6.20 Uhr:
Arbeitswohnung.
Die erste Töne sind angelegt. Ich experimentiere mit aufeinandergelegten, ineinandergeschobenen Musikstilen, höre mich dazu durch zig E-Gitarrenriffs und die dazugehörenden Stücke, wobei der Rock nicht wirklich an mich geht, wie das auch zu erwarten war, aber unter dem Blickwinkel einer „Filmmusik für das Ohr” ist nicht weniges davon durchaus faszinierend. Ebenso ergeht’s mir mit den unterdessen ausgewählten Pop-Stücken, vor allem mit Sinead O’Connor’s Heroine, das ich eventuell bereits unter die sachlichen Ansagen des Stücks legen, vielleicht auch mit Benns Gedicht Cocain unterlegen werde. Ich hätte auch gern noch einen Dreh in die synthetischen Drogen, von da zurück in die modischen Esoteriken. Mal sehen. Der Textpart allerdings „steht”.
In einer Stunde werde ich aufbrechen, um acht Uhr beginnt die erste Aufnahme mit Gerald Schaale; die beiden Damen werden zwischen 10 und 11.30 Uhr dazukommen, und Markus Hoffmann, mein Specher 1, stößt nach einer Sprechaufnahme in anderer Sache – beim Deutschlandradio, quasi an der entgegengesetzten Innenstadtkante Berlins – irgendwann gegen elf noch zu uns. Bis zwölf wird aufgenommen heute. Den Schnitt werde ich nachmittags selbst vornehmen, jedenfalls so weit ich bis abends damit kommen werde.
Zu den ersten Aufnahmen:
Ich bin sehr viel weiter gekommen, als ich gedacht hatte. Was besonders an dem ganz ausgezeichnet vorbereiteten Markus Hoffmann lag, so wie an Karin Meißner, der Toningenieurin, mit der ich schon mehrfach gearbeitet habe. Es hilft ungemein, wenn man einander kennt und schätzt und deshalb einzuschätzen weiß, worauf jeweils Wert gelegt wird. Ganz nebenbei erledigte sie die nötigen Schnitte, von denen ich angenommen hatte, ich müßte sie selbst, je abends bis in die Nacht anbringen. Sicher, Feinarbeit b l e i b t zu leisten (Aufatmer wegnehmen, hie und da einen Schmatzer usw., evtl. auch Sprechpausen kürzen), doch die groben, immer sehr zeitintensiven Schnitte sind nun schon gemacht. Es hat sich zudem als sehr hilfreich erwiesen, daß ich die einzelnen Sprecherparts zu dem Typoskript hinzu noch einmal herausgezogen und daraus je einzelne Skripts erstellt hatte. Für modulares Arbeiten ist das ideal.Erst einmal erschien, hochnervös, Gerald Schaale. Auch mit ihm habe ich bereits zweidrei Hörstücke produziert. Sowie man ihn von dieser Nervosität runterbekommt, wird er ein Traum von Sprecher; es ist eine reine Frage des Selbstbewußtseins, wobei die Nervosität auch nicht gänzlich unkokett ist. „Das kann ich nicht”, sagt er immer mal wieder – und sowie er das rausgelassen hat, kann er’s besser als die meisten anderen. Aber er muß es erst einmal rauslassen, Take für Take.
Dann erschien, sehr leise setzte sie sich dazu, Kavita Chohan und lauschte. Grüßte kaum, lauschte nur. Meine Anweisungen sind in aller Regel präzise, vielleicht bisweilen auch etwas scharf, vor allem, wenn ich unter Druck stehe. Auch deshalb schätze ich’s, mit Sprechern zu arbeiten, die mich kennen. Zwei Minuten später bin ich wieder lammessanft.
Pause. Markus Hoffmann ruft an: er sei beim Deutschlandradio nun doch schon fertig und komme jetzt quer durch die Stadt herübergefahren.
Das braucht aber, also fangen wir mit Chohans Part an. Sie spricht mit größter Sprachkultur, mit wirklich seltener Spachkultur – vor allem für jemanden, die gar keine entsprechende Ausbildung hat. Man kann in ihrer Stimme schwimmen wie in einem warmen schmeichelnden Wasser. Aber diese Stimme, für Laiensprecher typisch, kann brechen, vor allem bei längeren Passagen. Deshalb muß bei der Arbeit mit solchen Sprechern drauf geachtet werden, daß die Partie immer ganz nah bei der natürlichen Stimme bleibt. Zumal Frau Chohan eine Atemwegserkrankung hinter ich hat. Deshalb überspannte ich den Bogen nicht, sondern gab nach etwa kurz vor der Hälfte ihrer Partie das Aus-Zeichen für heute, jedenfalls für sie. Zumal war soeben Markus Hoffmann angekommen. Er erschien mit einem restlos durchgearbeiteten, durchstrukturierten, von zahllosen Betonungs- und Rhythmusanweisungen versehenen Typoskript. Da wußte ich dann schon: das wird viel schneller mit ihm gehen, als solch ein Text normalerweise verlangt. Wir konnten auch regelrecht spielen. „Bitte. Erinnern Sie sich der Baudelaire-Lesungen Kinskis? Denken Sie d a dran. Nein, nicht versuchen, das zu kopieren – aber in diese Richung hineinformen.”Es war mir, i s t mir, wichtig, daß „Romantik”, wenigstens an ihrem Beginn, n i c h t ein Ekapismus war, sondern politische (Selbst-)Bestimmung, ja Aufstand. Deshalb auch meine Tendenz, genau dieses Stück mit ehe aggressiven Haltungen sprechen zu lassen, mit jugendlichem Rebellengeist usw. Der Eskapismus kommt dann später in die Spätromantik hinein, da, wo sie bürgerlich, bourgeois, geworden ist und sich der Beblümung an- sowie der Verdrängung dient, deren Inhalte aber im Symbolismus etwa um so schärfer neu hervortreten. Es hat seinen Grund, daß ich diesmal auf den mir so lieben Otto Mellies verzichte, auf seine volle, warme, tiefe Stimme, die solch eine Beruhigung ausstrahlt und solch ein Glück schenkt. Eben das, hier, n i c h t.
Wir arbeiteten bis zwölf Uhr durch, dann sprach ich mit Simone Barrientos Krauss, die nun auch erschienen war, ihren Part noch einmal durch, da sie nun doch nicht mehr zum Vor- und Einsprechen kam. Danach schnell noch im Brecht-Haus vorbei, um ein Honorar abzuholen, und heim an den Schreibtisch.
Jetzt waren die Tondateien aus dem Hauptstadtstudio, soweit wir sie schon auf meine tragbare Festplatte mitspeichern konnten, auf meine große Sicherungsplatte sowie auf den Laptop zu übertragen, für den ich die Samplerrate etwas reduziere, um die Montage anlegen zu können. Des weiteren sind nun die durchlaufenden Parts in die Kleinmodule zu schneiden, die dann je in die Montage einkopiert werden. Das wird vor allem meine Arbeit heute spätabends und nachts sein. Mit den direkten Sprecheraufnahmen geht es morgen um 13.45 Uhr weiter; ohne die Damen, sondern alleine Markus Hoffmann und ich.
Mir kam noch eine ziemlich feine Idee für den Beginn des Stücks. Da macht es sich bezahlt, daß ich auf Reisen immer mal wieder O-Töne nehme, so, wie andere Leute fotografieren. Ich hab bisweilen den Instinkt: das wirst du mal brauchen können. Und sieh da.