Fließe Blut von den mondenen Füßen Von einer Lesung, die auch ein Gespräch war. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 18. Oktober 2012, das anfangs Bericht ist (oder, wie ich lieber sage, Erzählung, erzählt bei Trakl mit Winbeck im Ohr, welches unser Gehirn ist).

5.07 Uhr:
[Arbeitswohnung. Winbeck, Vierte Sinfonie „de profundis“:
Seltsam sind die nächtigen Pfade des Menschen. Da ich nachtwandelnd
an steinernen Zimmern hinging und es brannte in jedem ein stilles Lämp-
chen, ein kupferner Leuchter, und da ich frierend aufs Lager hinsank,
stand zu Häupten wieder der schwarze Schatten der Fremdlingin
und schweigend verbarg ich das Antlitz in den langsamen Händen.
Auch war am Fenster blau die Hyazinthe aufgeblüht und es trat auf
die Lippe des Odmenden das alte Gebet, sanken kristallne Tränen
geweint um die bittere Welt. In dieser Stunde war ich im Tod meines Vaters
der weiße Sohn.
(Trakl, >>>> Offenbarung und Untergang.)]


„Mit silbernen Sohlen stieg ich die dornigen Stufen hinab“: Trakl zum Latte macchiato und etwas, wie von Übernächtigung, trockenen Augen, und zur Morgenpfeife; dabei lag ich um Viertel vor eins schon im Bett, meine Güte, viereinhalb Stunden Schlaf müssen wirklich genügen.
*****

Wir finden die großen Dichtungen längst im Netz, man muß da nur schauen. >>>> Wolfgang Sternecks Litertur-Site, etwa, ist wirklich faszinierend:

Desgleichen >>>> Zenos, sowieso und seit langem. Literatursammler, Sammler von Philosophien, Sammler von Dichtungen.
Darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, aber als ich Winbecks Vierte einlegte und zu Anfang Trakls Prosagedicht hörte, wollte ich sitzenbleiben im Wort, nicht aufstehen und das Buch suchen, die Musik also nicht gleich wieder unterbrechen, sondern gab die Anfangszeilen bei forestle ein, das zu >>>> Ecosia wurde, von der ich wiederum von >>>> Znout erfuhr. Auch so, also, läßt sich das Netz gegen Monopolisierung und für die Erde verwenden. Man muß es sich nur klarmachen und nicht >>>> das Wort Banane durch den Begriff Google (um 7.23 Uhr im Link) ersetzen. Aber Sie haben ganz recht: Wir müssen glauben.
Doch von der Lesung wollte ich erzählen:*******

Anfangs dachte ich, meine Güte, es kommt niemand. Noch um acht waren kaum vier Leute da, die ich deshalb auch besser nicht zählte. Sozusagen konnten es auch fünf gewesen sein. Als wir eine Viertelstunde später begannen, ich war draußen hin- und hergeschritten und hatte noch mit der Löwin telefoniert, waren es über dreißig. „Hallo!“ rief die junge Dame, der die Garderobe anvertraut war. „Wollen Sie nicht kommen? Die Lesung fängt an!“
Ich sprintete durch die Nacht: es ist nach 20 Uhr nun immer schon dunkel. Da stand, drinnen im Salon des SodaClubs Johan de Blank schon sprechend zur Begrüßung. Ralf Schnells und mein Name wurden genannt, wir wurden auf die beiden auf einem Podest stehenden Ledersessel gebeten, zwischen uns das Tischchen mit der alten Bürolampe, metallen, schwarzer Schirm. So begrüßten wir uns gegenseitig, Schnell und ich, und stiegen in die Veranstaltung ein:

