Aller Jazz und keiner. Über die Musik. Zu ACT‘s 25-Jahre-Jubiläum im Konzerthaus Berlin am 2. April 2017. Nicht nur eine Kritik.



act 25 Bearb




Wir können darüber streiten, ob alles, was ich vorgestern abend >>>> dort gehört habe, Jazz sei. Siggi Loch, Chef des ACT-Labels, als er das Publikum im nahezu ausverkauften Konzerthaus begrüßte, sprach es selbst an, sprach ironisch von einer Jazzpolizei, die, sagen wir es so, Strafzettel verteile. Was allenfalls Politessen so tun (für die Männer unter ihnen gibt es aus gutem Grund keinen Namen).
Welcherart Musik etwas sei, interessiert mich so wenig wie ihn; sie muß gut sein, der Rest ist Schubladendenken.
Doch wann ist sie es, wann nicht?
Allgemeine Begeisterung kann der Schlüssel nicht sein, allzuleicht, nämlich gefällig herbeigerührte Rührung erst recht nicht. Ebensowenig die Beherrschung der technischen Mittel; meine mütterliche Freundin Renate Wucher sprach in dieser Hinsicht gleichermaßen streng wie abfällig von Instrumentalakrobatik. „Die Musik“, lehrte sie mich, „ist kein Zirkus.“ Ich erinnere an >>>> Mstislaw Rostropowitschs Satz – geäußert als Antwort auf eines Journalisten Frage zu seiner stupenden Fingerfertigkeit –: „Ach wissen Sie, irgendwann hört Technik auf, ein Problem zu sein.“ Womit er meinte, die Probleme fingen überhaupt erst da an – künstlerische nämlich: „Musik fängt dann erst an.“
Was ich meine, gleicht dem Unterschied zwischen Musikant und Musiker. Dieser muß (oder sollte, weil es hilft) ein Musikant schon sein, doch jener, notwendigerweise, ist Musiker nicht. Gute Musik erschöpft sich nicht im Spaß (der etwas anderes als Lust ist, nämlich flach); doch ohne bisweiligen Spaß – fun in der Sprache der Unterhaltungsindustrie – verliert sie ihren Kontakt zum Publikum: das hat vor tiefer Lust nicht selten eine ebensolche Angst wie vor der Tragödie, deren reinigender Ausdruck und Überwindung sie ist. Zart Gedicht wie Regenbogen, schrieb Goethe, wird nur auf dunklen Grund gezogen.
Zu betonen ist das „dunklen“.
Es ist bisweilen ein dünner Steg über sei es trübe Tümpel, sei es klare, tiefe Seen. Und leider gibt es Hochseilakte ohne Höhe. Dummerweise sind sie in der Mehrzahl. Wer im Sumpf sitzt, schaut ja doch eh hinauf und hält den abgebrochnen morschen Ast, den ihm wer hinhält, noch dann für seine Himmelsleiter, wenn schon die erste Sprosse bricht.

