Peixotos Magie. Im Arbeitsjournal des Freitags, den 27. Oktober 2017. Mit Uwe Dick, Marcus Braun und weiterhin Christopher Ecker, sowie mit einer Ungenannten.


[Arbeitswohnung, 7.18 Uhr
Dunkles Hallen von draußen. Durchs angelweite Oberfenster.]



Was ist an einem Buche gelegen, das uns
nicht einmal über alle Bücher hinwegträgt?

Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft



Peixoto Friedhof der Klaviere

Es gibt sie noch, die Erschauerungen – auch für hartgesottene Leser wie mich. Sie sind so unerwartet und grandios wie zugleich grausam, zumindest ungerecht. Denn soeben hatte ich Marcus Brauns wirklich elegant geschriebenen, auch raffinierten Roman >>>> Der letzte Buddha zuende gelesen und war auch schon daran, eine Rezension des Buches anzubieten, schaute aber erstmal nach nächster Lektüre – ich habe einiges von >>>> der Buchmesse mit in die Zauberkammer gebracht, meinem >>>> Wunderblock – da fand ich >>>> das da.
Ich schlug das Buch auf.
Schon daß der Prolog RESURRECTURIS heißt, der aber nicht von dem Dichter selbst stammt, sondern ein Evangelistentext ist – deutsch bezeichnenderweise nicht in Luthers Übertragung, sondern der der >>>> Einheitsübersetzung zitiert –, ließ mich momentlang stutzen. Wer wagt sich heute dergleichen noch? – Ein älterer Autor? Nachsehen. Im Gegenteil, 1978 geboren. Das wird ja wirklich spannend. Und danach auch noch als Motto ein Stück von Ishiguro – dahingesetzt wohlgemerkt, bevor er (zurecht!!) den Nobelpreis bekam –, und dann der erste Satz: „Als ich krank wurde, wußte ich gleich, daß ich sterben werde.” Da vergehen nicht viele Seiten, bis du begreifst, der dann auch wirklich Gestorbene erzählt die Geschichte – aber nicht etwa nur eine, die zurückliegt, die seine also, sondern auch das Künftige.
Und wie gleichsam „natürlich” das daherkommt! Diese Natürlichkeit entsteht durch die hochartifizielle Sprache, für deren Dichtheit wir Ilse Dick danken müssen, über die sich im Netz leider gar nichts findet, sonst würde ich hier sofort, aber sofort auf sie verlinken.

(Momentlang der Gedanke, ob es die Frau des in Deutschland vom Betrieb weggetretenen, doch nach wie vor rebellischen großen >>>> Uwe Dicks sein könnte; es entspräche seiner virtuosen Sprachkunst, sich eine Frau von selber Qualität an die Seite gebeten zu haben.
Doch mit Peixoto weiter:)

„Sie gingen in Marias Wohnung, und jeder verharrte verlassen in einem Winkel seines eigenen Leides.” — Verdammt, wer da nicht angefixt ist..!
„Es verging eine Stunde. Das Telefon klingelte erneut.
Ich war eben gestorben.”

Ich spreche von Ungerechtigkeit, hier der gegen Marcus Braun. Wie soll ich denn jetzt noch über ihn schreiben, derart benommen von dem, was auf die bisherigen Zitate noch folgte? Bis Seite 55 las ich in einem Zug durch, immer wieder durchschauert, immer wieder sprachlos… ja ich selbst: sprachlos angesichts solcher Sprache. Bücher wie dieses lassen jeden, der auch nur einen Gran Demut hat, am eignen Dichten zweifeln. Das wieder ist Gerechtigkeit, Gerechtigkeit gegenüber Braun. Mensch Marcus, ich krieg’s genauso ab wie Du…

„Meine Frau drehte sich zu mir um und sah mich allein da stehen, die Arme und Augen verwaist. Und ich wartete. Sah auf die Uhr. Morgen. Ein Morgen von der Länge eines Sommers. Der ganze Morgen.”
Wie sind wir, Freundin, profan geworden! Wie spüren wir’s bitter, wenn wir so etwas lesen! Kein Film kann das erreichen, diese Hand, die sich dir innen ums Herz legt und den Verstand dabei kitzelt, den Geist.
Nur noch eine Szene, bitte, auch die eine kurze:

An diesem Nachmittag hielten wir vor der plötzlich offenen Tür für einen Augenblick inne. Da drinnen war alles mit absoluter Finsternis bedeckt. Es war, als hätten wir eine Tür in die Nacht geöffnet. Vor uns, im Dunkel des Klavierfriedhofs, konnten sich von Nacht bedeckte Felder befinden, oder ein von Nacht bedeckter Fluß, oder eine ganze Stadt: im Schlaf oder tot: bedeckt von Nacht.
Achten Sie, Freundin, auf die Funktion der Kommata hier; sie sind nicht grammatisch gesetzt, sondern nach einem Klang, der zugleich Bedeutung ist, und zwar eigentlich jenseits sogar des Rhythmus. Das ist ungeheuerlich, zumal mit der ebenfalls nicht akzentuierenden oder erklärenden Verwendung der Doppelpunkte. Diese notieren vielmehr ein Ineinandergleiten der Bilder, sie schaffen eine Atmosphäre unscharfer Verschleifung. Vergessen wir doch nicht, daß ein Gestorbener erzählt, dem die Zeit selbst zum Kontinuum wurde.
Und während Marcus Braun in seinen kurzen, so klaren wie eleganten Sätzen eine vermutete Kriminalgeschichte erzählt, die politische Weltbedeutung hat, läßt Peixoto einfach einen Tischler sprechen, dessen Vater schon Tischler gewesen ist. Er beugt sich ins Kleine, nicht hoch zum Großen, und entfaltet dort die Größe, faltet Kleinstheit zum Größten auf, das wir kennen: so nahe geht er an die „Dinge” heran:

