InniTalien 6, amelien. Darin, aber nur kurz, von einem Nachmittag in Rom erzählt wird und ganz ohne Kirchen. Das Reisejournal des Freitags, dem 22. Juli 2011. Wiedersehen mit dem Cortile. Dazu die Zone von Énard, sowie ein krankes Kind am Abend.

7.18 Uhr:
[Amelia, Cortile.]Und los geht’s – so endete ich >>>> gestern und kam auch abends nicht mehr dazu weiterzuschreiben. Um Ihnen gegenüber aber so offen zu sein, wie mir das seit je entspricht, ist einzugestehen, nein, drauf zu pochen, daß ich’s nicht mochte – nachmittags sowieso nicht, da war keine Zeit; es wäre auch höchst unhöflich gewesen, als >>>> Melusine und ihre Familie den Freund, meinen Jungen und mich empfingen und bewirteten, mich hinter den Laptop zu hocken.
Sie und >>>> Parallalie holten uns vom Bahnhof Termini vom Frecciarossa ab, der in der Tat pfeilschnell war. Ich erinnere mich dreieinhalbstündiger Fahrten von Neapel nach Rom, überfüllter Abteile zudem, deren Enge den Schweiß in die Hitze dazutrieb, und des Geratters dazu, des blechenen Knallens der Türen, die auf Verspätung beharrten, und zwar des gesamten Zugs, wenn Trauben von Angehörigen noch letzte Überlebensmittel, in prallen Plastiktüten, ihren rufenden und lachenden Scheidenden durch die Abteilfenster reichten, und höchst wichtiger Kontrolleure, die vom Binario aus des Geschehen bewachten, indem sie einfach geschehen ließen, zwar aber mit strengester Miene, bevor sie dann die Trillerpfeife an die Lippen führten und derart stark hineinbliesen, daß die Stilettspitzen der fetten Agavenblätter zitterten. Auf denen standen die Namen heute längst geschiedener Paare; doch Kinder sind von ihnen geblieben, die ihrerseits, nun, sich in Agaven ritzen. Herzen ineinander gleich olympischen Ringen, weiß sind auch sie schon vernarbt.
Nunmehr der so junge wie cleane Steward in maßgeschneiderter, möchte man meinen, Uniform, das blonde Haar aus Milano, denn dessen polierte Kirschholztüren glänzen ihm aus den Augen, gleichsam auf Tennisschuhen sich wiegend in all den Blicken schöner Frauen, die er vermeint, sie seien beständig auf ihn gerichtet… ach, wie sie ihn, zerbrochen, die Herzen, als unsichtbare Krümel in einem Orbit umkreisen, das sein Selbstbewußtsein ist! – eines Élegants des in die Jugend gekommenen Kommunikations-Kapitalismus, der die sozialen Grenzen so lässig handhabt wie lächelnd, ein Salsa der Klassen – so jagte der Rote Pfeil dahin, und die Landschaft wechselte die Maske, als blätterte man in einem Buch viel zu schnell, um es wirklich lesen zu können, und auch nicht in einem Buch, sondern von Seite zu Site durch das Smartphone. Und schon war da Rom –
dabei hätten wir den Zug beinah verpaßt, waren viel zu früh, dachte ich, meiner Reiseuhr vertrauend, an der Piazza Garibaldi, ohne für den Bus zu bezahlen: ich steckte an Solfatara den Biglietto in die Mechanik, um ihn zu convalidieren, doch weigerte sie sich. Man solle sich in solchen Fällen beim Busfahrer melden, hatte ich vortags in einem andren Bus gelesen. Das tat ich nun auch. „Non functiona…” Er, ein gemütlicher, doch zugleich temperamentvollster Mann, was im Süden nicht selten ist, er also, lachend: „É normale”, und seine Handbewegung wischte das weg. Ich solle es einfach dabei belassen. Lachend die schöne Neapolitanerin, und wiederholend, in ihren Augen blitzte feucht eine Lust auf den Kuß, der sie nehme, doch imaginär, nicht konkret: „Normale, sisi!” Und abermals dieses Blitzen. Dann schon, hinter Bagnoli, füllte der Bus sich und wurde bis zur Endstation immer voller, von der aus wie, mein Junge und ich, noch ein paar Meter zu gehen hatten.
Zwei Stunden noch, dachte ich, bevor der Zug fuhr. Über die Garibaldi hinüber. Das schwere Gepäck auf den weißen Plastikstuhl gewuchtet, die andren, kleineren Rucksäcke unter den Plastiktisch. Es war, und sollte sein, dieselbe Bar, in der wir nach unserer Ankunft in Neapel den ersten Caffè und die erste Granita genommen. Ich schätze Formklammern im Leben. Derselbe Kellner. Die Sonne prallte auf den verkehrs- nicht nur um-, sondern betobten, seiner vielen Baustellen wegen, durch den die Auto- und Motoströme sich quetschen, völlig wirren Platz, auf den in mildem Pastell der Vesuvio scheinmild hinabscheint, als hielte er bergend unter die Stadt seine Hand, bevor er dann mit der anderen auf sie hinabschlägt.
„Magst du zehn Minuten auf unsere Sachen aufpassen? Ich möchte noch mal eben über den Markt nach Schuhen sehen…”
„Klar, Papa.” Nach der Granita hatte der Junge noch ein Eis.
Schöne Schnürer ja, aber nur in 42.
Also zurück.
Immer noch war viel Zeit. Sie kroch oder sie mochte sich nicht trennen, weshalb’s mir gar nicht auffiel. So daß wie noch einen Arancino und ein Stück Pizza zu uns nahmen. Erst, als wir gesättigt waren, kam mir die Sache verdächtig vor. Und ich schaute in das Ifönchen !SCHRECK! 11.42 Uhr… um 11.50 Uhr ging der Zug. Meine Armbanduhr war stehengeblieben.
Im Springen den Rucksack auf den Rücken, alle Sachen gepackt und losgeschossen.
Den Frecciarossa grad noch, um zwei Minuten, erreicht.