Nun waren Nachmittag und Abend Feierstunden; es ward ja ein Jubiläum begangen. Da muß man‘s vielleicht nicht so genau nehmen – oder vielleicht gerade darum. Denn in den vergangenen 25 Jahren haben Siggi Loch und sein Team ihr Label zum führenden des europäischen Jazz‘ werden lassen, nachdem sich das Pionierunternehmen >>>> ECM in Weltmusikskitsch verschmiert und in die rosanen Himmel der Banalesoterik hinaufenterdet hat – freilich nicht rundweg: >>>> der späte Jarrett etwa ist davon ausgenommen, der zunehmend strenger, sagen wir: konzentriert-puristisch wurde, so, wie es alten Künstlern ansteht. Hingegen sind Garbarek und Hilliard nun wirklich nicht mehr auszuhalten (- mit schwerem Herzen schreib ich das).
„Europäisch“, hier, meint nicht Ausgrenzung, sondern eine geistige Haltung, deren Grundlage Geschichte ist, sei es die von Musik, sei‘s eine politische. Da kam aus Schweden schon früh eine Rückbesinnung auf Volksmusik, gar nicht unähnlich den ungarischen Bestrebungen im Neoklassizismus. In dem Sinn nennt sich ACT auch „in the spirit of Jazz“. Immerhin bezog sich bereits dessen schwarzer Ursprung, in den USA, auf – im weiten Sinn verstanden – Folk: Spiritual, bzw. Gospel, Arbeiterlieder und Blues.
Am Anfang sind es fast immer entsprechend einfache Melodiebögen; mit der Postmoderne wurden es zunehmend nur noch Akkordfolgen, deren Teufelsfuß bereits Nietzsche erkannte („…ein Mittel des Ausdrucks, der Gebärden-Verstärkung“, Der Fall Wagner, 1888). Diese Bögen oder Akkorde werden dann in zunehmend komplexe Klanggebilde entwickelt. Bei einigen Musikern sind es sogar extrem komplizierte, die aber oft in die Melodiebögen wieder auslaufen – ein Verfahren, daß auch musikalisch nicht geschulten Ohren Befriedigung schenkt – in seltenen, weil höchsten Momenten sogar schauerartige Glückszustände. Für Aficionados sind sie sinnlich um so größer, je komplexer die Improvisation war – ja, je weiter sie über den Quintenzirkel hinausgriff.
Die Nähe der Improvisationskunst zu den sogenannten „Variationen“ in der abendländischen „klassischen“ Musik liegt auf der Hand; ein Beispiel seit dem Barock ist besonders die >>>> Chaconne. Nur komponiert der Jazz die Variationen nicht vor, sondern sie entstehen, im Idealfall, in den und durch die ausführenden Musiker:innen: Diese reproduzieren nicht mehr „nur“, sondern gestalten spontan selbst. Da die Grunderfindung (das Thema/die Melodie) meist simpel ist, gibt es Tausende sogenannter Standards als Ausgangsmaterial, die aufgrund des Verfahrens sowohl das Zeug haben, Große Musik zu werden, als auch bleiben können, was sie sind: simpel und im schlimmen Falle seicht. Doch diese Standards erlangen Berühmtheit als „Song“.
Hier genau liegen die Probleme des Jazz‘.
Sie wurden mir gestern abend vor Ohren geführt, in allen Varianzen – wie kaum je in nur zwei aufeinanderfolgenden Konzerten.
Das machte den Nachmittag so groß wie den Abend. Das machte beide schaurig. Das machte sie genauso hinreißend wie schwer erträglich. Es machte, daß ich nach viereinhalb Stunden Musik hätte weitere viereinhalb hören können und es vor allem auch hätte wollen. Statt dessen gab‘s dann Schnittchen.

Hinreißend – ob Jazz, ob nicht – begann bereits das Nachmittagskonzert. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es genügt, Youn Nuh Sah nur zu hören. Bei Ulf Wakenius‘ Gitarre weiß auch ein Blinder: eine Gitarre. Hingegen Youn Nuh Sahs Stimme (berührend Stimmchen, wenn sie nur spricht: ein‘s jeden Vaterherz im Saal ward eines liebend Jünglings wieder) ist Sang und Perkussion zugleich, ein Hauch und Sturm und fremdes Instrument. Und beobachten Sie nur ihre Hände! Schon das Heben der Arme dirigiert sich selbst. Ich war sofort an Jewgenji Svetlanovs Empfehlung erinnert, alle jungen Dirigenten möchten doch bitte Glenn Goulds Gebärden beim Klavierspielen verinnerlichen: „Das ist es, was wir tun!“ So auch streift sich oder schlägt die junge zarte Frau Maultrommeltöne aus dem Resonanzkörper, den ihre Wangen umschließen (ohne daß eine Maultrommel wäre…).
Das ist nicht neu; eine ähnlich kunstvolle Stimmklangstechnik machte schon >>>> Bobby McFerrin berühmt und ließ ihn die Grenzen der Genres weit überschreiten. Youn Nuh Sahs Stimme indes, dieses, wenn gesprochen, Stimmchen, schwillt auch zum tragödischen Ergreifen ganzer Opernsälen an. Schon ist der weite Raum, nicht nur der Mundraum noch, zum Resonanzkörper geworden. Unerachtet dessen geht sie plötzlich nach innen und trägt im herzergreifenden Stil Jacques Brels ein trauerndes Chanson von >>>> Léo Ferré vor (von „Ne me quitte pas“ Brels „p“s an den Lippen). Einfühlsamst begleitet Wakenius es auf der Gitarre, der, wie er danach problemlos beweist, auch mal ziemlich – sozusagen spanisch – loslegen kann. – Abgehakt: auch er ein Virtuose.
Für eine halbe Stunde jedenfalls Staunen, nichts als Staunen:


