Mit Maden in der Nacht vor diesem Arbeitsjournal des 16. Oktobers 2012, der ein Dienstag ist. Und den Meeren. Dazu ein bißchen vom Herzblut.

7.23 Uhr:
[Arbeitswohnung. Jarrett, Testament, Paris, Salle Pleyel 2008.]
Nein, ich muß mich nicht wundern, auch wenn ich‘s immer wieder tu: daß ich nach Unterbrechungen nicht früh am Morgen unter der Decke vorkomme; heute erst kurz vor sieben, obwohl ich bereits vor eins im Bett lag. Das ist nicht mal ärgerlich, aber ein Zeichen. Kein Alkohol nun mehr, einen Monat lang, Ramadan, meiner: in einem Monat werden wir den 16. November schreiben, da nehm ich dann den ersten Wein wieder. Bis dahin auch keine versteckten Alkohole, etwa in Speisen. Und vor Mitternacht zu Bett gehen. Ansonsten keine Exerzitien, sondern nur Argo. Fünfundzwanzig Seiten habe ich gestern geschafft, dafür auch bis 22 Uhr durchgearbeitet, unterbrochen von dem halben Mittagsschlaf. Halte ich das Pensum nur halbiert, werde ich pünktlich fertig werden: noch 255 Seiten der Zweiten Fassung liegen vor mir, die Dritte hat bislang sechzig Seiten mehr. Das liegt daran, daß ich bei der handschriftlichen Überarbeitung so viel hinzugeschrieben habe. Obwohl ich auch gestrichen habe. Manche Anschlüsse müssen deshalb völlig neu gefaßt werden, und Erklärungen kommen hinzu.
Jedenfalls war es zehn, und ich wollte mal was essen; da auch erst gab es Wein. Holte also den Käse aus dem Kühlschrank, in dem er für meine Messe-Abwesenheit gelegen, indes ich ihn sonst ja immer draußen lasse, zwar abgedeckt, aber draußen. Ich entferne das Frapan (das, übrigens, sprachlich dem „Tempo“ und dem „Fön“ entspricht: Firmennamen werden zu Gattungsnamen, was Chiquita mal direkt zu erreichen versucht hat: „Vergessen Sie den Namen Banane, sagen Sie Chiquita“ lautete in meinen jungen Jahren ein Werbeslogan; im Fall von Frapan hat das die Firma überlebt, im Fall von „Fön“ desgleichen) – also entferne das Frapan, der Geruch schlägt mir hart entgegen, und alles – wimmelt. Weiße Maden mit schwarzen Punkten an den Köpfchen, selig vor Fraß, sie müßten sich gar nicht bewegen, so quillt ihnen das Essen in die, sagt man das?, Mäulchen, und deshalb bewegen sie sich halt doch, vor lauter Seligkeit.
Ich sah das sprachlos an und kratzte den flüssigen Käse mitsamt seiner Verdauungswohnschaft dann ins Klo, meinen kleinen, wirklich nur kleinen Ekel wohlbesonnen unterhalb der Kehle haltend. Nüchtern das Tongefäß mit kochend heißem Wasser füllend, mehrmals, Reinigungsmittel darauf. So daß ich nachts von Maden träumt, daß sie über den Klorand, sich irgendwie, doch exponentiell, vermehrend, quollen und die Wohnung in Beschlag nahmen, das heißt: darin die Lebensmittel, zu denen, wie ich dachte, ich selbst ganz ebenso gehörte. Die Nähe von Maden, so träumte mir das als Gedanke, zeige die Nähe des Teufels an, jedenfalls, wenn man an John Carpenter denkt; was auch jenseits des Horrorgenres einen Sinn ergibt, da der Schreiner auch für den Sargbau tätig. Hieraus, verbunden mit einem, sagen wir: basalen Kopfschmerz, folgte nach dem Aufstehn mein Entschluß, stehenden Fußes meinen Ramadan einzuleiten.
Es gibt mal wieder „Haßnummern“ in Der Dschungel; momentan lösche ich sowas, aber nachher bedaure ich das immer, weil solche Kommentare die auch außerhalb des Netzes wirkenden Struktur offenbaren; dieses ist ja nur ein Spiegel. Andererseits tut es mir weh, wenn ich sie lese; weshalb soll ich mich dem aussetzen? Ich muß meine Energie auf anderes bündeln. Zum Beispiel auf die Lesung übermorgen, die ich hier annoncieren will, sowie das Arbeitsjournal geschrieben und die Löwin aus dem Wiener Bett geweckt ist.

David >>>> Ramirers Musikbearbeitungen, am Computer entstanden, denke ich, haben mich wieder auf den alten Jarrett gebracht, den, der sich melodisch verweigert, der streng geworden ist und auch keinen Unfug aus dem Publikum mehr erträgt, weshalb es in Frankfurtmain, vor zwei Jahren, glaube ich, zum Eklat gekommen ist: er beschimpfte es vom Podium herunter, weil man unten nicht still war. Mir gefällt so etwas, weil ich‘s verstehe. Ich habe auch Achtung, große, davor. Keinen Quatsch mehr ertragen zu können.

