[Arbeitswohnung, zweiter Ramadan. David Ramirer, srjapfloater, Opening the Flow.]
Hab mich verliebt in die Folge dieser kleinen Musikstücke nach Srjabin, die meditativ wie ein Nachregen sind, der von einer Dachrinne herunter auf einen hellen metallenen Gegenstand tropft, dessen Innres hohl ist wie eine Trommel: daher die Resonanz. Anders als >>>> Winbecks Melodik, die uns aus den Harmonien der späten Romantik anweht, immer auch Nachklang, doch unmittelbar, darin Pettersson vergleichbar, Schmerz, der zu Kopf steigt und sich als Klanggemälde verarbeitet, indem er sich darin auflöst – auf diese Weise im alten Sinn >>>> reinigend, das Herz, Gemüth, die Leidenschaft – , geht, fühle ich, bei Ramirer die Bewegung anders herum: steigt vom Kopf hinab ins Herz; die Reinigung geschah zuvor, danach wird empfunden, während für Winbeck die Reinigung durch das Kunstwerk hindurch geschieht, also ihr Ergebnis ist, steht sie bei Ramirer voran. Das macht den Glasklang aus, als gingen wir um einen schönen Gegenstand herum, der auch für sich alleine glänzte, ganz ohne uns. Winbecks Sinfonik hingegen ist wir: geht von innen nach außen, begibt sich erst im Hören. Beide, ihn und Ramirer, verbindet, daß wir, um ihre Musik zu ‚verstehen‘, ein wenig gefühlte Kenntnis haben müssen; Winbecks Fünfte, etwa, läßt sich nur erfassen, wenn wir, sowieso, Bruckners Sinfonien kennen, aber auch Wagner gehört haben und Mahler, intensiv genug gehört, um Themen auch dann zu erkennen, wenn sie nur am Rand erscheinen… – Unfug, nicht am Rand, sondern zwar in der Mitte, aber so aus anderen Themen wie am Rand entwickelt, daß sie kaum noch Zitat sind; so werden sie gelebte, zumal eine betrauerte abendländische Erinnerung. Seltsam aber dieser Werbesatz: „Diese offengelegte Innenwelt oder – wie es Franz Hummel sagt – die Bannmeile dieser Musik sollte meiden, wer sich nicht unbefangen einlassen kann.“ Das soll eine Warnung für Mainstreamler sein? – die es in der Neuen Musik selbstverständlich ganz genau so wie im Pop gibt. Franz Hummel, übrigens, ist selbst ein Außenseiter. Auf ihn komme ich gewiß später einmal zu sprechen. Noch bleibe ich von Winbeck, aus ihm leiten sich momentan meine meisten anderen Hörwelten ab – ich habe deutlich gefühlte Komponistenphasen -, sowie von Bach & Ramirer umschlossen. (Winbeck hat mir eine weitere Musik geschickt; die CD kam gestern an: Lebensstürme, „mit und nach Musik von Franz Schubert“; er hat mir das Stück kopiert, nachdem er >>>> Das Wunder von San Michele“ gehört.)
Davon wollte ich eigentlich nicht sprechen. Die Klänge wollten es. Ich habe ihnen genüge getan. Für heute.
Latte macchiato, erste Morgenpfeife.
Kurzes Chaos gestern. Delf Schmidt hat >>>> die Veranstaltung absagen müssen, schwer krankheitshalber; schon seinen Besuch der Buchmesse mußte er deshalb abbrechen. So war ich vorgewarnt; ich wollte aber den Arztbefund abwarten und eine erhoffte Besserung. Nach Lage der medizinischen Belange kann er, der Freund und Ratgeber, definitiv nicht auftreten. Das stellte mich nun vor ein Problem.
Da traf es sich gut, daß Ralf Schnell, der Medientheoretiker und Herausgeber des Gesamtwerks von Böll sowie >>>> des horen-Bandes über mein Anderswelt-Projekt, mir morgens eine Email schrieb, er sei ein wenig erschöpft aus Asien zurück, aber wolle sich auf keinen Fall den Abend mit Delf Schmidt und mir entgehen lassen, werde also morgen, das meinte gestern heute, kommen. Nachdem ich also mit dem matt klingen Schmidt telefoniert, rief ich umgehend Schnell an: ob er sich vorstellen könne einzuspringen. – Er sagte sofort zu. So mußte ich ihm nachts noch, damit er sich vorbereiten kann, zusammenstellen, was ich heute lesen werde. Der Vorteil ist, daß Schnell in meine Anderswelt-Arbeit sehr eingearbeitet ist; er geht allerdings mit völlig anderem Blick an sie als Schmidt. So werden wir heute abend ganz sicher darüber sprechen, was der Medienumbruch, insbesondere das Internet, für eine zeitgenössische Poetik bedeutet; indessen das Gespräch mit Schmidt zurückgeschaut, besonders die literarische Geschichte seit 68 im Blick gehabt hätte und um die, ich sage einmal, hebende Arbeit eines, und dieses besonderen, Lektors gekreist wäre, besonders, weil er als Lektor die Entwicklung zweier Nobelpreisträgerinnen mitbegleitet hat, zweier Friedenspreisträger, mehrerer Büchnerpreisträger – eine einzigartige Geschichte des Erfolgs von anderen: deshalb sprach ich von „hebend“. Mit Schnell wird unser Blick deutlich in die Zukunft http://gehen.Es gibt aber eine starke Verbindung: Er, Schnell, nennt Elfriede Jelineks Arbeit eine der tragenden Ästhetiken der Gegenwart, und auch Jelinek ist Schmidts Autorin. Vier solcher Ästhetiken nennt er; >>>> lesen Sie das selbst nach oder kommen Sie heute abend. Ich werde ihn sicher darauf ansprechen.