Es wäre kein wirkliches Jubiläum, wäre nicht auch eines der ästhetisch entscheidenden Träger des ACT-Programms gedacht worden. So war der zweite Teil dieses ersten Konzertes >>>> Esbjörn Svensson gewidmet, der vor neun Jahren beim Tauchen verstarb. Seine unterdessen fast erwachsenen Söhne spielten in des Nachmittags letztem Stück solistisch an der EGitarre und am Schlagzeug mit.
>>>> Iiro Rantala, Svensson zu Lebzeiten verbunden, hatte die Abfolge zusammengestellt. Klar, daß Hommages vorgeführt würden, etwa das sangliche Tears for Esbjörn von Rantala selbst, aber auch Esbjörns bekannteste Hits. Ebenso klar war der brandende Applaus vorprogrammiert. Immerhin war der Saal mindestens zur Hälfte mit ACT-Fans voll.
Prinzipiell gar nichts dagegen, das ist ja beinah immer so. Aber gemeinschaftliches gleiches Meinen führt in die Blendung, wenn dieses Meinen zwanzig Leute übersteigt und plötzlich tausend Gleiches meinen.
So können wir uns zwar darüber streiten, ob die pure Repetition musikalischer Themen qualitätsfähig ist, wenn sie als fast ausschließliches Mittel daherkommt. Im Minimal wird das bejaht; ich persönlich seh es skeptisch, in diesem Fall bei >>>> Adam Bałdychs als Svensson-Hommage geschriebenem Letter to eat. Mir war das Stück durchaus öde. Denn imgrunde gab es keinerlei tatsächliche Entwicklung. Immerhin hatte sich davor From Gagarin‘s Point of View zu einer balladesken Improvisation aufgeschwungen, in der sich die Instrumente – unter hohlen, sozusagen weltraumleeren und fast mechanisch durchgehaltenen Schlägen auf die Trommelränder – miteinander erst sinnierend unterhielten, dann unter zweidrei kurzen Blitzen aus der EGitarre sogar dissonnant aufbäumten, um sich schließlich sanft wieder auszuträumen. Und When Good created the Coffeebreak war ein temporeiches Wechselspiel mit virtuosen, nach Jazzart begleiteten Soli.
So weit, so – ecco – Standard. Zwar da schon war das Diktat der Gefälligkeit zu spüren. So nenne ich den Schönen Schein. Dann aber wurde es schlimm.
Das Niveau fiel auf Andrew Lloyd Webbers hinab, bei dem von einem Niveau bekanntlich nicht gesprochen werden kann. Schon Rantalas Ansage warnte: „Please give the warmest welcme to the garden of love“ – und hereindivante in Größe einer Menschenfrau eine langbeinige Barbie-Replikantin von Rauschengelsblond, deren Stimme wir „okay“ nennen können, nur daß sie sie nutzte wie jedes Schlagersternchen seit >>>> Dieter Thomas Heck. So kam es zum entsetzlichsten Pop-Sound, ich spreche von Charts, der sich nur denken läßt, auch wenn man denken sowas nicht will. Aus den „you“s wurden verhallte „jujuju“s, das Schlagzeug gähnte durch Langeweile, und daß Rantala ein bißchen dazuimprovisierte, nun jà, was sollte er denn tun? Aber selbst >>>> Magnus Lindgrens wunderschöner Flötenklang diente nur dem schönem Schein.
Das Publikum war glücklich. Es konnte, begriff ich da, gar nicht unterscheiden, hielt Flachheit wirklich für Tiefe. Um es politisch auszudrücken: Der Kapitalismus, dessen Ästhetik der Pop ist, hat über die Menschen gesiegt, sie haben ihn vollständig eingeatmet. Da durfte auf den Pop die Big Band folgen, immerhin dräuend von eines Esbjörnsohnes EGitarre rockig durchsetzt. Dann ging‘s zu Andrew Lloyd Webber zurück, bzw. seinen Brüdern und Schwestern im Ungeist, der in diesem Falle When we meet again, nun jà, „sang“. Wieder gab sich die blonde Replikantin als hüftenswingendes Gogogirl aus irgendeiner Disco Mallorcas – welch ein Unterschied zu den Bewegungen Youn Sun Nahs! – , wieder wurde keine Pfütze ausgelassen, trübe von Klischees. Das geht, tritt man rein, von den Schuhen nicht ab.
Ich schreibe „Disco“ mit Absicht, schreibe nicht etwa „Club“.

