Material, das geschieht und sich selbst schreibt, also Konzepte. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 11. Dezember 2012.

4.42 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Latte macchiato, Morgenpfeife. Vier Stunden geschlafen, dann ziemlich problemlos aufgestanden. Heut muß einmal der Freund geweckt werden, brsma, der eine ziemlich weite Zugfahrt vor sich hat; er wollte die ganze Nacht durcharbeiten, als er gestern abend nach dem gemeinsamen Essen wieder ging. „Im ICE habe ich dann Zeit zu schlafen.“ Vorstellungsgespräch, Vorsingen, wie‘s genannt wird im Schein der akademischen Würden. Um sieben dann die Löwin. Bis dahin sofort an Argo ff, und danach wieder, damit ich durchkommen werde; morgen, eigentlich, will ich fertig werden.
Noch mit >>>> Stax Deutschland telefoniert, weil ich seit zwei Monaten nichts von der Reparatur meiner Kopfhörer gehört habe; das klärte sich dann schnell. Man setzt sich nun dabei. Teurer Spaß, aber nach achtundzwanzig Jahren darf das Gerät auch mal husten, zumal nur das mittlerweile völlig verknuddelte und an einer Stelle offensichtlich gebrochene Kabel gehustet hat, und die Innenbespannung hat sich aufgelöst. Dies also muß erneuert werden. Die eigentliche Technik ist nach wie vor in Ordnung. Wunderwerke, nicht nur des Frequenzgangs. Selbstverständlich wollte man mir Neuerungen verkaufen; aber ich war klug. Wonach ich allerdings schaute, war ein Röhrenverstärker. Doch rein realistisch: Ist finanziell nicht drin. Es gibt anderes, auf das ich achten muß. Nur daß der Accuphase wirklich überholt werden müßte. Mal sehen.
Um zwölf Uhr Fußpflege; bis dahin und danach nur Argo.
>>>> Chromò hat wieder geschrieben und die Maße ihres Halses mitgeteilt: sachlich, kühl, aristokratisch im Ton. Sie will einen Reif. Das ist ihre, nicht meine Idee: Wenn wir uns, nach so lange Zeit seit dem Libanon, wieder sehen, will sie, daß ich, bevor ich sie irgend etwas anderes tun lasse, ihr den Reif umlege und fest verschließe. „Dann erst werde ich tun, was Sie mir sagen. Alles.“ Und dazugesetzt: „Ohne einen Widerspruch und ohne irgend ein Zögern. Aber das ist meine,“ wörtlich: „Bedingung.“ Nähme ich ihr den Reif wieder ab, werde sie sofort erneut zur Fremden werden, „eines Ranges, von dem jemand wie Sie nur träumt“. Es sei also, wenn ich klug sei, geraten, einen Reif zu wählen, der sich nie mehr öffnen lasse. Solche geben es, sie habe sich erkundigt. „Oder werfen Sie einfach den Schlüssel weg. Das steht dann in Ihrem Belieben.“
Manche Roman schreiben sich von selbst. Sie geschehen.
Der aber ist noch nicht dran. Dennoch, ich sammle bereits, sammle es weiter, Material. Das werde ich ihr, Chromò, auf ihre Arroganz antworten. Man wird mir ihre Briefe sowieso nicht glauben. Weil sie überdies anonym sind, sozusagen, nichts als kombinierte Lettern, gehe ich nicht das Risiko eines neuen >>>> Prozesses ein. Das hatte ich ihr übrigens bereits mitgeteilt, daß ich Briefe, die sie schreibt, literarisch verwenden würde. Darauf sie, ein verkürztes Kafka-Zitat: „Briefe werden ausgetrunken. Sowieso.“ Wozu mir einfällt, daß ich heute nacht folgenden Satz träumte: „Dreck macht sauber.“ Ich wurde damit beworfen, wirklichem Dreck, war völlig verschmiert. Da sprach ihn jemand aus, von dem ich jetzt den Eindruck habe, daß es meine schon lange verstorbene Großmutter gewesen sei, die offensichtlich ziemlich lebendig in meine Traumszene trat. Aber ich bin mir nicht sicher. Wobei der Satz selbst, eigentlich, ein Devotensatz ist, nicht meiner, schon gar nicht auf mich anwendbar. Er hat aber etwas, da bin ich mir sicher, mit den Chromò-Briefen zu tun. Die kühle, selbständige, antilopenbeinig-hochgewachsene, stets geschmackvollst gekleidete und, ich bin‘s mir gewiß, so bewunderte wie begehrte Frouwe. So viel Männerangst um sie herum. Die, wahrscheinlich, ist sie leid.
Sie merken, es steht längst, mein Konzept.
Guten Morgen.

