Urwelttiere inniTalien (13). Das Inseljournal des Sonntags, dem 31. Juli 2011, zum Montag, dem 1. August 2011.

9 Uhr:
[Neben dem Zelt.]
Den Latte macchiato und ein süßes Stückchen schon genommen, an der Bar, auf der Terrasse, und versucht, ins Netz zu gehen dort; aber, wie schon gestern abend, die Verbindung schwankt nicht, nein sie flieht, kehrt zurück, flieht abermals; heute morgen ging da gar nichts. Dafür ist sie direkt neben unserem Zelt vorzüglich.
Wir waren wie große Urweltttiere, die sich mit der flossigen Behäbigkeit von Seekühen über den Meergrund bewegten, zwei größere, der Tauchlehrer und ich, ein Kleines, wobei ich selbst die Neigung hatte, immer ein bißchen über den beiden zu schweben. Ich schaute ihnen zu, hatte zugleich die Tendenz, ein eignes Erforschen zu beginnen. Was nicht erlaubt war für einen solchen ersten Gang. Zweidrei kleinere Übungen unter dem Meeresspiegel: wie dort bekommt man, zum Beispiel, von eingelaufenem Wasser die Sichtmaske frei? Wie den Druckausgleich auf den Ohren vollziehen? Ganz gelang mir das nicht, noch bis zum Abend war mein linkes Ohr innen belegt. Aber die Bilder dafür! Der Tauchlehrer, R., schon seine Hand in den Sand, und ein kleiner Butt wellte heraus und ein wenig voran, in seiner kleinen Empörung pumpend über die Störung. Es half ihm nichts, daß er aussah wie Sand und als Fisch von oben ganz sicher nicht auszumachen war. Aber man bekam den Blick.
Ein kleiner Krake hatte sich unter ein Stück Papier geschoben, dieses vielmehr, wie eine Bettdecke, über sich gezogen. R. zog sie weg. Und da sah er uns denn an, die Ärmchen in Grube und Sand gesteckt, aber die Augen heraussen von einem orangenen Rot mit der Pupille einer Katze im Tag, aber vertikal, und der Lidschlag schien mir eher neugierig denn furchtsam zu sein.
Leider bekam mein Junge Angst und mußte einmal hinauftauchen; ich sollte unten warten. Man verständigt sich mit einfachen Zeichen, einer Art gestischer Icons, die auf das Nötigste reduziert sind: Traum des Positivismus von der baren, von jedem Hof geläuterten Information; das Wort nichts als Teil eines Terms; fest definierte Bedeutungseinheit. Zu interpretieren dafür die Welt um uns her, mehrdeutig, hundertdeutig und von einer irrsinnigen Weite, die leer ist. Ich dachte schon abends davor an das Weltall. In der Leere finden sich Höhlen, um die sich Verstecke zusammenziehen, fürs Leben. Manchmal tauchen Kometenschwärme auf, bleiben momentlang stehen, ziehen in ihre Unendlichkeit weiter: das sind die Fische.
Es war ein so auch genanntes „Schnuppertauchen”, wir waren schneller, als ich mochte, wieder auf dem urwelthaften Rückrobb übern Grund, seltsam beweglich in unseren Seiten, hypnotisiert fast vom grundhohlen Geräusch des Einatmens und dem blubbernden des Ausatmens, was aber meinem Jungen auch eine solche Furcht gemacht. Er war ein wenig benommen nachher, ich war wie berauscht. Dazu kam, daß mich das Gewicht nicht störte, das man an Land mit sich herumschleppt; es war nicht anders als das, was ich auf Reisen, wenn mein Junge dabei ist, von Ort zu Ort auf dem Rücken habe; es war eher weniger: sowas um 25 Kilogramm, wenn der Bleigürtel mitgerechnet wird. Also ich war das gewöhnt, er aber nicht. Was ich n i c h t gewöhnt war, war die unversehene Freiheit – ja, Freiheit -, wenn unter Wasser dieses Gewicht wie von Zauberhand verschwindet. Man löst sich. Man hat den Körper einer Sehkuh, an Land bliebe man wie ein Flatschen liegen, hilflos und müde, nicht aber in der See. Dazu das aufpumpbare Jackett, das, wenn man will und es gewollt ist, über die Sauerstofflasche mit aufgepumpt werden kann, je nach Bedarf, oder, will man wieder sinken, die Luft wird daraus abgelassen. Dies sei, erzählte im Camp ein Taucher, imgrunde am Tauchen das Eigentliche: der Schwebezustand, in den man verfalle, diese Schwerelosigkeit, in der es imgrunde kein Oben mehr und kein Unten gebe. So mache es gar keinen Unterschied, ob man im Meer in der Tiefe mit dem Kopf nach unten hänge oder horizontal voranschwimme. – Eine Spur davon habe ich gestern erfahren, als ich über R. und meinem Jungen schwebte und mit ganz sanften Bewegungen meiner Flossen immer wieder Fahrt aufnahm: „Fische”, sagte mir vor zweieinhalb Jahrzehnten ein Freund, „schwimmen nicht, sondern sie fliegen.” In meiner >>>> Undine hab ich’s zitiert.

