[Arbeitswohnung.]
Momentan funktioniert meine Früharbeit überhaupt nicht; ich komme einfach nicht aus dem Bett. Seltsamerweise macht mich das nicht nervös, schon deshalb nicht, weil ich dennoch mit meiner Arbeit gut vorankam in den letzten Tagen. So auch heute morgen. Die soeben bearbeiteten Argo-Seiten laufen allerdings auch sehr gut; es ist nicht so viel daran zu tun wie an denen vor dreivier Wochen. Oder ich bin unaufmerksam – ob, das werde ich spätestens bei der weiteren Überarbeitung merken, nachdem ich alle Korrekturen übertragen haben werde, also wahrscheinlich im September. Doch sind es grad flammende visionäre Szenen, die mir sowieso liegen, wo die Sprache sich pulsierend aufwirft und die Bilder ineinanderschmilzen und sich ihrerseits aufwerfen, um leuchtende Netze zu bilden.
Also. Um halb acht erst hoch. Gestern nacht saßen noch ein paar Leute aus meinem Haus, sowie Broßmann, beisammen vorm Beakers, und wir besprachen die Hausgemeinschaft, die zu bilden mir unumgänglich zu sein scheint, nachdem mir der Verwalter sagte, daß man kein Interesse an einem freundlichen Gespräch mit uns habe. Am Telefon, wörtlich. Immerhin will er jetzt eine Rechnung für das von meiner Haustür entfernte Bild haben. Soll er kriegen. 2014 läuft die Schutzfrist wegen der öffentlichen Sanierungsförderung aus: kann gut sein, daß beabsichtigt ist, alte Mieter hinauszuekeln, um für den Geld-Nachzug Raum zu schaffen, der sowas gar nicht erst sehen soll, wie daß hier ein lebendiger Wohnorganismus existiert von Leuten, die miteinander gerne sind. So etwas drückt auf die Preise, wenn man davon ausgehen muß, daß ein Investment besetzt ist und niemand da hinauswill. Es kann aber ebenso möglich sein, daß die Eigentümer vom Vorgehen ihrer Verwaltung gar nichts wissen. Ich werde also mal in das Grundbuch schauen.
Selbstverständlich diskutierten wir draußen ein weiteres Mal das bedingungslose Kapitulationseinkommen, erwogen Für und Wider. Ich konnte allerdings nicht zu bemerken umhin, daß ich tatsächlich kein Interesse daran hätte, Leuten wie >>>> dem da auch noch ihr Faschistoides mitzufinanzieren. Außerdem ist das Konzept, wie Broßmann es darstellte, tatsächlich kritisch: zwar lasse sich das Grundeinkommen finanzieren, aber dafür ist gedacht, die Sozial-Institutionen abzuschaffen, die teuren Personalverwaltungen usw.; auch Krankenkasse gebe es nicht mehr, sondern alles sei vom Grundeinkommen zu bezahlen; dies sei Anreiz genug, hinzuzuverdienen. „Und was ist mit krebskranken Menschen? Die bezahlen alles dann selbst? Das so entstehende Elend ist gar nicht auszudenken! Abgesehen davon erinnert mich diese Art System an die USA.“ Wer verreckt, verreckt. „Warum soll man jemandem helfen, der nicht für sich selbst gesorgt hat?“ fragte einer der Mitdiskutanten.
Mir geht immer noch >>>> dieses Massaker im Kopf und in der Brust herum; es beschäftigt mich so sehr, daß ich deutlich mehr Schlaf als sonst brauche; Fluchtschlaf, das ist mir schon klar, aber vielleicht auch einer, der sich unbewußt Kraft holt. Dazu ein affirmativer Artikel >>>> Nils Minkmars in der FAZ, der nicht einmal vor den eigenen Sätzen erschrickt: „Mehrfach soll er“, Obama, „erklärt haben, er befinde sich in derselben Lage wie seine historischen Vorgänger, die über den ersten Einsatz von Atombomben oder Interkontinentalraketen zu befinden gehabt hätten: Man erlaubt den Einsatz neuartiger Technologie“, deren Entwicklung Obama scharf vorantreiben läßt, „deren ethische Implikationen noch gar nicht zu ermessen sind“. Und Minkmar schließt: „Einstweilen aber staunt die Welt“, anstelle, sic!, zu erschrecken, „über die smarte neue Obama-Doktrin, und weit und breit ist niemand, der glaubhaft etwas entgegnen könnte.“ So schafft man rhetorisch Fakten. „Intellektuell, rhetorisch und von der Nervenstärke her dominiert er die internationale Szene.“ Und jetzt kommt‘s: „Er ist der philosophisch geschulte Held, dessen Hand beim Duell nicht zittert und der die Richtigen trifft.“ (FAZ, Feuilleton Seite eins, 2. 6.2012). Von so viel Tennisschuhgetänzel über den ethischen Implikationen kann einem richtig übel werden: Hauptsache, der coole Ton stimmt auf die ironische Weltverfassung.