6.32 Uhr:
Das >>>> dort mußte ich eben vorziehen, auch als eine, sozusagen, Vorüberlegung zu meinem Essay für das Nachrichtenmagazin, der dringend zu schreiben ist; ich denke, daß ich übermorgen früh mit ihm anfangen kann. Keine Zeit für mein Thema könnte besser gewählt sein als die jetzige, in der aus Gründen der Wahrung von „Besitz“stand mit bewußt falschen Aussagen gegen „die“ Literatur im Netz agitiert wird – ebenso wie gegen den vorgeblichen Exhibitionismus angeblich rein privater, sich ausstelzender Klatschereien. Hier muß jemand an geeigneter – nämlich gehörter – Stelle das Wort erheben, und zwar einer, der zu keiner politischen Fraktion gehört, also nicht von Lobbies ins Feld geschickt wurde. – Ich werde erst einmal die Themenbereiche skizzieren, dann tatsächlich einen Strukturplan erstellen, bevor ich zu schreiben beginne.
Argo.

2 thoughts on “Material, das geschieht und sich selbst schreibt, also Konzepte. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 11. Dezember 2012.

  1. Auf offener Bühne. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. (146).

    Das literarisch eigentlich Interessante an Erzählungen wie der hierüber ist, daß niemand sich sicher sein kann, ob, bzw. bis zu welchem Anteil sie die Wiedergabe eines tatsächlichen Geschehens sind; genau das gibt ihnen, zusammen mit ihrer scheinbaren oder tatsächlichen Echtzeitigkeit, den Reiz und die Valenz. Was Sie lesen, könnte sich soeben tatsächlich begeben – oder auch nicht. Der Roman rückt sich näher an seine Leser:innen, als irgend ein Buch das könnte, das zumindest zeitlich Entfernungen aufmacht: was darinnen geschieht, das geschah, wenn es geschah; der Vorgang ist abgeschlossen, also vorüber. Wir sehen in ihn hinein. In einem literarischen Weblog schaut er aber zurück, auf derselben Höhe mit uns, als unmittelbarer Zeitgenosse. Das Moment der Übereinkunft von Schein löst sich auf, nicht völlig, aber doch an den Konturen, und langt direkt zu uns herüber. Literatur als paralleles Ereignis, über das es sich nicht es konsumierend erheben läßt.
    Es ist eine alte Tradition der Romankunst, die Erzählung so einzuführen, als wäre sie als real bezeugt. Im Roman des literarischen Weblogs bezeugt die Gegenwärtigkeit: etwa, daß ein Geschehen noch gar nicht zuende ist, sondern sich eben erst begibt oder zu begeben begonnen hat, und wir, die Leser:innen, können den Fortgang verfolgen, nicht durch ein Schlüsselloch, gewiß nicht, wir müssen uns nicht bücken; vielmehr auf der Bühne des Internets, ganz genau so, wie wir dort politische Erhebungen Unterdrückter mitverfolgen können. Hier ist der Vorhang ständig gehoben, und wir können nicht entscheiden, ob wirklich gestorben wird oder ob sich die Darsteller, nachdem ihr Beitrag eingestellt ist, noch auf ein Bier in der Kantine treffen. Genau dies ist sowohl der Vorzug als auch die Gefahr des Netzes.

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