Die dreijährige Íris hat sich geschnitten und weint. Anfangs ist es wirklich Schmerz, das kleine Wesen ward von der Welt verwundet. Die Großmutter eilt herbei und lindert, lindert lange, sorgsam, tröstend. Dann dieser liebevolle Satz des, wie berichtet, schon toten Erzählers: „Mit zusammengepreßten Lippen und weit geöffneten Augen gibt Íris leise schmerzliche Schluchzer von sich, die schon nicht mehr ganz echt sind, und streckt ihre Hand noch weiter aus.” – Verstehen Sie, Freundin? Ich meine das die schon nicht mehr ganz echt sind. Wie genau also ist Peixoto selbst da, und wie nah an den Menschen!

Und was die Abfolge angeht. Selbstverständlich,: so möcht ich fast schreiben, hebt sich einem Gestorbenen die Chronologie auf: Was gestern war, geschieht erst heute, und was sich in Zukunft begeben mag, hat schon vor Jahren stattgefunden. Es ist ein angenehm warmes Wasser, ein Öl fast, in dem wir langsam versinken und atmen aber weiter durch Kiemen. >>>> Bestellen!

Und dennoch: >>>> Marcus Brauns Buch ist ebenfalls gut. Nur hat es mit uns, in uns, nicht viel zu tun, oder nur wenig. Er distanziert, Peixoto verschmilzt sich.

*

Es fällt schwer, in weltlichere Töne zurückzufinden, auch wenn sie – wie >>>> im heutigen Ecker – ihrerseits phantastische sind, indessen doch Peixotos letztlich völlig realistisch (einmal abgesehen vom Zustand seines Erzählers). Wir lernen daraus, Christopher Ecker lehrt es uns, daß wir sozusagen übernatürliche Begebnisse mit höchster Lakonie erzählen können, sich aber im, zum Beispiel, Glattschleifen eines Möbelbretts der Zustand des Kosmos erfahren läßt.
Bei Ecker tritt heute ein Zauberer auf, ein Bühnenzauberer, der aber dem Kapitän des Kreuzers, auf dem er mitfährt, unversehens zum >>>> Wanderer wird – noch bevor der es ahnt und wir es erleben. Das Geheimnis besteht hier wie in vielen anderen Stücken der Anderen Häfen in der Aussparung. Ecker setzt sie sogar als Pointe:



Indessen ich selbst, gestern, zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Gedanken spielte, mir Drogen zu besorgen – um endlich die Hemmung loszuwerden, die eine Szene zu schreiben, die in dem Ghostroman noch fehlt. Schließlich nahm ich Abstand von dem Gedanken, schrieb aber halt auch nichts. Ich werde heute neuerlich überlegen. Andererseits hat mich der Peixoto dermaßen berauscht, daß ich’s nun vielleicht auch einfach so schaffe. War heute morgen, gleich nach sechs, sogar fähig, einem großartigen Magazin drei der >>>> Béartgedichte anzubieten, war voller Elan und Zuversicht. Nur weil es eben geht, derart große Romane zu schreiben („groß” meint nicht notwendigerweise auch „lang”); weil es uns zeigt, nicht auf verlorenen Posten uns die Beine in den Bauch zu treten: eben nicht allein zu sein mit leeren Blicken vor der Schlacht, auf deren Feld wir wachehaltend vorausschaun. Und träumen aber im Stehen.

Freund M. war spät am Abend hier und brachte das geheilte Nettbückerl wieder; davor kam >>>> brsma vorbei und trank mich mit dem Wein schon mal ein. Davor wieder aß mein Sohn mit mir, im Geschlepp seinen Rapfreund. Es war ein to and fro (Joyce). | Und vor wiederum dem hatte ich eine angenehme Netzunterhaltung mit einer Autorin, deren im Eigenverlag erschienener Roman großen Erfolg hat, sogar die Filmrechte seien bereits verkauft, die aber zugleich – also die Autorin – wegen der, heißt es, „massenhaften” hartpornoprafischen Stellen in dem Buch heftig attackiert wurde und wird. Selbstverständlich fand dies mein Interesse, so daß wir nun Bücher getauscht, auf dem Postweg, haben. – Ich schreibe noch nicht, um wen es sich handelt, will erst lesen. Gefällt’s mir, werde ich verlinken.
(In ihrer fastletzten Nachricht nannte die Frau mich „unverschämt ehrlich”. Auch da, noch einmal, horchte ich auf. Ich bin halt, liebste Freundin, auf meinen inneren Unhold auch schon mal stolz.)

Und nun an die Szene, die ich seit Tagen meide – allein schon, um danach im Peixoto weiterlesen zu dürfen.

(Wenn ich die Eleganz Ihrer Finger besinne, verehrte gnädige Frau, ist’s mir doch ziemlich leid darum, daß der vollendete Handkuß sie niemals berührt.

Ihr)

ANH

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