Erosionen. Das Reisejournal des Dienstags, dem 26. Juli 2011, worinnen wir gestern Bagnoregio besuchten, von dem nun heut die Rede ist in inniTalien (10). Zu Beginn freilich über galizische Puppen. Und schließlich, aber nicht schließend, ein Freundesbesuch.

Es gibt eine Erosion des Verstandes, die geradezu lüstern ist aufs neue Formen, so, wie der Zimtläden kauziger Vater Kauz wirklich wird, der nicht nur, zurückgezogen in den vogeldreckmarmorierten Himmel des Drohobyczer Hauses, inmitten ganzer Schwärme von Flamingos, Kormoranen, die ihm ähnelten – oder er ihnen -, Pfauen, Papageien und eben Käuzen das Selbstfliegen erlernte, sondern in diesem Augenblick, da ich von ihm lese, von einer neuen Schöpfung des vielfachen Unfesten träumt, das plötzlich erstarrt und als Modistinnenpuppe, die unten im Haus zwei Näherinnen bekleiden, die Tragödie des Menschen, und seine wie ihre Lächerlichkeit, vor dem Zerfließen und also Vergessen bewahrt:
Es waren in Wirklichkeit amorphe Wesen ohne innere Struktur, Früchte der nachahmenden Tendenz der Materie, die – mit Gedächtnis ausgestattet – aus Gewohnheit die einmal angenommenen Gestalten wiederholt. (…) „Die Materie kennt keine Scherze. Sie ist immer voll tragischen Ernstes. Wer wagt zu denken, daß man mit der Materie spielen darf, daß man sie zum Spaß formen kann, daß der Spaß nicht in sie hineinwächst, sich nicht sofort wie das Schicksal, wie eine Bestimmung, in sie hineinfrißt? Spürt ihr den Schmerz, das stumme Dulden, das nicht befreite, das in die Materie eingeschmiedete Leiden der Puppe, die nicht weiß, was sie ist, warum sie in dieser gewaltsam aufgezwungenen Form verharren muß, die eine Parodie ist? Begreift ihr die Macht des Ausdrucks, der Form, des Scheins, die tyrannische Willkür, mit der sich der Schmerz auf einen wehrlosen Klotz stürzt und ihn beherrscht wie die eigene, tyrannische, großtuerische Seele?” (Bruno Schulz, >>>> Die Zimtläden.)
Der Erosion des Verstandes, der seine Erstarrtheit in die Puppe hineingibt, entspricht eine Erosion der Natur, die ganz das Gegenteil bewirkt und, bevor sie in Zeiträumen von kurzen Hunderten Jahren verschwinden, poetische Orte der Vergänglichkeit schafft, gegen die sich der Mensch, wenn er modern ist, mit Plastifizierung, die Sanierung genannt, doch in Wahrheit ein Selbst>>>>plastinat ist, ebenso tragisch vergeblich stemmt, wie des alten Kauzes Tränen ums Geschick jener Puppe fließen, an der die galizischen Näherinnen unter der Aufsicht Adelas – dieses zur Mythe einer geschlechtsweisen Kokotte aufgefieberten Zimmermädchens – ihre Stoffe heften; und weil sie, Adela, das weiß, entblößt sie ihren in schwarze Seide gehüllten Fuß als Mementomori zugleich wie zur diesem Herrn Quixotte unmöglichen Kuß. So daß ihm nichts als die Anbetung bleibt, sowie ein Stottern, das in den Adern pumpt und hochpumpt und rot wird. Ach, wie viel Onanie um sie! So geht ein Zug aus der Geschichte von Galizien nach Umbrien und weht den zerfallenden Berg hoch in die tote Stadt und hinein, die, mit einer ersten Gründung vor dreitausendzweihundert Jahren, von ihren Bewohnern verlassen und bewohnt noch einzig von Küstern ist, die ihren Museumsdienst für Touristen in der Zubereitung von Speisen verrichten, während neben ihnen, rund um sie, der Hang rutscht und rutscht.Wie ein Pilz, >>>> schreibt Bruno Lampe, erhebe sich aus dem Rutschen der gesamten Landschaft umher der verlassene Ort, Bagnoregio Civita, schon seit fünfhundert Jahren unentwegt sterbend und heute am Leben erhalten allein vom Tourismus – eine palermitanische Mumie aus Häusern, die eben deshalb ihre Poesie ganz verliert, die doch im Abrutschen liegt. Wenn wir von den immer abgesperrten Rändern hangunter und hinüber ins Land schauen, stehen da hügelhoch Kegel aus Tuff, lockig bewaldet umher und ins Tief, wo ein Fluß unsichtbar rinnt, aber die Spur von tieferem Grün überzeichnet. Der Ruf eines Esels, über Kilometer hin hörbar, ließ uns zusammenfahren auf dem Rückweg über die hohe lange Fußgängerbrücke, aber wie bezeichnend, daß ich ihn zuerst für den Aufschrei eines hochfrisierten Mopeds hielt, für den Kampfschrei der Moderne gegen das Sterben. Andererseits ist diese Gegend selbst, da wir das Fließen langer Zeiten nicht spüren, wie die Modistinnenpuppe, der wir unsere, der Touristen, Bekleidungen anheften möchten. Was uns zu Lebzeiten gelingt, wenn nicht ganz plötzlich ein wilderer Abrutsch geschieht als der, den der Wind vom Stein nagt, und Regen.
Zudem, da ich dies schreibe, verstehe ich wieder, wie anders unsere schnellere Perspektive, die der Autofahrer, ist, als hätten wir Gegend und Ort uns erschritten: da wäre spürbarer, spüre ich, was der Verfall ist; man wäre eingezogen in das Relief und steckte selbst halb mit dem Leib darin; nur hüftaufwärts kame man weiter. Wahhaftig, alleine der Kopf wäre herausgehoben aus dem Stein, der auch wir sind und von dem sich der Wind doch ebenfalls nimmt, was er will in seinem beharrlichen Scharren.