Tagsüber hatten wir sie in dreivier Emails vorstrukturiert: 45 Minuten wechselnd Lesung und Gespräch, das den ersten Block abschließen sollte; ich schloß mit einer Antwort: „So sind wir alle“, es ging um fließende Identitäten, mit denen wir in die Pause sozusagen flossen. In der weitergesprochen wurde. Schnell hatte mir gleich zu Anfang eins verpaßt, ich hatte reagiert. Er mag >>>> die Elegien nicht sonderlich, jedenfalls merkt man anderes nicht; mein Rückgriff auf den Hexameter ist ihm, vor allem in der Verbindung mit unsren Alltagswirklichkeiten, unheimlich; weshalb er um so mehr Anderswelt favorisiert, indessen ich behaupte, beides, der resolute Vorgriff in die elaborierteste Form und der Rückgriff in eine klassisch-antike gehören zusammen; dem näherte sich das Gespräch denn auch. Immer wieder. Aushalten von Widersprüchen und Widersprüche zum Formkriterium machen, indem man sie nicht dialektisch aufeinander bezieht, sondern ihre Interdependenzen schwingen läßt. Selbstverständlich kam die Frage nach dem Kern.

Es gebe nicht nur einen, antwortete ich, es gebe mehrere Kerne, gleichverwichtet: je nach Hinblick verändert sich die Hierarchie. Anzunehmen, daß es keine gäbe, ist aber ebenso falsch, weil das Entropie bedeuten würde, wir aber offensichtlich entropisch nicht sind. Sonst könnten wir nicht sprechen und wären auch nicht mehr am Leben. Nein, ich spreche nicht von Ausgleich, sondern von Wechselwirkung. – S o tief drangen wir in das Problemfeld, das ein Phänomenfeld ist, nicht ein, das wäre nicht gegangen, schon aus dramaturgischen Gründen nicht. Insofern bremste mich Schnell immer wieder mal aus, wenn ich abhob, zentralisierte seine Fragen zurück auf bestimmte, ihm wichtig erscheinende Punkte, bohrte, gab seinerseits Statements ab, erwiderte, positionierte sich selbst (kleine Diskussion über Realismus und den Wert sogenannter realistischer Literatur), dann, bei einer Vater-Sohn-Szene aus Argo, fast ärgerlich: ob das jetzt nicht meinerseits ein totaler Rückfall in die geradezu banale Konvention sei, gegen das von mir favorisierte „kybernetische“ Schreiben, also gegen die Vergegenwärtigung der Medialität-als-Realität gerichtet. Das jetzt bereits der zweite Teil des Abends, ebenfalls auf eine dreiviertel Stunde geplant. So ich: „Nein. Denn die Medialität i s t Realität, aber, daß wir am Frühstückstisch sitzen, a u c h.“ Mitten darin, plötzlich, von ihm: daß die Elegien, so gesehen, ein – kann man „letztmaliges“ sagen? – Aufnehmen und Beschwören des Körpers seien im Moment, da er zergehe? – Ich konnte momentan nur antworten, daß daran, an seiner These, etwas sei. „Manchmal weiß ich selbst nicht, warum ich etwas tue und was das ist. Meine poetologische Arbeit besteht darin, mir meine Arbeit später anzusehen, wenn sie nämlich schon getan ist“ und mir d a n n zu überlegen, was sie bedeute; danach, in der nächsten poetischen Arbeit, verfolge ich die Denklinien weiter; Sie könnten böswillig sagen: ich befolgte sie. Auch das wär legitim, Arnold Schönberg hat es so gehalten. Aber ich bin nicht Purist, sondern Synkretist, halte mich durchaus nicht immer an meine Regeln. Jetzt, heute früh, füge ich für Sie hinzu: der Rückbezug auf die klassischen Formen ebenso wie auf den Kitsch ist notwendig für poetisches Schreiben, denn auch die Herzen müssen berührt werden; wenn es nur noch um den Kopf geht, sind wir Replikanten geworden, von denen wir nun wirklich schon genügend haben Also las ich bestimmte Stellen aus dem Riesenprojekt, in denen auf je zweidrei Seiten geradezu traditionell erzählt wird, nach identifikatorischem Modell, aber hebe das immer wieder auf, so daß es zu dem gestern abend fast zentralen Verfließen der Personen kommt.
Wir blieben exakt in der morgens skizzierten Struktur. Auch wenn Fragen offenbleiben, es bleiben immer welche offen, ergibt sich so bis zum Ende für die Zuhörer Spannung. Die ist mir wichtig. Es geht mir in meiner Arbeit nicht um intellektuelle Lockendreherei auf der mathematischen Glatze. Sondern um Existenz. Ich trank den ganzen Abend über Milch. Nur zum Schluß, als wir alle noch beisammensaßen, erstmals sah ich auch >>>> Broßmanns vergleichsweise neue, unvergleichweise schöne Freundin, gönnte ich mir einen Tomatensaft; den Alkohol ersetzte sehr viel Pfeffer, was in der Tat eine gute Alternative ist.
Insgesamt lebhaftes Gespräch und ein perfekter Ralf Schnell, eloquent, gezielt, gleichzeitig faszinierender Gesprächsführer von großer, sich dabei im Mittelgrund haltender Präsenz, – meine Güte, der Mann war noch im Jetlag und zog mich dennoch immer wieder an den Füßen, wenn ich grad abhob, auf die Bretter des Podiums zurück. Ihm sei noch einmal sehr gedankt für seinen gewiß nicht einfachen Part, den er mit großer Souveränität und sehr zum Vorteil des Publikums erfüllt hat.