Vielleicht wird jetzt meine ein wenig lange Einleitung klar. Daß nämlich zu fürchten steht, Adorno habe recht gehabt. Es war fast so, als wollte man dem Unfug, den er über den Jazz geschrieben, nach der ganzen Geschichte des Jazz‘ – die Adorno nicht voraussah und gewiß nicht für möglich gehalten hätte; er kannte New Orleans, allenfalls noch Swing – – also es war, als wollte man dem kulturpessimistischen Philosophen endlich das Rechthaben geben. So darf der Konsument von heute gerne politisch linker Meinung sein und auch sonst mal hie wie da opponieren; die Ästhetik, die den Gegner finanziert, bejubelt er gleichwohl: sein Herz bejubelt sie.
Stehender Applaus.

Dabei geht es gar nicht um den Kitsch. Denn davon gibt es guten und schlechten.
Als ich wieder draußen saß, um die knapp zwei Stunden bis zum kommenden Konzert zu überbrücken, brachte es am Nebentisch jemand auf den Punkt. Die Vorführung war seicht.
Eben hier liegt das Problem: daß solche Seichtheit mit Wahrheit verwechselt wird. Adorno sprach vom industriellen Verblendungszusammenhang.
Dem war das Publikum erlegen.
Auch die sogenannte Klassik hat er längst erreicht, etwa wenn hier in Berlin die „neue“ Reihe >>>> „Neue Meister“ produziert wird. Nicht darum geht es, wie der Nachbar am Tisch nebenan ganz genauso genau bezeichnete, daß eine „neue Romantik“ Einzug gehalten habe; das wäre verständlich und würde sich zeitangemessene Wege suchen, sondern darum daß Romantik, die immer nach Tiefe gesucht, bisweilen sogar gewühlt hat, genau dies nicht mehr tut, sondern sehr bewußt an der Oberfläche bleibt. Also ist es keine. Sondern was so genannt wird nun, kommt aus dem Musical: Entertainment. Broadway, nicht Village.
Nein, es geht nicht um den Kitsch. Léhar ist Kitsch, Puccini auch, seicht indes nur jener. Und noch einmal Adorno: falscher Vorschein. Die Höhepunkte in Jarretts >>>> Köln Concert waren alle Kitsch, keiner von ihnen war seicht. Tatsächlich waren sie improvisierend errungen, und die Hörer:innen, durch tätiges Hören, errangen sie mit. Das machte das Konzert so groß. Auch Youn Sun Nahs Ferré-Chanson war Kitsch, seicht aber eben nicht.
Seichtheit scheint nur. Ich habe sehr bewußt den Begriff der Blendung gewählt. Geblendete sehen nicht, was hinter der Lichtquelle steht. Und wenn sie gern geblendet sind, dann wolln sie‘s auch nicht sehen.

