wiederholung irgend eines solchen Verbrechens zu verhindern.
      Ich habe gestern nacht lange mit dem Profi gesprochen, noch auf Straße, bis zu den Waden im Schnee, sprachen wir. Inkommensurabilität des je einzelnen Verbrechens. Wenn das Verbrechen dann seinerseits ideologisiert wird, wird die Hilflosigkeit, gegen die wir dringend anrennen müssen, und zwar vor allem in uns selbst, zementiert. Indirekt unterschobene Unterstellungen >>>> wie vorgestern abend gegenüber Aikmaier, tun genau das, und jede Form von Denkverbot tut es auch.

      In >>>> dieser Debatte funktionierte Godwin geradezu sofort, nachdem mein Text eingestellt worden war. Letztlich führte es von einer Entscheidungsfindung zum „eigentlichen“ Thema radikal weg.

  1. PC im Bett Ich rege mich über diesen PC-Blödsinn auch auf und finde es unerhört, bspw. an Twain herumzumachen. Sehr interessant ist das im Lichte der gerade von den Verlagen so heiß geführten Copyright-Debatte. Ein wesentlicher Teil des Rechtes des Künstlers besteht doch darin, nicht verfälscht zu werden. Aber Twains Copyright ist ja abgelaufen. Da sieht man die Beliebigkeit der Diskussion.

    PC hat in der Literatur genauso wenig verloren wie im Bett. (Nun spekuliere man mal, wie ich dieses „wenig“ bemesse, lach!)

    1. PC im Bett (nicht der Computer oder?) ist nur unerotisch, stört also „nur“ die je eigene sinnliche Erregung. Forderungen nach PC-überall ist aber schaurig – aus Gründen, die hier teils schon genannt wurden und auch anderwärts immer wieder genannt werden.

      Nein, ein westentlicher Bestandteil des Rechtes ist, daß bis siebzig Jahre nach Tod des Künstlers der Rechteinhaber entscheidet, ob verändert wird oder nicht. Die Brecht-Erben etwa können an seinem Werk umschreiben, was sie nur wollen. Wir kennen solche Fälle gut, um nur an Elisabeth Förster-Nietzsche zu denken. Es ist später eine irre philologische Arbeit, die „Urtexte“ wiederherzustellen; in der Musik kenne ich das am Fall Bruckners ganz, der sich ja ständig in seine Kompositionen hat hineinreden lassen. In heutigen Aufführungen kehrt man zu seinen eigentlichen kompositorischen Verfahren zurück. Beethoven wollte man die Dissonanzen aus der Dritten streichen; er hatte aber mehr Querkopf als Bruckner.

      Im übrigen, à la Urheberrecht, sind Übersetzungen betroffen, bei denen die Übersetzer:innen zustimmen müssen; siehe Pippi Langstrumpf. Es wäre interessant herauszubekommen, ob auch in Schweden an den Originalen verändert wird, oder ob da der alter Sprachgebrauch stehengeblieben ist und wie er denn, das schwedische Wort für „Neger“, seinerzeit konnotiert gewesen ist. Und was Preußler anbelangt, so habe er ja, dem Vernehmen nach, „nach jahrelangem Zögern“ zugestimmt. Nun ist er 93, und ich kann mir vorstellen, wie müde er schließlich klein beigab, vielleicht allein auf das Argument hin, man werde ansonsten seine Bücher nicht mehr ausliefern. Ein so alter Mann wird sich kaum noch auf die Suche nach einem neuen Verlag begeben wollen, allein schon der großen Müdigkeit halber, die Menschen gegen Ende ihres Lebens oft erfaßt.

    2. @Stein und Herbst. Ich habe Ihrer beider Dialog soeben >>>> dorthin verschoben, weil er m.E. dort- und nicht hierhin gehört; er führt zum eigentlichen Thema des dortigen Threads wieder zurück.

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