9.40 Uhr:
Jetzt ist auch hier die Netzverbindung wieder schwach. Ich krieg den Text grad nicht in Die Dschungel hinein. Es kann aber ebenfalls sein, daß Twoday muckt.

… – ah, jetzt geht es. Bilder lade ich aber erst später hoch.

10.58 Uhr:
[Baia del sole, terrazza.]
Von einem invers pervertierten Sommer spricht Brossmann in einer Mail, was über Berlin gefallen sei, Fäden um Fäden Regens, invers zumal, da er die sinnlichen Frauen dörre, statt sie zu tränken… indes die Legende von Giglio sagt, wie die anderen toscanischen Inseln: sie eine der Perlen, die aus dem springenden Halsband der Venus ins Meer gefallen, dem sie, die Göttin, entstiegen…
Ein ruhiger Tag nun wieder, Blicke von Frau zu Mann, deren Brücke bisweilen mein Junge ist, damit sie nicht stürzen. Aus der Küche weht auf die Terrasse ein erster Duft bratenden Fischs, der für den Pranzo bereitet wird, meist in silbernen Blechschüsseln in der Virtrine dann lagernd, da asportare, etwa ab zwölf. Ich hab nach dem Latte macchiato vom Morgen auf den Caffè gewechselt, mein Sohn nahm den Latte macchiato und ein süßes Apfelstückchen, derweil der schnell aufgeregte hagere Freund der Nachbarshütte, worin er mit seiner dunkelweichen, gern flirtenden Freundin die Nächte verbringt, sich ans Klavier setzte, um Evergreens zu verjazzen, mit leichter, aber immer mal stolpernder, dann auf kurzes suchender Hand. Mir im Rücken geht das Meer. Ich tippe mit zusammengekniffenen Augen, die sich anders scharfstellen müssen, damit sie auf dem Screen nicht immer mein Gesicht erkennen, gegen die Sonne.
Hab heute früh ein wenig an der Rückreise nach Rom geplant. Es geht ein Bus ab Porto Santo Stefano bis zum Bahnhof Ostiense; man muß allerdings prenotaren. Diese Version enthöbe uns >>>> tiburtnisch er Anschluß- und Verspätungsprobleme; allerdings müßten wir dazu die Fähre ab Porto di Giglio erreichen, die um 9 Uhr ablegt. Das heißt: sehr früh aufstehen, das Zelt zusammenpacken und alles übrige packen, dann rechtzeitig den Bus über die Insel bekommen, über Giglio Castello oben auf dem Berg hinunter zum Hafen und dort auch noch rechtzeitig die Biglietti gelöst. Um sechs also auf und um sieben der Aufbruch, bepackt. Dann ist es zu schaffen.
Doch noch. Haben wir zwei Tage.

22.59 Uhr:
[Am Zelt.]
Weiterer sehr ruhiger Tag. Drei Gedichtskizzen kamen mir unter die Finger, jede davon ein wenig unmoraloisch: etwa daß die Kette der Venus reißt, weil die Perlschnur sich an den erigierten Brustwarzen schneidet, die jene wenige Frauen hier haben, die oben ohne aus dem Wasser steigen. Ohne Muschel freilich, jedenfalls unsymbolisch, ansonsten ließe sich sagen: mit Muschel s c h o n, aber symbolisch. Wer den Witz dieser Formulierung versteht, ist mir nah –
Die Sonne brannte, es gab nicht ein Wölkchen am Himmel. Wir sprangen von den Felsen aus drei Metern, sechs Metern Höhe, wir schnorchelten durch Schwärme von Fischen; mein Junge und ich übten die Mundatmung. Denn morgen, Leserin, gibt es noch einmal einen Tauchgang; ich war vorhin unten in Giglio Campese und sprach mit Rainer, auf den ich jetzt >>>> diesen Link legen will. Er sah auf seiner Liste nach, „gut, um 15 Uhr… morgen vormittag wollen alle open water, da muß ich dabei sein; die nächste Gruppe ist um 15 Uhr raus.” Handschlag, Lächeln, noch einmal: schwebende Seekuh. Ich hab die Idee zu einem Text dazu. Mehr aber wird sich morgen ergeben. (Zwei der Gedichtskizzen schrieb ich unten im Ort, alleine mit mir und einem Grappa zur Pfeife: ich gewöhne mir an, Leerzeichen für die möglichen Reime zu machen, auch ganze Zeilen leer zu lassen, die später auszufällen sind, wenn man mit sich ist und Zeit hat.)
Dann noch mal den Bus nach Rom recherchiert, der aber nur, wie ich nun rausfand, Freitag abends und am Wochenende fährt. So werden wir doch den Zug nehmen und, wegen der nicht auf ihn abgestimmten Fährverbindungen zur terra ferma etwa zwei Stunden am Bahnhof Orbetello warten müssen. Nun ja, dafür gibt es Bruno Schulze: Galizien mit der Costa Argento. Mein Junge wird dann zeichnen wahrscheinlich.
Noch ein Tag an der See. Aber mein Junge soll jetzt die Zähne putzen, und die Fingernägel sind endlich fällig. Dann geht’s ins Zelt, jedenfalls für ihn.