Beinah ist es zum Verzweifeln. Denn anzunehmen, es machten da nur unausgebildete Menschen mit, immerhin die große Mehrheit, ist ein völliger Irrtum. Auf keinen Fall will ich glauben, daß die Entwickling eine Miterscheinung, gar notwendigerweise, der sogenannten Demokratisierung ist.
Es wäre schlichtweg, im Wortsinn, fatal.
„Warum muß er denn über seine Cellotöne elektronische Streicherharmonien schichten?“ fragte ich später auf dem Empfang. – „Na weil es schön ist“, bekam ich zur Antwort.
Mir hatte sich dabei der Magen umgedreht. Buttercreme ist in der Nachkriegszeit beliebt gewesen. Da war man an Durchhaltefilme gewöhnt. Der schöne Vorschein nimmt den Raum der Schönheit ein und besetzt ihn. Was wirklich schön ist, wird vergessen. Wir stehn vor Warhols Breker >>>> Koons und seufzen als vor >>>> Amphitrite. Auch an des Kaisers neue Kleider läßt sich denken.

Doch aber nun zum Abend.
Wieder ging es vortrefflich los.
>>>> Michael Wollny ist nicht nur bisweilen ein Wunder. Seine Spiellust ist enorm – etwas, das sowieso ansteckt. Über dem Manual scheint er in Atemnähe aufgehängt zu sein, sozusagen aus der Luft herabzuspielend, das Gesicht fast an den Tasten, den Hänger im Nacken. Er vermeidet die Pedale, als wäre selbst die Kraft aus den Füßen in die Finger geströmt. Das Zentrum scheint im Nacken konzentriert zu sein, an dem Aufhänger eben – dort, wo der Kopf sich mit dem Körper verbindet. Und genau so ist seine Musik:


Wenn er rast, was er gerne tut und oft, vergißt sich nie das musikalische Thema: Läufe werden nie ihrer selbst wegen gespielt. Man spürte es sogar bei Sondheims melancholischer Ballade „Send in the Clowns“, in das wie in den Abend selbst Wollnys zartes Präludium hineinfloß, bevor >>>> Nils Lundgren, der auch durchs Programm führte, mit sich selbst duettierte, rauchsingend und an der Posaune improvisiert, um- und durchperlt von Wollnys Tönen. Keine Frage, abermals Kitsch, aber guter. Auf diese Weise lassen sich tatsächlich auch Schlager nobilitieren. Es geht eben nie, in Kunst, um das Thema, sondern immer um die formale Gestaltung.
Weiter ging es funkig mit der Beatles‘ Come together, ebenfalls kein Jazz im „klassischen“ Sinn, dann bigbandig mit >>>> Wolfgang Haffner am Schlagzeug; gutgelaunt ließ Lundgren die Posaune in ansteigenden Läufen brillieren (: aber dieses Wort ist für den Klang zu hell), und Wollny raste mal wieder dazu; man warf sich die Soli nur so zu. Das, in der Tat, machte einfach nur Spaß, erinnerte an die allsonntäglichen Jazzfrühstücke meiner Bremer Jungmannszeit, in denen dazu natürlich das Bier floß. Man rauchte damals noch drinnen.
Ja. Und dann.
Es hätte ein absoluter Höhepunkt werden können. Das Ehepaar Lars Danielsson und >>>> Cæcilie Norby im Duett: Leonard Cohens Halleluja von 1984. Die Norby hat eine dunkel grundierte Stimme, die eindrucksvoll deklamatorisch zu intonieren versteht; bezeichnenderweise, wenn sie in die Höhe ging, wechselte sie das Mikro zu einem stark verhallten. Schon das ist natürlich Show, war hier aber nicht das Problem. Als viel heikler empfand ich, daß Danielsson, der doch wie kein zweiter versteht, einen Kontrabaß singen zu lassen, seine gezupften, einmal sogar die Mandoline imitierenden Cellotöne mit elektronischen Streicherharmonien unterlegte, die alles, alles falsch werden ließen, indem sie den Kitsch des Liedes, ihn in – ecco: scheinbar – höhere Sphären aufsteigen lassend, eben ins Niedere, Seichte hinabzogen. Das war ärgerlich und verstimmte mich um so mehr, als ich gerade Danielssons Spiel sonst ausgesprochen verehre. Ach, welch ein hinreißendes, unseicht berührendes Duo dies hätte sein können! Aber nein, es mußte, wie mein alter großer Lektor Delf Schmidt es auszudrücken pflegt, mit der Speckseite nach dem Publikum geworfen werden.