Ja, der Sekundenzeiger der Uhr bewegte sich nicht, dann bewegte er sich wieder, dann bewegte er sich sogar rückwärts, was meinen Jungen kichern ließ. Immer wieder sah ich zur Uhr, versuchte am Stöpsel zu drehen, zog ihn heraus, drückte ihn wieder hinein. An der Batterie kann es nicht liegen, die habe ich unmittelbar vor der Reise erneuern lassen.
Ist aber eine gute Uhr. Eine Geliebte, einst, schenkte sie mir mit einer nicht völlig unanzüglichen Bemerkung, die ich hier deshalb nicht wiederhole, sagen wir: der achtundachtzigsten >>>> Edith halber unsrer Kultur. Anderswo, Leser, ich find schon den Raum, der sich eignet. Jedenfalls schaute und schaute ich auf das Zifferblatt, und schließlich, weil mir das zu dumm wurde, nahm ich die Uhr vom Arm und ließ sie in den Arbeitsrucksack gleiten.
Ich hob den Blick. Schon Weiß auf Blau: ROMA TERMINI.
Nicht zu fassen.
Wir standen am Ende des Gleises in unserm Gepäck, das heißt: der Junge saß. An einem ganz anderen Gleisende warteten Melusine und der Freund. Als ich, nach zehn Minuten, mir das zu denken anfing, erfreute ich uns unsrer Handys.