Vielleicht werde ich die Neue Fröhliche Wissenschaft noch um einige solche Bemerkungen ergänzen; allerdings wird das Buch schon jetzt ziemlich umfangreich werden; ich hatte erst befürchtet, es werde zu dünn, war dann selbst erstaunt gestern nacht, was ich so alles geschrieben habe. Das wird vor allem eine Arbeit der Anordnung. Ich weiß noch gar nicht, wie ich vorgehen will, oder weiß es nur ein bißchen, bin mir aber nicht schlüssig, ob prinzipiell chronologisch oder nach Themenverwandtheit. Wäre ich angestellter Professor, ließe ich einzwei Assitenten während der Überarbeitungsphase ein Stichwortregister anlegen; ich selbst habe nicht die Zeit. So wird es, wie schon die Kleine Litblog-Theorie, ein Schmöker werden; Wolfdietrich Schnurres >>>> Schattenfotograf kommt ihm, vielleicht, am nächsten.
Die Freunde Lüdenbach & Leukert sind in Berlin. Wir werden uns heute nachmittag treffen Abends ist dann mein Junge bei mir.
13.20 Uhr:
Hat Freude gemacht, am Cello. Es gibt eine Sarabande von Händel, deren zweite Stimme ich sehr liebe; manchmal lege ich dann einfach heftig los und interpretiere das Ding, wie es wahrscheinlich absolut nicht erlaubt ist.
Die Neue fröhliche Wissenschaft bis S. 3 bearbeitet; ich formuliere natürlich wieder um, versuche zu präzisieren, was ich meinte, finde auch schon mal eine spitzere Wendung. Und die ganze Titelstruktur muß sich ändern: was in Der Dschungel gut funktioniert, funktioniert mitnichten im Buch ebenso unbedingt. Weil es aber alles kleinere Stücke sind, nicht solche Riesenbögen wie in Argo, ist die Arbeit gleichsam geruhlich – ‚geruhsam‘, allerdings, wäre falsch.
Jetzt wenigstens eine dreiviertel Stunde schlafen; die Freunde riefen schon an, sind aber erst einmal Essen gegangen.
Guter >>>> Kommentar Keuschnigs.
Wenn ein solcher Text von einem deutschen Feuilletonisten über einen republikanischen US-Präsidenten verfasst worden wäre, hätte man den Autor in der Luft zerrissen. Die Linke in Deutschland (ich meine nicht die Partei, sondern die Richtung) ist immer noch besoffen von der Person Obama und demzufolge gegen seine widersprüchliche Politik immun. Der verräterischste Satz im Minkmar-Artikel ist der letzte: —–>“Dieses Buch und solche Berichterstattung sichern seine Wiederwahl.“ Es geht nur darum. (Und das nicht nur antizipierend, dass die Alternative noch übler sein könnte.)
Das ist @Keuschnig. Der ziemlich zweischneidige Vorteil, wenn man ohnedies für einen Querkopf gilt, der zerrissen zu werden gewohnt ist. Ja, Sie haben recht mir dem – politisch – verräterischsten Satz am Schluß. Ich habe ihn absichtlich nicht zitiert, weil ich einen anderen Blick betonen wollte: wie lässig mit Entsetzen geentertaint wird; deswegen endete meine ja auch nur kurze Reaktion mit dem „schwarzen John Wayne“, den Minkmar hier als einen positiven, zumal philosophisch gebildeten Helden in den Artikel gepopanzt hat – als entbände Bildung von Verantwortung. Man fühlt sich an Ronald Reagan erinnert, aber in der unverbindlichen Manier eines, der auch Massaker letztlich amüsant findet. Daneben ist es eine ebenso bezeichnende Entwicklung, politische Themen als Feuilleton zu nehmen: dahinter steht eine enorme Ästhetisierung von Politik, aber als Ästhetik eine, die längst den Unterschied von U und E anheimgegeben hat und sich darin, weil eben nichts mehr verpflichtet, irre wohlfühlt. Daß Obama – gleichsam per se – sowieso „die Richtigen“ treffe, ist wahrscheinlich der ungeheuerste Satz in dem Text.
Mein erster Satz bezog sich auf Minkmar, der im allgemeinen ja als links-liberal gilt. Wenn sowas – nur als Beispiel – Broder geschrieben hätte, wäre er zerrissen worden.