10.39 Uhr:
[Amelia, Kardinalsküche.]
Es treibt mich, zu schreiben, auch wenn ich, >>>> wie ich heute früh erzählte, nämlich der >>>> Frau Phyllis erzählte, die Sonne fliehen muß dazu und in den Schatten dieser Küche tauchen, die auch hellichten Tages von einer von der Decke hängenden Energiesparleuchte erhellt werden muß. Aber es treibt mich so, zu schreiben. Wobei ich den Einfluß Bruno Schulzens sehr spüre, nicht in der Gestaltungsweise selbst, sondern durch etwas, das ihn mir verwandt mit >>>> Lezama Lima vorkommen läßt in der, vor allem, Lebendigkeit der unentwegten Metaphern, die geradezu Handlung werden. Die Phantastik dieser Sprache spült Hemmungen von mir, die modern-pragmatischer Natur sind und >>>> von Énard noch gefirmt (seiner nüchternen Beschwörung der Greuel, die ein kleiner Geheimagent auch tatsächlich nicht ästhetisieren könnte, wäre García Márquez’ >>>> „Herbst des Patriarchen” entgegenzuhalten, dachte ich gestern). Schulz’ Dichtung ist, wie immer schon die einiger Südamerikaner, ein Lösungsmittel, das mir die Profanitäten des pragmatischen Bewußtseins unterspült, so daß ich einen alten Blick zurückerstattet erhalte… –

***
… und da rufen eben die Freunde aus Franfkurt am Main aus Poggiola an und setzen sich in den Wagen und machen sich auf den Weg die 150 Kilometer hierher, damit wir alle, >>>> Parallalie und mein Junge, Lüdenbachs Leukert und Tochter, sowie deren Töchterchen, plaudern können über den sonnhellen Nachmittag bis weit in den Abend hinein.
Damit das aber ein volles Glück wird, will ich mich eben aufmachen und die engen Gassen durchsteigen hinab ein paar kleiner Einkäufe halber, vorher allerdings meinen Jungen wecken, der immer noch schläft –
– ah, da kommt er ja durch die Tür!

5 thoughts on “Erosionen. Das Reisejournal des Dienstags, dem 26. Juli 2011, worinnen wir gestern Bagnoregio besuchten, von dem nun heut die Rede ist in inniTalien (10). Zu Beginn freilich über galizische Puppen. Und schließlich, aber nicht schließend, ein Freundesbesuch.

    1. @Frau Phyllis. Einen Teil der Antwort habe ich, glaube ich, eben schon ungefragt, >>>> dort um 10.39 Uhr, gegeben; es ist der, sagen wir, offizielle. Einen oder vielleicht sogar den anderen Teil hat >>>> damit meine Löwin “verschuldet”, wobei wiederum dieser Erzählung eine halb durchskypte Nacht zuvorkam, die eine Erregtheit in mich hineinblies, die sich mit Bruno Schulzens Erzählung seltsam vereinte. Dies, etwa, wäre eine inoffizielle Erklärung, die ohne Testosteron gar nicht auskommt.

    2. Ein vom Lösungsmittel halluzinatorischer Dichtung zurückgestatteter Blick und eine testosterongetriebene Nacht.
      Scheint mir eine dieser Doppelinfektionen zu sein, die sich bestens auf das Schreiben auswirken.

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