Die Familie hat eine Wohnung nahe der Piazza dell’Indipendenza gemietet, schräg nördlich Terminis – preiswerter für vier Leute, als verbrächte man die Zeit in einem Hotel, zumal die Wohnung – knapp unterm Dach und mit einem allein von Glas abgetrennten, kommodlangen Balkon, der einer Terrasse mehr gleicht als einem Wintergarten, der es zugleich aber vorstellt – angenehm möbliert ist und hier gekocht werden kann. Ich würde täglich zur Piazza Vittorio spazieren, keine fünfzehn Minuten von hier, und um kaum nennenswertes Geld Fisch und Meeresfrüchte besorgen, wie ich’s vor dreizehn Jahren – ja, dreizehn Jahre ist das nun her – in meiner Zeit >>>> in der Massimo tat.
In diese Wohnung spazierten wir nun, nachdem das Gepäck am Deposito abgegeben war. Und wurden bewirtet: Prosciutto, Pesche, Formagio, Limonati e Caffè, Pane, Biscotti. Da saßen wir und plauderten. Parallalie und ich, immer mal wieder, traten hinaus, um zu rauchen. Ich sann, weil die Pfeife mehr Zeit haben möchte, als eine Zigarettenlänge währt, die fünf Stockwerke auf die Straße hinunter, dachte immer nur „Rom”. Mein 1998er Jahr, das bislang wohl schönste meines Lebens, läßt mich fühlen, nachhause zu kommen, wann immer ich wieder hier bin. Obwohl mir Neapel (senti)mental sehr viel näher ist: mehr Blut dort, das noch lebt. Aber ein anderes Blut ist’s in Rom, wenn man außerhalb der Touristenströme und eben nicht, wie damals ich, alimentiert lebt: „Pasolini weiß davon mehr”, sagt Parallalie, „als Fellini und sowieso mehr als Goethe j e m ’a l s, dem Rom nichts als ein Projektionsraum war.” Wie mir, sehr wahrscheinlich, Neapel.
So ging das lockre Gespräch und wie diese Stadt Melusine, Sie >>>> können es lesen, ein wenig zu überzuckert wurde, zu katholisch, könnte man sagen, in der Manier des Geschäfts, das hier der Glaube immer zugleich ist, beseeltes zwar, doch ÜbersOhrHaun eben und mit gar nicht schlechtem Gewissen – was wiederum eine Erklärung für Berlusconis ungebrochene Gegenwart ist: „Hier hat fast jeder seinen Dreck an dem Stecken, und wenn man Berlusconi wählt, der seinen Dreck legalisieren läßt, ist immer gleich die Hoffnung dabei, es würde der eigene gleich mit wettgemacht.”
Nun brachen wir zur >>>> Villa Torlonia auf, die ich fertiggestellt, also restauriert, noch gar nie gesehen hatte. Der Park drumrum war damals mein mittäglicher Laufparcours gewesen; die Anlage ist paar wenige Gehminuten von der Massimo weg. Scheußliche Kunst allerdings hat man vor den Palazzo gestellt, mit einer ihr angemessen dilettierenden Lieblosigkeit, der Seemann küßt sein Mädel fünfmanneshoch, und schaut man ihr unter den Rock, ist sie völlig geschlechtslos. Geruch nicht nach Weib noch nach Mann. Was auch sein Gutes hatte, weil ich zum einen dem Gespenst des Duces jede Scheußlichkeit gönne und weil, zum anderen, der gleichsam glosende Geruch der Pinien nicht überdeckt wurde, der einen großen Anteil an meinen Gefühlen nach Heimat hat.
Ich kannte die Torlonia beinah nur braun: verbranntes Gras, verdörrte Rabatten, Sand, Kies, grün nur, dunkel, die Pinien und paar Palmen, deren riesige Blumentöpfe als Deponien für Abfälle dienten. Jetzt ist das alles angenehm hergemacht.
