Es gibt bei Junge eine Figur, die in die rechtsradikale Jugendszene gehört: den Schnitzer. Er ist höchst ambivalent von der Autorin gebaut, denn zu Mädchen ist er auf eine verschoben-grausame Weise in hohem Maß zärtlich. Mit ihm gibt es eine theatralische Stelle, die ich fürs Hörstück dramatisiert habe, nur kurz, knapp dreiundzwanzig Sekunden lang. Diese Stelle wollte ich von jungen Obdachlosen sprechen lassen, von Punks vielleicht oder anderen, die vor den Einkaufsmärkten oder in Parks herumlungern. Ich fand dann auch eine Gruppe. Nur war der Schnitzer-Sprecher derart betrunken, daß man sein Lallen nur zeitweise, dann aber scharf und aggressiv, versteht. Und die anderen der Gruppe machten Unfug; schließlich weigerte sich auch noch die junge Frau, die anfangs unbedingt mitsprechen wollte, noch irgendwas zu sagen, weil ihr der Schnitzer-Sprecher auf den Keks ging. Hübsch wiederum war, daß mir ein anderer aus der Gruppe zart an den Leib ging und fragte, ob ich schon einen Freund hätte… – jedenfalls entglitt mir die Situation oder war doch dabei, mir zu entgleiten, und ich machte mich davon. Pech nicht nur für mich, sondern auch für die Gruppe, denn ich hatte vorgehabt, ihr einen Fünfer dazulassen.
Die fehlenden Partien hab ich dann im Studio von Sukov und Chohan nachsprechen lassen und mittlerweile in die Aufnahme montiert. Das Ergebnis ist anhörbar, geradezu illustrativ, aber völlig gefällt es mir noch nicht. Deshalb nehme ich jetzt, wann immer ich draußen bin, den Recorder und das eine TS-Blatt mit mir und schaue nach einer weiteren Gruppe.
Dafür habe ich eine derart grandiose Aufnahme von einem anderen Obdachlosen, daß ich ihn gerne immer wieder mal, auch für Längeres, zu meinen Hörstücken beiziehen möchte. Er hat einen geradezu seelenvollen Baß. Da er immer an derselben Stelle sitzt, wenn das Wetter es zuläßt, werd ich ihn drauf ansprechen.
Interessant übrigens ist, daß die doch sehr herausgehobene Schnitzer-Figur Junges, ohne die >>>> der ganze Roman gar nicht denkbar wäre, in keiner der seinerzeit erschienenen, insgesamt und zu recht sehr guten Kritiken auch nur erwähnt wird. Man geht mit Tabubrüchen auf zweierlei Weise um: entweder, man schlägt zu und grenzt aus, oder man nimmt sie nicht wahr:: verdrängt sie.
Dann gibt es ein objektives Problem: Die Sendung soll 54:40 lang sein. Ich habe als Gerüst des Stücks aber Mozarts Requiem genommen, das in meiner Aufnahme 55 Minuten dauert; >>>> da ist jetzt eine Lösung zu finden. Bevor ich aber die An- und Absage-Takes nicht habe, die von der Redakteurin gesprochen und direkt in das Stück integriert werden sollen, kann ich ohnedies keine Endfassung herstellen. Daß ich diese Takes noch nicht habe, liegt freilich an mir; bis gestern nacht waren noch nicht alle Musiken klar, die ich verwenden würde; da nämlich Musik eine der entscheidenden Rollen in meinen Hörstücken spielt, will ich die Komponisten auch genannt haben.
Abgesehen von einem einzigen Sprecherstück, das mir thematisch nachgeklappert vorkommt und noch ganz anders als jetzt eingebaut werden muß, ist von heute an meine Arbeit an diesem Stück „nur” noch von musikalischer Natur; die Semantik hingegen steht.
[Zum weiteren Vorgehen heute >>>> siehe Abeitsjournal, 15.40 Uhr.]
Nebenbei, um Ihnen den Umfang dieser Arbeit klarzumachen: Momentan sind an dem Hörstück 1150 Dateien beteiligt, von denen rund 1100 Tondateien sind. Die Zahl 1150 weiß ich deshalb so genau, weil mein Sicherungsprogramm sie ausweist, das meine Vortagsarbeit jeweils auf die getrennte Sicherungsplatte kopiert.