Typisch aber für den Abend, daß hinter dem Künstlereingang die Versöhnung schon bereitstand. Und was für eine!
Lars Danielsson blieb sitzen, nein, er erhob sich und stellte seinen Baß auf. Und dann kam >>>> Dieter Ilg heraus, dessen Variationstrilogie auf Verdis Otello, Wagners Parsifal und ihn prägende Stücke Beethovens für mich zu den herausragenden, eindrücklichsten Jazz-CDs der letzten Jahre gehören:


Nun lieferten die beiden sich ein virtuoses Duell auf einen der so bekanntesten Gospels der Weltgeschichte, daß man das eigentliche Thema tatsächlich nur andeuten mußte. Es war einer der seltenen Momente, in denen das plötzlich hineintrommelnde Schlagzeug zu geradezu einem Modulationsinstrument wurde. Der Jazz war zu sich zurückgekommen.
Mehr als in anderen Klangkünsten geht es bei ihm um Verschmelzung der Klangsysteme. Welchen Absturz ins Banale das bringen kann, hat ECM bezeugt. Man kann sich aber bewahren, wie gleich danach >>>> Nguên Lê gezeigt hat. Schnell freilich lief das nur zitiert pentatonische Vorspiel seiner Gitarre in eine auf Tutti angelegte Jazzrhapsodie über, unter der ein deutlich spanischer (ursprünglich wohl maurischer) Rhythmus lag – gewiß noch eine Prägung aus >>>> Lês Maghreb & Friends:


Wundervoll darin Lundgrens Posaunensang, eher traditionell das Fandango-Solo wieder Lês selbst, aus dem kurz Wollny herausblüht. Erneut die langgezogene Klagelinie der EGitarre mit Standardläufen, doch von Lundgren umbordet – kurz beider hervorgehobenes Duo, und der Fandango schließt mit quasi Flamenco-Akkordschlag. – Das ist unterhaltsamer Jazz at it‘s best, nicht sonderlich anspruchsvoll für die Hörer:innen, gleichwohl ohne sich restlich unters nur-Gefällige zu beugen.
Sowas nehm ich gern mal mit, auch wenn es auf Dauer nicht reicht.

Den letzten Schmalz blies mir, im Wortsinn, nun >>>> Emil Parisien aus den Ohren. Bezeichnend – und für ihn gewiß eine Ehre – , daß er für das folgende Duo mit >>>> Joachim Kühn auftrat – dem, schon gar durch falschschönen, Schein, völlig Unkorrumpierbaren. Man höre sich nur einmal seine und Eric Schaefers Summertime-Interpretation auf Beauty & Truth an, einem in diesem Zusammenhang höchst bezeichnenden Titel:


Joachim Kühn hat seiner Musik die gesamten Aufbrüche auch der Neuen Musik bewahrt, die in den Free Jazz führten und schließlich in das, was >>>> Heinz Sauer, noch zu >>>> Mangelsdorff s Zeiten, Free Music nannte (es gab sogar ein eigenes Label dieses Namens); er scheut keine Dissonzanz, konzentriert die Presti aber auf das eleganteste ins Balladenthema zurück, dreht chromatisch zur ersten Variation, kongenial, hier stimmt das abgegriffene Wort, von seinem so viel jüngeren Kollegen nicht nur assistiert, sondern nach einer knappen Klaviergebärde des Aufbruchs wird dieser zum leitenden Gestalter. Und fürwahr, seine Bläserfolgen durchziehen den gesamten jungen Mann, dessen Füße und, ja!, Unterschenkel mit über die herausgestoßenen Tonleitern surfen. Alles wird crescendierender Tanz, gleichermaßen aggressiv und zärtlich, dann das Thema erneut, absteigende Folge, nochmal kurze Variation und Schluß.
Wohlfühlmusik war das nicht – endlich einmal fern jegliche, wie Thomas Mann zu Walküre Aufzug I naserümpfte, Kuhstallwärme.
Ich habe zum ersten Mal „Bravo“ gerufen; die andern riefen „Whouw“ oder „Boa eijj“ und dergleichen Lautmalerei‘n. Unsere Sozialisation (sie bedeutet Prägung) läßt sich halt nie auf Dauer verbergen; wir sind schon ein bißchen mechanisch.