Nur der Buchverkauf war mies. Den ganzen vollen Rucksack voll wieder zurückgeschleppt. Den werd ich nachher auspacken und die Bücher in meine privaten Lagerstädten wieder forträumen müssen. Noch steht er quasi mitten im Zimmer.

Es soll aber erst ein wenig gearbeitet werden.

6.36 Uhr:
Noch einmal zu den Elegien:
Wir leben nicht in einer identischen Zeit, sondern in verschiedenen, gleichzeitig-ungleichzeitigen Zeiten; wir gehen mir kybernetischen Geräten selbstverständlich um und so, daß sie de facto funktionieren, ebenso mit unseren High-Tech-Herden und -Fortbewegungsmitteln; gleichzeitig reagiert unser Hirn wie vor Jahrhunderten und unser Gefühl – es ist darin, im Gehirn – wie vor einhundert/zweihundert Jahren. Das Gehirn erfaßt nicht, was es faßt, vielleicht noch nicht, vielleicht wird es das nie; ob, darüber können wir nur spekulieren. Doch in den Ausdruck der inneren Ungleichzeitigkeit, die n i c h t, meine ich, von einer historisch-ökonomischen rührt, sondern von anthropologischen (jedenfalls n o c h-)Kontanten gehören die Bereiche z u g l e i c h: die unserer Begehren, unserer Herzenswärme, sowie der Kühle unseres erkennenden Denkens. Noch klaffen die Bereiche weit, sehr weit mitunter, auseinander; eine moderne Poetik muß sie n i c h t harmonisieren, das eben nicht, sondern vermitteln und ihre Gleichzeitigkeiten spürbar machen, lesbar machen und dazu erst einmal g e s t a l t e n. Nicht weniger als das versuche ich. >>>> Laserpistole und Waffensack, Eros und Erkenntnis. Und: Mitleid mit dem Geschöpf, auch wenn wir es nicht mögen.

Sie können Thetis.Anderswelt auch >>>> bei mir direkt bestellen: 30 Euro inkl. Porto, und signiert. Noch hab ich Exemplare.

Guten Morgen. Von den stummen Technoparties und dem verschwundenen Menschen schreibe ich später am Tag. Erst einmal will ich an Argo, vorher noch mein DTs notieren.

12.40 Uhr:
Argo bei TS 666. Mit der Teufelszahl, der Zahl des Thiers, sind zwölf Seiten geschafft, anstrengende, teils. Meine Augen fallen zu. Ich bin seit beinah neun Stunden konzentriert. Dreimal dabei Winbecks Dritte gehört, zweimal die Vierte. Das klingt und klingt in mir nach.
Schlafen.