Bißchen viel Tod aber: Jarretts Konzerte heißen „Testament“, ich denke über ein Sterbebuch nach, für >>>> Mare, und diese Maden. Um das See- und Sterbebuch aber zu schreiben, muß ich leben. Darin liegt eine liebevolle Ironie – auch darin, daß Argo mit der See endet und das Sterbebuch auf ihr beginnen und für allezeit drauf fahren wird; nur seine Protagonisten werden gehen, andere werden kommen, auch die wieder gehen, und wieder werden andere kommen. Und alle, immer, um zu gehen.
Guten Morgen.

8.02 Uhr:
Sie brauche noch eine halbe Stunde, „bitte“, so laß ich sie bis halb neun schlafen und trage eben, bevor ich mir den zweiten Latte macchiato bereits, etwas nach: daß mir mein pickender Troll, der gelöschte, mal wieder vorwarf, ich wolle ja immer nur – so schrieb er das auch, in Großbuchstaben – GROSSE KUNST machen; man solle sich Umarmungen sparen, die mir Penelope, eine bekanntermaßen hochtreue Frau, >>>> angeboten hatte; sie seien verschwendet an einen wie mich. Nun bekommt man Umarmungen immer umsonst, ansonsten sind sie Geldgeschäft, und frei und von Herzen, für gar nichts, sozusagen, als daß man ist und wie man ist. In ihnen gleichen sich Trost und Begehren. Zum anderen, und da liegt der Hauptirrtum: nicht ich will Große Kunst machen, sondern sie – hat mich sich ausgesucht; sie will durch mich hindurch und hinaus, durch mich und gar nicht wenig andere von unsrer Art, eine jede und ein jeder für ein spezielles Segment, sagen wir: für eine spezielle Sprache, die nur je wir einzelnen ihr geben können. Und darauf nun, ob wir wollen oder nicht, sind wir verpflichtet: dies mit allem Herzblut zu tun, das wir haben, wo auch immer hindurch es gerade gepumpt wird.

10.07 Uhr:
[Jarrett, Testament, London, Royal Festival Hall 2008.]
Jetzt habe ich lange Zeit >>>> damit zugebracht, der Ankündigung für meine Lesung morgen abend, auf der ich mich auch unterhalten werde, nämlich mit Delf Schmidt; auch waren noch elektronische Briefe zu versenden. So daß ich nun erst an Argo komme. Das paßt, weil soeben die Sonne zu scheinen begonnen hat. Gleichzeitig ein >>>> Dialog zu Jarrett. Daß ausgerechnet ich über Burnout schreibe! – Komischer Kopfschmerz. Was will ich nicht denken? (Aber er geht, spüre ich, von den Augen aus. Was will ich, also, nicht sehen?)

12.52 Uhr:
[Jarrett, >>>> Radiance.]
So, Argo TS 609 Mitte. Auf fünfzehn Seiten werde ich wahrscheinlich heute kommen, auch wenn ich um 17 Uhr auf einem Elternabend sein muß. Aber auch heute will ich bis 22 Uhr weiterarbeiten.
Jetzt allerdings brauche ich meinen Mittagsschlaf.

Dr. No hat seine Thetis-Gespräche >>>> fortgesetzt.
Und >>>> für morgen kündigen jetzt dauernd gute Menschen ihr Dabeiseinwollen an.

21.44 Uhr:
[Heinz Winbeck, Fünfte Sinfonie.]
So, bis eben durchgearbeitet, bis S. 631, das heißt, daß ich tatsächlich einunddreißig Seiten übertragen habe, obwohl ich nachmittags auf dem Elterntreffen war. Angenehm war es da gewesen; die Schüler üben ein Theaterstück ein, dessen Premiere direkt vor den Osterferien stattfinden wird. Moliere oder Das Fräulein v. Scudery oder noch etwas anderes. Für alles Erdenkliche ist Elternhilfe gefordert: von den Kostümen übers Licht bis zum Bühnenbau, Presse, Programmheft usw.

Ich höre mit Argo jetzt auf, weil der letzte Teil des Romanes beginnt, NEBELKAMMER steht, allein mit der IV auf der Seite.

4 thoughts on “Mit Maden in der Nacht vor diesem Arbeitsjournal des 16. Oktobers 2012, der ein Dienstag ist. Und den Meeren. Dazu ein bißchen vom Herzblut.

    1. @brsma. Ganz offenbar. Da reißelt das Runmpelstilzchen der sogenannten Linken an seinem Bein herum und ruft: “Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich klein und Bürger heiß!” Dann schäumt’s, wenn’s jemand mitbekommt, und reißt die Kunst sich aus.

  1. “hat mich sich ausgesucht” “nicht ich will Große Kunst machen, sondern sie – hat mich sich ausgesucht; sie will durch mich hindurch und hinaus, durch mich und gar nicht wenig andere von unsrer Art, eine jede und ein jeder für ein spezielles Segment, sagen wir: für eine spezielle Sprache, die nur je wir einzelnen ihr geben können. Und darauf nun, ob wir wollen oder nicht, sind wir verpflichtet: dies mit allem Herzblut zu tun, das wir haben, wo auch immer hindurch es gerade gepumpt wird.”
    Das ist so treffend ausgedrückt. Wer das schon mal erlebt hat, daß “die Aufgabe” sich uns aussucht, und wir sie dann einfach ausführen müssen (egal auf welchem Gebiet), versteht genau, was Sie meinen.

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