Das folgende Stück gab sich dann wieder eingängig, sozusagen versöhnlich. Nett vor sich dahingespielt, mit elegischen Soli und Akrobatik an der Gitarre, die irgendwann pfiff, drunter durchlaufendem Beat, Bałdychs irisch fiedelnder Geige, was dem Thema völlig entsprach, es eben nicht transzendierte; nur Kühn, tonal, brach aus, lief quasi einen Halbton drüber, konnte aber das Feuer nur schüren, nicht zum Brennen bringen. Dabei wollte die Glut kurz vor Ende doch noch Flamme werden, als sich über EGitarre und Besen die festen Harmonien momentan auflösten. Hier nun wäre sie eigentlich losgegangen, die Musik. Aber, wie einst Godard sich selbst sagen ließ (Prénom Carmen, 1983, ich zitiere aus dem Gedächtnis): „Sie hören immer auf, bevor sie angefangen haben.“
Ich konnte freilich noch nicht wissen, daß nur der wirkliche, zumindest für mich, Höhepunkt des Abends vorbereitet worden war, den nun wirklich komplett eine neue Generation gestaltete, der Sprach- und Sangkünstler >>>> Andreas Schaerer, der Akkordeonist >>>> Vincent Peirani, der sich einiges bei >>>> Jean Pacalet abgehört haben dürfte, Emile Parisien noch einmal am Sax und – eigentlich logisch – Michael Wollny. Im Mai wird von ihnen eine CD erscheinen, merken Sie sie sich unbedingt vor. (Es gibt noch keinen Link darauf, deshalb immer mal wieder bei >>>> ACT unter Neuerscheinungen gucken).
Schaerer ist nicht nur ein Sänger vom Schlage Bobby McFerrins, er ist mindestens ebenso Mundschlagzeuger. Seine virtuosen Fähigkeiten gehen weit, sehr weit über die pure Imitation hinaus; sie wissen ihre Mittel ineinander zu verschleifen oder eines aus dem anderen herauszuholen, nicht selten parallel mit den Mitspielern geführt; die Erde für alles ist hier das Akkordeon. Unglaublich beeindruckend, wie die vier unvermittelt die Register wechseln, ja ganze Assoziationsräume ineinander verschachteln, sich Zeit, plötzlich ganz viel Zeit lassen, und das Akkordeon spielt an irgend einer verlassenen Pariser Ecke vor sich hin. Diese Musik erzählt einen akustischen Spielfilm, aber erzählt ihn modern mit Cut-up-Momenten, unversehens dem großen Ton des Saxophons, wir sehen eine nachtkahle, nasse Chikagoer Straße, wenn der Klang aus irgendeiner Jazzkneipe durchs Kellerfenster hochdringt, worüber sich ebenso unversehens Buenos Aires (das literarische Borges’) legt. – Sie ist, diese Musik, im intensivsten Maß Weltmusik also, aber eben nicht banalesoterisch, ja nicht die Spur esoterisch oder sonstwie semireligiös, sondern so realistisch nüchtern wie phantastisch überbordend; ich habe dergleichen kaum je gehört. Sie ist verspielt zugleich und streng, erzählerisch, kitschig, kritisch, verträumt; sie ist voller Gesten und Abbrüche, voller Anspielungen und neuer Erfindung. Sie schmettert und raunt, und sie gurrt.
Alleine hierfür hat sich dieses Konzert gelohnt. Und weil ich derart begeistert bin, hier noch eben die CD, die ACT bereits von zweien der viere, Peirani und Parisien, produziert hat (ich kenne die Aufnahme aber selbst noch nicht):