Das Feuilleton beschäftigt sich spätestens seit Karl Kraus schon mit Politik – mal mehr mal weniger gelungen. Was vielleicht neu ist ist der affirmative, zum Teil heroische Gestus, der bestimmten Ansichten und vor allem Personen entgegengebracht wird. Obama ist immer noch der Heilige von vor vier Jahren – wie Sie die entsprechende Stelle richtig zitiert haben. Tatsächlich hatte ich beim Minkmar-Artikel auch die Erinnerung an Reagan, der natürlich niemals satisfaktionsfähig war. Das (politische) Feuilleton ist hermetischer, gleichförmiger, sprich: langweiliger geworden. Querdenker werden zwar immer als nicht vorhanden beklagt, diejenigen, die es gibt, werden aber entweder ignoriert oder verbissen.
@Keuschnig zum Feuilleton. Tatsächlich haben Sie recht – wobei Kraus ein eher schlechtes Beispiel ist, weil Die Fackel selbst von vornherein auch auf politische Wirkung angelegt war, auf Enthüllung durch Betrachten der Sprache – d.h. es handelte sich viel weniger um ein klassisches Feuilleton, als um eine Kampfschrift, die auch mit Themen des Feuilletons umging. Was ich tatsächlich bedenklich finde, ist die lässige Feuilletonisierung politischer Schreckensszenarien.
Minkmar mit Broder zu vergleichen, finde ich problematisch, weil dieser stets mit missionarischem Furor daherkommt, auch wenn das sprachlich sehr bewußt gespitzt ist, indessen jener, Minkmar, so unverbindlich elegant unverbindlich auftritt, daß er auf Vorhalt jederzeit sagen könnte: „Habt ihr denn nicht bemerkt, wie ironisch ich das gemeint habe?“ Im Gegensatz zu Broder, den ich bekanntlich, aber aus anderen Gründen, nicht sehr mag, hält sich Minkmar ein Türchen offen, durch das er gegebenenfalls ganz schnell verschwinden kann. Broder hält immerhin, und immer von vornherein, stand. Das macht ihn zu einem respektablen Gegner, also einem mit Haltung; man muß ihn deshalb achten, auch wenn man nicht seine Meinung vertritt.
@Herbst In beiden Punkten haben Sie Recht. Wobei ich Minkmar nicht mit Broder verglichen haben wollte. Mir fiel nur auf die Schnelle kein griffigerer Antipode ein.
Was Sie zu Broder dann sagen, unterstreiche ich auch. Ich finde ihn oft scheußlich, aber er hat tatsächlich Rückgrat und das respektiere ich. Dabei ist er allerdings nicht immer wählerisch, was seine Unterstützung diverser Zeitgenossen angeht. Wenn es ihm in den Kram passt pflichtet er einer Eva Herman bei. Dabei wirkt sein Furor gegen die linksintellektuelle Correctness zuweilen sehr missionarisch. Wobei ich vermute, dass er hier längst eine Rolle angenommen hat. Das ist das, was mich wirklich an ihm abstösst.
@Keuschnig zu Broder. Der Mann hat Leidenschaft (so mein Eindruck; ich kenne ihn persönlich nicht). Diese Leidenschaft mag ich. Ich mag die Brillanz seiner Stilistik, die aber eben auch Teufelshörner hat, weil er zugleich geradezu fundamentalistisch Ideologe; das macht ihn als Rhetor gefährlich. Eben deshalb nimmt er seine Belege, wie es gerade paßt: nicht die Ideologie steht auf seinem Prüfstand, sondern andere Positionen werden der Ideologie prokrustisch angepaßt. Hier setzt in der Sache meine Kritik ein, mein Unbehagen sowieso. Ich habe es mir deshalb angewöhnt, Broder zu lesen wie einen peotischen Text des l’art pour l’art; die Aussage selbst, letztlich, interessiert mich nicht mehr. Denn ich weiß sie ja immer schon vorher. Das ist das Problematische an allen unbedingten Überzeugungen, und das auch macht dieses Missionarische aus – das ich übrigens, ich weiß das sehr wohl, bei einigen Themen teile, etwa, wenn es um den Pop geht. Da bin auch ich bisweilen für Seitenaspekte blind. In meinem Fall ist das aber nicht gefährlich, weil ich diesbezüglich ziemlich allein auf weiter Flur rufe, auch wenn ich das in der Wüste tue, in der die anderen stehen, während Broder sich sehr geschickt auf bereits vorhandene, überaus starke Mächte und Interessen stützt und sie wissend bedient. Ich bin allenfalls, in Sachen Pop, ein Stöckchen im Getriebe und lasse es etwas knirschen, wo es rein rundlaufen will; Broder hingegen schiebt immer mit, wo ohnedies geschoben wird, will sagen: er hemmt nie. Seine Ideologie ist affirmativ.
Dennoch und völlig neidlos, ja bisweilen bewundernd: er ist ein großer Stilist; man kann ihn darin mit Shaw vergleichen.