19.08 Uhr:
Ab 14 Uhr, als ich wieder aufwar, bis jetzt durchgearbeitet, nur zwischendurch ein bißchen mit meinem Sohn geplaudert, der und daß er jetzt ins neugegründete Schulorchester kommt. – Er legte sich, während ich tippte, auf die Cooch, deckte sich zu und fing zum bestimmt neunzehnten Mal eines der >>>> Tagebücher Gregs zu lesen an. Drüben bei der Mama liest er >>>> den mitgebrachten Green. „Magst nicht mal anderes?“ „Was denn, Papa?“ „Was hältst du von Jules Verne?“ „Hast du die geheimnisvolle Insel?“ „Ich glaube ja, aber dafür muß ich auf die Leiter. Muß ich aber eh für Verne.“ Der steht ganz oben unter der Decke in den Bücherregalen. Leiter geholt. Telefon. Die Löwin. „Kann ich zurückrufen? Bin grad auf der Leiter.“ Das Buch war nicht mehr da – wahrscheinlich zurückgeblieben wie so vieles >>>> in der alten Väter-WG, da im Keller. Irgendwann verlor ich den Schlüssel. Aber: „Der Stahlelefant, das wird dir Spaß machen.“ Den Staub von dem Bücherl geblasen.
Und er las.
Dann das Cello. Ich tippte längst schon wieder.

6 thoughts on “Fließe Blut von den mondenen Füßen Von einer Lesung, die auch ein Gespräch war. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 18. Oktober 2012, das anfangs Bericht ist (oder, wie ich lieber sage, Erzählung, erzählt bei Trakl mit Winbeck im Ohr, welches unser Gehirn ist).

  1. Das war gestern eine schöne und interessante Lesung und ein spannendes, ein wirkliches Gespräch dort auf der kleinen Bühne! So etwas wird einem nicht so oft geboten, wie man denken könnte, nicht einmal in Berlin.

    1. @Schlinkert zur Lesung. Ich denke auch, daß, schrieb ich gerade >>>> meiner Impresaria, “das ein für Publikum sehr gutes Format für Lesungen ist. Voraussetzung ist freilich, daß beide die Bücher, mindestens aber einander, sehr gut kennen, um die es an solchen Abenden geht”. Es war, nach Delf Schmidts nun alles andere als freiwilligen Absage, von riesigem Glück, daß >>>> Ralf Schnell überhaupt in Deutschland war und deshalb einspringen konnte und mochte.
      Mit >>>> Ricarda Junge in Wiesbaden habe ich zu dieser Art Lesungs-Format übrigens eine ähnliche Erfahrung gemacht; da wir dort auch, anders als gestern, öffentlich-privat sprachen, dauerte die Veranstaltung sogar zweieinhalb Stunden, inkl, Pause; die Leute ließen uns erzählen und erzählen (und natürlich auch lesen), ohne auch nur die Idee zu haben, unruhig zu werden. Dieses Format verknüpft, glaube ich, so etwas wie eine Talkshow mit tatsächlicher literarischer Präsentation; wegen des Wechselspiels von Frage, Antwort, Erzählung gibt man der Konzentrationskraft und dem Konzentrationswillen einiges Futter. Allerdings braucht man mindestens einen der beiden auf der Bühne, die oder der Erfahrung in der Gesprächsleitung und zugleich Leidenschaft für die Sache hat, um die es da geht.

    2. Der Veranstaltung mit Ricarda Junge konnte ich ja leider nicht beiwohnen, habe mir aber eben dies berichten lassen, daß es nämlich sehr gut gelaufen ist, was ja nicht zuletzt immer auch an den Reaktionen des Publikums abzulesen ist bzw. an dessen Aufmerksamkeit über längere Strecken. Gestern gefiel es mir auch ausnehmend gut, daß Ralf Schnell kritisch nachfragte und Sie Widerspruch äußerten, ohne auf das Publikum Rücksicht nehmen zu müssen, denn dort war wohl niemand, der sich nur den Abend einleitend versüßen lassen wollte.

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