Die Veranstaltung mit Delf Schmidt, der nur höchst selten auftritt, sollte ein Ereignis sein, Ereignis, >>>> nicht „Event“. Sogar ein Kamerateam wird vor Ort sein. Diesen Ereignis-Charakter wollte ich erhalten; deshalb ist Ralf Schnells Zusage erleichternd. Hübsch aber, übrigens, daß die Buchhandlung abgesagt hat: sie könne meine Bücher heute nicht verkaufen. Bizarrerien der Abweisung. In der Kürze der Zeit übernimmt das keine andere mehr; eine Woche früher solch ein Bescheid, und man hätte reagieren können. Das wollte man, möglicherweise, verhindern. Ich muß ein wirklich schlimmer Mensch sein, wenn sich die Leute ihre Ablehnung sogar die Einkunft kosten lassen.
Jetzt aber an Argo. Gestern kam ich gut voran, ich will da nicht herausfallen. Wär schön, wenn ich trotz der Lesung heute abend einen ähnlich kräftigen Packen fertigbekäme wie gestern.
10.32 Uhr:
[Winbeck, Dritte Sinfonie „Grodek“.]
Argo auf TS 640, aber hier läuft einiges wild parallel: Begann den längst überfälligen Brief an Winbeck, dann schrieb >>>> Ralf Schnell zur Planung des heutigen Abends; Profi halt; strukturiert. Also strukturierten wir, alles hin und her in dreivier Emails, davon je eine Kopie an die Veranstalter. So sind die im Bilde. Weiter an dem Winbeckbrief geschrieben, zwischendurch Pfefferminztee angesetzt, dann wieder Emails, sowie Facebook-Aktualisierungen, dann wieder der Winbeckbrief und ihn abgeschlossen. Ausgedruckt, unterschrieben und ins Couvert. Briefmarke drauf und mit Argo weiter. Habe das Glück, daß die nun folgenden Seiten nicht so knallevoll mit Korrekturen sind, deshalb könnte auch heute und unter diesen Umständen das vorgenommene Pensum zu erreichen sein.
Irre gespannt auf heute abend. Vieles steht und fällt mit der Fülle des Publikums. Man kann dramaturgisch so raffiniert und perfekt sein, wie man will – dieses, die Besuchermenge, hat niemand in der Hand. Aber nur in der Menge übertragen sich Stimmungen, und nur in der Menge wirken sie zurück, so daß sich, dies abermals zurückspiegelnd, Spannung ergibt. Sind nur wenige Leute da, haben die immer die Last zu tragen, den Autor zu stützen. Das tut beiden Seiten nicht gut. Abgesehen davon ist es Pein für die Leute, die doch aber genießen sollen –
scrjapfloater@herbst wie gut es doch tut, als nahezu erstes morgens nach dem aufstehen solche worte über ein eigenes werk zu lesen, zumal von einem so geschulten ohrpaar wie ihrem – ich danke ihnen dafür von herzen, der tag kann jetzt eigentlich nur noch schlechter werden…
@david ramirer. Was wiederum mich an Ihrem Kommentar freut, das ist, daß Sie Ihrer Freude Ausdruck verleihen, sie also zeigen. Das gilt in unserer Gesellschaft als ebenso unfein, wie wenn man seine Trauer zeigt oder seine (ihre) Wut. Wir sollen uns mäßigen. Zur Abfuhr stellt man uns und stellen wir uns selbst genehmigte Events zur Verfügung, sozusagen den emotionalen Fasching; jedes Popkonzert gehört dazu.
Diese Dressur von Menschen dient selbstverständlich der Kontrolle, sowohl der sozialen wie einer politischen. Gefühle werden weggedrückt, damit sie die Produktion nicht stören. Jede/r, die/der das anders hält, ist insofern ein/e Rebell/in. Weniges brauchen wir nötiger.