Ich hätte jetzt gehen sollen, mit diesen Klängen in Hirn und Herz, und im Bauch, und in Geschlecht und Beinen. Hätte nicht mich wieder aufs Fahrrad schwingen, sondern gehen sollen durch die Nacht.
Doch ich blieb. Ist halt Berufsehre: daß man auch alles gehört hat, bevor einer schreibt.
Da nun aber Wollny wieder spielte, konnt‘ ich beruhigt sein, sogar zweifach: Es folgten je ein Duo mit Schlagzeug. Das erste, mit Eric Schaefer, eine meditative Klangbesinnung, deren einfaches Thema von Anfang an tonal unbestimmbar bleiben wollte, sozusagen seinen Namen verbarg, den die notwendigerweise folgenden Läufe umspielten und denen das Schlagzeug Erde war. Er machte sich der ewigen Suche und Sucht nach Wiedererkennbarkeit nicht gewöhnlich, geschweige denn breit. Das hatte schlichtweg Klasse.
Und mit dem zweiten, mit Wolfgang Schaefer, will ich schließen.
Es war ein Kabinettstück der witzigsten musikalischen Dekonstruktion, in die Louis Primas „Sing sing sing“ von 1936 geriet, jedenfalls >>>> die Fassung Benny Goodmans. Wollny zerlegte den, ich will einmal sagen, Al-Capone-Klang schlicht in seine Grundbausteine, nachdem Schaefer aus dem ursprünglichen Zwischenspiel des Schlagzeugs ein paar Sekunden lang nichts als ein trotziges Fußaufstampfen brachte. Wieviel Henry Mancini bei Goodman abgekupfert hat („The Pink Panther“) war nun zwar nicht mehr zu hören. Statt dessen überführte Wollny das Motiv in einen Momente währenden Partitaklang Johann Sebastian Bachs; für Kenner ein ganzer Sonnenaufgang. Genau hier beweist der Jazz, was er ästhetisch kann, und reflektiert zugleich die Polystilistik Alfred Schnittkes, der von ganz anderer Seite her solche Metamorphosen vollbrachte.
Imgrunde war dies, „klassisch“ gesehen, eine Zugabe, die um das gesamte Konzert eine klug balanzierende Formklammer legte.
Nur wissen die Leut‘ halt selten, wann‘s genug ist. (Ich hatte es ja selbst nicht gewußt, bzw. ignoriert). Schließlich sollte gefeiert werden, das Publikum von den Stühlen gerissen sich an den Armen fassen, winken, hüpfen, vielleicht sogar mitsingen, ja, mitsingen auf jeden Fall. Also was nimmt man?
Man nimmt natürlich die Barbie-Retortin vom Nachmittagsprogramm, die wackelt wieder mit den Hüften. Singen soll sie auch noch mal. Dazu tutti auf die Bühne, und frutti machen wir auf Disco.
Taten sie. Der Saal des Konzerthauses dröhnte, wankte, johlte.
„Gute Laune!“ Frei nach Sven Fäth.
Als eine Horde Affen, denen Affen Zucker geben.
There is no abyss not to fall in.

(‚s ist meine eigne Schuld, ich hätte wirklich gehen sollen. Mit zweiundsechzig kenn‘ ich die Menschen immer noch nicht. Aber wann hat man je solch Höhen und Tiefen beisammen? Jazz ist, was die Welt ist. Bei ACT können wir sie hören, auch wenn sich solche wie ich hie und da mokieren. Schon das nächste Stück kann sie ja wieder glücklich machen.)


ANH, Berlin
3. & 4. April 2017


5 thoughts on “Aller Jazz und keiner. Über die Musik. Zu ACT‘s 25-Jahre-Jubiläum im Konzerthaus Berlin am 2. April 2017. Nicht nur eine Kritik.

  1. @anh; einen großen dank für eine echte kritik. ich nehme viele neue anregungen mit – und die ahnung, im konzerthaus einiges verpasst zu haben, nun als gewissheit.

    A.

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