Zwanzig Minuten blieben wir dort, dann spazierten wir zur Massimo hinüber. Ein anderes Rom, als Melusine es kannte. Parallalie erinnerte sich, schon einmal hiergewesen zu sein. Zu einem Konzert. Er merkte es aber erst, als wir die Anfahrt durch das sich öffnende, sehr hohe Schmiedeeisen erschritten. Ich lief kurz nach oben, im Herrenhaus, zum Sekretariat, grüßte, plauderte und meldete die Freunde an, damit man bescheidwisse, weshalb da Fremde auf dem Gelände… Wieder hinab und alle ein bißchen herumgeführt. Im Villino sah es so aus, als hätte Melusine von all der Schönheit ein bißchen Tränen in den Augen. Abermals dachte ich – und immer wieder, wenn ich hier bin, denk ich’s erneut -, wie privilegiert ich gewesen bin, ein ganzes Jahr, und bezahlt, an diesem Ort arbeiten zu dürfen. Aber dazu, und dann mit Bildern, wenn mein Junge und ich am Ende dieser Reise in der Massimo Station machen werden, für zwei Nächte, bevor unser Flug zurück nach Berlin geht.
Im Leseraum lag ein Fotoabend >>>> NAPULE SHOT. Eindringlich. Ich werd ihn mir bestellen. Doch war es nun Zeit, zurück zum Bahnhof zu fahren, mit meinem alten 36er; das Gepäck mußte noch abgeholt werden. Melusine und ihr Mann fuhren mit, vor Termini war der Abschied.
„Ihr wartet unten am Deposito auf mich, ich brauch noch Zigaretten”, so Parallalie, „und besorge gleich auch die Tickets bis Orte”, wo er seinen Wagen, als Pendler, hatte stehen.
Die Automaten funktionierten nicht; wir holten die ziemlich hohe Gebühr für die Gepäckaufbewahrung nun wieder herein, indem wir den Kontrolleur informierten und er uns in den Waggon bat: er werde später direkt kassieren… dann aber nicht kam. Man fährt bis Orte im Regionalzug fünfundvierzig Minuten, Orte Scalo, der eigentliche, alte Ort liegt Kilometer entfernt von der Station, ein fürs appenine und vor/appenine Italien ziemlich normaler Umstand, der allerdings den autolos Reisenden in einige Verzweiflung bringen kann, vor allem, wenn er nachts ankommt. Ich erinnere mich eines langen langen Nachtmarschs nach Enna, Zentralsizilien, hinauf, mit vollem Marschgepäck und in fast völligem Dunkel. Bis daß man begreift, man zahle sein Lehrgeld doch besser im blauen Überlandbus, weil der auch Berge erklettert, vor der die Eisenbahn kapituliert.
Also ins Auto und die halbe Stunde noch nach Amelia gefahren. Dort die Mittelaltergassen in der Runde hinauf, scharf um die geknickten Ecken, links bleiben Zwanzig Zentimeter Platz, damit die Fußgänger unverunfallt weiterleben. Italienisches Autofahren ist in den kleinen Orten stets ein Voltigieren durch Raum.
Der Cortile nun, Poetischer Hof, für den wir, Parallalie und ich, im vergangenen Sommer den Plan entwarfen eines kleinen Festivals der Dichter, italienischer deutscher, und ein erster Schritt scheint nun gemacht: Heute abend, wenn auch anderswo, doch nahbei, wird es eine Lesung geben, Parallalie hat Herbst übersetzt und las mir gestern nacht vor, beim Wein:

alzasti le braccia allora

e
l’ombra acre di peli rasati
sotto le tue ascelle
legò

il continente: tutti gli specchi
del Nilo e della

brama

Nun gibt es das von >>>> Prunier bereits ins Französische übertragene Bändchen bald auch italienisch. Was mich nicht nur stolz macht, sondern ich hatte den Nahsten Orient tatsächlich fast schon vergessen. Es war eine ganz unvermutete Wiederbegegnung, als der schöne Heftband auf dem Abendbrotstisch lag. Während dann Parallalie seine Nachdichtung vorlas, war nebenan mein Junge einfach in den Schlaf gefallen.Das erste Bett wieder seit Tagen.„Permesso?” klang’s von der Tür. Und eine Freundin kam herein, mit der wir dann bis ein oder zwei Uhr nachts am Tisch weitersaßen und auf die drei Liter Wein kamen, um von dem Rauchzeug einmal zu schweigen, das in dem großen Raum verbrannte, der zugleich die Küche ist.

10.07 Uhr:
Es wird ein ruhiger Tag werden bis zum Abend, also zur Lesung. Ich habe noch einmal umgebaut und nun einen wirklichen Schreibtisch auf dem Cortile, an dem es sich arbeiten und auch Énards „Zone” weiterlesen läßt. Parallalie kommt immer mal wieder heraus, raucht eine Zigarette, grübelt über einer Übersetzung, die er als Auftrag bekommen, und ärgert sich mit einem Übersetzungsprogramm herum, das sein Computer nicht laden will. Ich habe M., den Freund in Berlin, per Email um Hilfe gebeten. Es gibt WiFi, und der Zugang klappt, allerdings nur drinnen, weil die schweren alten Mauern, mit denen der Hof umgeben ist, die Funkverbindung wegschirmen. Aber auch dem Eßtisch drinnen steht ein offener Laptop, über den ich im Netz agieren kann, wenn ich nicht dauernd mit meinem eignen Gerät den Platz wechseln will. Was ich indessen, um dieses in Die Dschungel zu stellen, gleich mal tun werde.
Mein Bub wiederum liegt erneut im Bett, mampft Ciambelline mit Milch und liest sich durch die Asterixhefte, die er im Zimmer gefunden hat. Von der Schreinerei jenseits der Mauer hört man bisweilen ein Sägen. Dann klingt Geklirr von lackierter Erde und metallisches Scharren, wo renoviert wird. Ganz selten, weil wir fast an der höchsten Stelle des Bergortes sind, ist auch ein Moped zu hören. Mein Eindruck ist einer währenden Siesta. Obwohl es nicht Mittag, sondern lange noch Vormittag ist. Noch hat die Sonne den Brunnen nicht erreicht, den rotgemauerten, von einer bronzenen Metallplatte abgedeckten, über die noch dreifach im Bogen geschmiedeter Rost in dem Aufhängungsbogen auf einen Eimer wartet, der nicht mehr kommt.

13.02 Uhr:19.38 Uhr:
[Wohnküche des Kardinals.]Nun wird wieder gekocht, und dann wird gegessen werden, bevor wir uns zu der Lesung aufmachen wollen, meiner eigenen sowie, vor allem, der der Übersetzungen >>>> Parallalies. Den Nachmittag habe ich, derweil mein Junge mit seinen amerinischen Freunden Eugenio und Paolo herumgestromert ist, mit Lesen zugebracht, sprachlos vor diesem Text:

… mein Vergnügen beim Schnitt in das vor Verzweiflung bebende Fleisch eines unschuldigen Irren, dieses wohltuende Erbrechen auf den Mantel der hochmütigen Dame in Triest, letzte ätzende Spur eines Mannes, dessen Tage gezählt waren, diese Uniform diese Camouflagen, die Soldaten und Kirchenmänner einander ähnlich macht, sie alle werde ich auf einen Zug runterspülen auf der schnurgeraden Strecke zwischen Bologna und Rom, von den Gleisen zwangsläufig zu einem anderen Schicksal, gleich dem Lokomotivführer, der als einziger seiner Berufsgruppe nicht über die Fahrtrichtung seiner Maschine bestimmen kann, sondern vom Metall gezwungen wird wie im Krieg die Hand zur Kehle seines Opfers, er kann keine andere Richtung einschlagen, er kennt seinen Dienst, er weiß, wohin es geht, ich stolpere durch den Zug, man weiß nichts vom Zögern der Klinge über den Knorpelspangen der Luftröhre, vom Ersticken im Blut, den hellroten und roten Luftblasen im sprudelnden Strahl und diesem Reflex des Verurteilten, jener Handbewegung zum Hals hin, der eine Verrenkung des ganzen Körpers folgt, die denjenigen erfreut, der diese Arterie und diese Hohlvene durchschneidet, diesem Vergnügen des Henkers, der anschließend zufrieden beobachtet, wie die riesige Lache unter dem reglosen Kopf immer noch anschwillt, ich gehe durch einen weiteren Waggon der ersten Klasse, der Zug scheint sich in Bologna geleert zu haben, das Bordbistrot sieht aus wie ein Soldatenbordell, immer dieser rote Samt, in den muslimischen Dörfern sah ich schöne unberührte Kämpfer, in deren dunklen Augen plötzlich die Wut des Vergewaltigers aufflammte, waren sie befriedigt, hätten sie wie Hyänen jeden niedergemacht, der sich ihrer Beute hätte nähern wollen, sie wollten die Frau für sich behalten, die sie gerade gefoltert hatten, wollten Liebe im Schmerz schenken, eine biblische Geste von unendlicher Schönheit, kindlich und einsam, manche weinten, wenn sie ihre Opfer vollends erldigten, weiß der Geier, wo die Reste ihrer Mütter, ihrer Geliebten abgeblieben waren, denen sie Telegramme schickten…
Matthias Énard, >>>> Zone.