6 thoughts on “Urwelttiere inniTalien (13). Das Inseljournal des Sonntags, dem 31. Juli 2011, zum Montag, dem 1. August 2011.

  1. von einer irrsinnigen Weite, die leer ist. Ich dachte schon abends davor an das Weltall. In der Leere finden sich Höhlen, um die sich Verstecke zusammenziehen, fürs Leben.

    Da musste ich an die Superhaufen denken, das bisschen Schaum an Materie, das zwischen den grossen schwarzen Leerrauemen sitzt (sprach nicht Whitehead davon, dass wir oder der Versuch unseres Bewusstseins alles um uns herum zu erfassen, dass das nur die Schaumkronen auf dem Ozean seien?) – es liegt doch etwas Trost darin, finde ich, dass wenn schon angeblich die letzten Winkel des Hirns und des Bewusstseins ausgeleuchtet seien, die Erde vollphotographiert, digitalisiert sind, da draussen 23% known unknowns sind (dunkle Materie) waehrend 72% wohl sogar unknown unknowns sind (dunkle Energie).. Ach, dann sind es eben nicht mehr Polarlichter wie fuer Lomonosov,.. ist das Unerklaerte und Mystische nicht sogar noch angewachsen?

  2. Indem Sie zeigen, daß der Genuss ein Abschreiten des schmalen Grates des Frugalen ist, vermeiden Sie die Weltanschauung des Urlaubs.
    Übrigens: die See haben wir hier im Norden, da, wo Sie sind, gibt es das Meer.

    1. @Tom zur See:

      (was wie der Titel eines Romanes von >>>> Kapitän Marryat klingt).

      Wer weit draußen war im Mittelmeer, weiß, wie sehr See auch dieses ist; zumal habe ich bereits >>>> in der AEOLIA den englischen Sprachgebrauch (the sea) in den Text übernommen, schon um den Character dieses Meeres differenzieren zu können. Was sich tatsächlich verbietet, ist das Wort Ozean (ocean), bzw. Weltmeer – nicht nur aus den bekannten Definitionsgründen, sondern vor allem wegen seines Ursprungs: der ὀκεανός umfloß die Welt.

      Ich ahne, was Sie mit der “Weltanschauung des Urlaubs” meinen, habe aber kein festes Bild davon. Was ich ahne, muß mir, wenn es stimmt, so grundsätzlich fremd sein wie einem Maler, der auch niemals wird “einfach nur so” sehen können. Das liegt am Beruf.
      Ihre Aussage birgt aber noch eine zweite Ambivalenz; siehe dazu >>>> dort. Das Schmale kann als Ausgedehntes verstanden werden.

  3. Vom frühen Picasso (ich glaube, es war in der „blauen Periode“) gibt es eine „le repos frugal“ betitelte Radierung. Auf diesem Blatt ist die Überlappung der von Ihnen angesprochenen Wortbedeutung sichtbar. Es ist ein ausgemergeltes Paar dargestellt. Der Mann legt seinen Arm um die Schulter der Frau. Wo die Hand des Mannes – und es könnte die Hand des Todes sein – über dem Oberarm der Frau liegt, wirkt dieser rund und sinnlich.
    In deutschsprachigen Katalogen wird der Titel des Blattes oft mit „das karge Mahl“ übersetzt.
    Die Weltanschauung des Urlaubs ist leider bei vielen Ihrer Kollegen zu Hause. Aber vielleicht gibt es bei diesem Beruf gar keine Kollegen.

    Am Abend bestelle ich mir „spaghetti mare“.

    1. al mare. Das kann ich bezüglich meiner Kollegen nur sehr schlecht beurteilen. Bei denen, die ich so auch nennen würde, ist aber das sicher anders. Doch danke für das, lächelt, Füchtemahl. Das ist eine sehr hilfreiche Illustrierung für unsern Dialog.

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