– welch eine Bestandsaufnahme des 20. Jahrhunderts als Folge aller Jahrhunderte zuvor und ihrer Fortsetzung seit den troischen Greueln und schon allen denen zuvor! Und dennoch! Dennoch! „Woher nehmen Sie nur Ihren unbedingten Glauben an das Leben?” hat mich vor Jahren Christa Bürger gefragt. Vielleicht eben daraus, daß wir Gesänge aus dem Elend destillieren können, die wie der Grappa sind, den ich gerade trinke. Und weil es Kinder gibt, die nebenan jetzt toben.

21.46 Uhr:
[Bach, Sonaten für Gambe und Cembalo.]
Und dann kommt es anders als geplant. Das ist mit Kindern so.
Überhitzt kommt mein Junge zur Tür herein mit seinen beiden amerinischen Freunden, die genetisch sudanesischen Ursprunges sind und denen die Sonne deshalb kaum etwas ausmacht. Jedenfalls wirft sich der Bub auf die Couch, will etwas ruhen – und plötzlich übergibt er sich. Ich hochgesprungen, die Stirn ihm zu halten, meine andre Hand in seinem Nacken. „Ganz ruhig”, sag ich, „einfach ruhig. Weißt du noch, was du gegessen?” Das Zeug ist ganz braun, schokoladig verschliert mit der Säure. Dreivier Stöße, dann ist es gut. Ich wische auf, vorher geb ich ihm ein Taschentuch, fühle nochmal seine Stirn: der Kopf ist dunkel pulsend, aber kühl. Der Sonnenstich, denk ich. „Stellst du bitte”, dies zu Parallalie, „die Bohnen aus?” die ich dem Jungen, weil er sie liebt, zum Abendbrot gekocht. Und das Steak kommt gleich in den Kühlschrank. „Geht es wieder?” „Ja”, sagt er, „das war es jetzt. Ich möchte mich nur drüben hinlegen.” Die beiden Freunde drucksen bißchen herum, dann sind sie plötzlich weg, wohl selbst erschrocken über diese Vomitage.
Ich bringe den Jungen hinüber, geh noch mal hinaus, um für alle Fälle einen Eimer bereitzustellen (etwas Wasser muß den Boden bedecken und, um den Geruch zu binden, Zitronensaft hinein – gegen Essig hab ich einen Widerwillen); als ich damit zurückkomme, ist der Bub schon eingeschlafen. Selbst mein Kuß weckt ihn nicht. Fieber? Nein, keines. Vierfünfmal schau ich noch nach. Manchmal, wenn mein krankes Kind schläft, bekomme ich kleine Angstanfälle, er könne nicht mehr leben; dann lege ich mein Ohr an seine Nase und fühle nach seinem Puls. Er schläft einfach, sehr tief, und ist eine Schönheit, wenn er so schläft.
„Ich laß die Tür offen”, flüstere ich ihm ins Ohr.
„Da kann ich nicht mit”, sag ich Parallalie, „heute abend. Tut mir leid, sehr leid, aber ich laß mein Kind nicht allein. Nein, auch keinen Babysitter, schon gar nicht jemanden, den er nicht kennt, geschweige von fremder Sprache. Kannst du das ohne mich machen? Jeder wird es verstehen, Italiener sowieso.”
Einen Moment lang ist der Freund unsicher, wie er das mit den Gedichten alleine bestreitet; dann haben wir die Idee, die eigentlich auch sehr viel besser zur eigentlichen Planung paßt: „Also wenn diese Leute das wollen, dann laß uns das doch in den nächsten Tagen hier im Cortile wiederholen.”
Nun ist der Freund davon. Der Junge schläft und schläft. Sowas wie Zwieback steht bereit. Ich werd mal versuchen, ob ich die Löwin erreiche; vielleicht per Skype. Ansonsten werde ich den Énard weiterlesen und meinem Lektor Delf Schmidt, der die deutsche Übersetzung betreut hat, eine Mail schreiben, wie grandios ich diesen Roman finde. Der den, vielleicht, einzigen Makel hat, daß er keine stets identifizierbaren Personen schafft; sondern ihrer aller, wie des Erzählers, Konturen werden mitgerissen im Strom der Gewalt und Geschichte – jüngster, zu der sich heute die Entsetzen Oslos addiert haben.

0.11 Uhr:
Wichtig! Niemals vergessen! >>>> Die beiden Stuten und ich. Vielleicht steckt in dieser Antwort der Lösungsansatz für die nie gerundete Erzählung.

Immer noch Bach.

12 thoughts on “InniTalien 6, amelien. Darin, aber nur kurz, von einem Nachmittag in Rom erzählt wird und ganz ohne Kirchen. Das Reisejournal des Freitags, dem 22. Juli 2011. Wiedersehen mit dem Cortile. Dazu die Zone von Énard, sowie ein krankes Kind am Abend.

  1. “Jetzt hast du wieder das r vergessen!” ruft soeben Parallalie aus seinem Arbeitszimmer um die Ecke zum Eßtisch. “In Frecciarossa!”
    Ich, ergeben: “Okay. Ich ändere es gleich.”

    (Passiert.)

    Und wir gehn jetzt in die Bar, um Cornetti und jeder seinen Caffè zu nehmen. Und um auf die Piazza zu blinzeln.

  2. dachte immer nur „Rom“ Ohnehin lese ich Sie gern – Rhythmus, Brechung, Sprache, Satzmelodie. Aber die paar Absätze da in der Mitte, über das a l t e Rom, „alt“ gemeint als: längst geborgen in der Seele, die sind wunderbar. Sie formulieren, Sie Form-geben das eigenartige und warme Gefühl von heimatlicher Fremde. Eine Art Melange. Alte Gemäuer und Patina, altes Leben und Erinnerung, Alter und Vergänglichkeit, alles eingebettet ins Jetzt mit Pasta, Tabak, Sohn und Melusine, im Gleichklang mit Sonne und Autolärm, auf römisches Gewimmel blickend. Und dann murmelt man den Namen des Ortes immer wieder, immer wieder vor sich hin.

    „Nachhause zu kommen, wann immer ich wieder hier bin.“ Form gewordenes Wort für etwas, das wichtig ist im Leben. Wer Glück hat, der hat solche Orte. Ist es auch Rom? Die Frage kommt, denn es lebt mir wieder auf bei Ihren Beschreibungen. Rom, na ja, vielleicht nicht ganz! Obwohl – auch ich war als Junge schon zum ersten Mal dort, so alt vielleicht, wie Ihr Junge jetzt (der hat auch Glück). Aber meine Orte liegen wohl noch mehr woanders. London zum Beispiel. Ist aber egal, welcher. Diese Orte, die ich meine, die haben sich eingearbeitet in einen. Vor langer Zeit. Ganz selbstverständlich. Der Geruch ist eingeatmet. Die Form ertastet. Auch man selber wurde ja erobert. Hat sich eingenistet wie ein w e i ß e r Knopf (um `mal die Haderlap-Formulierung abzuändern). Ist geborgen dort. Man kommt wieder und ist zurück. Ist auch Sentimentalität dabei. Sentimentalität ist gut (anders Melusine, wenn ich eine Diskussion richtig erinnere).

    Schönen Urlaub noch!
    Beste Grüße
    NO

    1. Es war die Nostalgie, NO, die ich nicht mag (besonders bei mir selbst), nicht dagegen die Sentimentalität. (Aber schön, wirklich, wieder von Ihnen zu lesen!)

      Herzliche Grüße, noch aus Rom

      Melusine

  3. Ich mach mir Sorgen! Nicht so viel Eis, nicht so viel Limo, nicht so viel Pizza. Achten Sie auf Ihren Jungen, Herr Herbst. Wirkt ein wenig aus der Form geraten. Aber vielleicht liegt es auch nur an den Aufnahmen. Nicht falsch verstehen, ist halt aus der Sicht einer sorgenden Mutter.

    1. Liebe Mutter, “etwas aus der Form geraten” finde ich gegenüber einem Ihnen fremden Kind eine weder angemessene noch überhaupt mütterliche Formulierung, und daß Sie sich, eine uns ganz Fremde, Sorgen machten, halte ich für verlogen wie die Unterschrift “ein Freund” unter anonymen Warnbriefen. Wiederum mich angreifen zu wollen, indem Sie mein Kind benutzen, scheint mir auf dasselbe Konto derer zu gehen, die hier immer wieder gelöscht werden und denen, mit Verlaub, eine geknallt gehört.
      Was nun die Sache selbst anbelangt, so wird sie sich, sowie dem Burschen das Testosteron aufschießt, ganz von selbst erledigen, aber solche wie Sie werden davon ganz sicher nicht Nutznießer sein. Und selbst, wenn mein Junge sehr viel Eis und ansonsten n u r Pizza äße, wären es s e i n e Bauchschmerzen, wie tatsächlich jetzt, und daraus wird er für sich selber lernen. Ich jedenfalls vergälle ihm die Ferien mit Gesundheitsanweisungen oder gar Ideobioökologien nicht.
      Ziemlich wenig der Ihre:
      ANH

    2. Verwahrung Nicht so. Nicht in dieser Sprache und mit diesen Unterstellungen. Das sind mir die richtigen Väter. Übernehmen von der Mutter einen schlanken Burschen und liefern ihn nach ein paar Tagen Ferien als Dickerchen wieder ab. Und das nur, weil sie nicht Nein sagen können. Und dann noch ihre Unfähigkeit mit kommenden Testosteronschüben kaschieren oder von ihr mit bösartigen Nutznießerunterstellungen ablenken. Nein-Sagen und auf Alternativen hinweisen (Obst, Wasser, Nüsse z. B. ) ist noch lange keine Ideobioökologie. Ich hatte Sie eigentlich bisher ganz anders gelesen und vor allem als Freundin.

    3. “Und das nur, weil sie nicht Nein sagen können. ” Nur weil jemand eine Frau ist, sag ich noch lange nicht “Ja”. Sie irren sich also. Sowieso. “Übernehmen von der Mutter” – was ein Unfug. Da Sie aber anonym schreiben und jetzt eben auch nicht davor zurückschrecken, mich zulasten eines Kindes zu attackieren, werden meine übrigen Leser schon wissen, was von Ihrem Character zu halten ist. Bitte seien Sie also so gut, sich – und zwar heftig – geohrfeigt zu fühlen. Weitere solche Kommentare, die meinen Sohn betreffen, werden fortan gelöscht.

    4. Mutter Mein Gott, diese Mütter und diese Mutter, als hätte(n) sie es geahnt. Und sicher nicht bös gemeint, wenn ich das so lesen. Dem Jungen gute Besserung.

    5. Ach was! @Walker. Die hat g a r nichts geahnt, sondern ihr (uns bekanntes) Vorverurteilen geritten. Daß Kinder auch in den Ferien mal krank werden, und meist geht das ganz schnell vorüber, ist völlig normal. Die Aufregung, die Erregung, die Fremde, die gelösten Eindrücke, die Freiheit und die Lust… dazu die ungewohnte Sonnenkraft, das Hasten, das Rennen – joa mei, um das bajuvarisch zu sagen, wen wundert’s denn? Jedenfalls ist das einzige, was mir wirklich auf den Keks geht, Ihre Besserwisserei – von der bekanntlich jene voll sind, die Kinder gar nie zuwegegebracht haben, aber um so klarbizarrer in ihren Vorstellungen von Erziehung sind.

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