Arbeitsjournal. Mittwoch, der 8. September 2010. Pettersson, Junge und abermals Niebelschütz. Dann eine Ärztin und der Cyborg in spe. Sowie ein Gedicht.

7.19 Uhr:
[Arbeitswohnung. >>>> Allan Pettersson, Drittes Konzert für Streichorchester.]
Bernd Leukert, mit dem ich >>>> in Reimanns Medea war und der dazu ebenfalls noch schreiben will, hat mir >>>> diese neue Aufnahme geschenkt. Ich hatte schon auf der Rückfahrt in sie hineingehört, jetzt lasse ich sie als Morgenmusik laufen, bevor ich in etwas mehr als einer Stunde >>>> zur Augenärztin aufbrechen werde, um mein nervig gewordenes Sehproblemchen anzugehen. Ohne daß ich selbstverständlich schon wüßte, wie, wenn sie denn möglich sein sollte, eine Laser-OP zu bezahlen ist. Findet sich. Latte macchiato. Morgencigarillo.
Bis spät in die Nacht weiter an Twentyfour, der achten Staffel, geguckt. Vorher, ab acht, auf einer sehr schönen Lesung Ricarda Junges gewesen, deren >>>> neuen Roman „Die komische Frau” der S.Fischer-Verlag sie gestern hat an einem ausgezeichneten Ort präsentieren lassen: oben in einem der beiden Kuppeltürme Frankfurter Tor. Man hat eine tolle Aussicht von da, vor allem, wenn man aus dem kleinen Raum hinaus auf die umlaufende Balustrade tritt, wo überdies geraucht werden darf. Nur der Wind war häßlich kalt.Es war, für den kleinen Raum, übervoll, die Leute saßen bis auf die Stufen die Wendeltreppe hinunter, manche setzten sich auf den Boden; es paßten nicht genügend Stühle hinein. Der Profi kam mit der blonden Russin, die blonden Frauen waren in mit der Autorin solidarischer Überzahl; auch Junges Lektorin ist blond und stand sehr schön auf ihren Pumps. Der Roman, den ich, wie ich Ihnen schon schrieb, eines mir nahen Namens wegen erst einmal beiseitegelegt hatte, rührte mich an: einmal der Leichtigkeit seiner Sprache halber, in der die Konjunktive wunderbar genau darinnensitzen, wie auch, weil mir manches, nicht nur der eine Personenname, freundlich bekannt ist. Wirklich lesen werde ich das Buch aber erst ab Ende nächster Woche, wenn mein Niebelschütz-Text abgeschlossen und weggeschickt ist.
>>>> Mit Niebelschütz verbrachte ich ansonsten den Tag: einen ganzen Gedichtband gelesen, dann begonnen, die Gesammelten Gedichte zu lesen. Es gibt auch da eine eigenartige Nähe zu mir, nur daß bei Niebelschütz der Verlust von Heimat stark durchschlägt; er ist in nahezu allem rückwärtsgewandt. Das ist aber keine Ideologie, sondern ich spüre Leid dabei, ständig, Melancholie, fast Beschwörung von Gewesenem, Aufbewahrtem-in-ihm. Bei einem, sagen wir, Sizilianer, wäre uns das unproblematisch, nicht so aber bei einem Deutschen zu und nach Hitler. Genau das macht den Heimatverlust aber drängend. Man muß sich darauf einlassen, darf nicht immer dem Impfstoff nachgeben, der so viele von uns gezeichnet hat: keine Liebe zu diesem Land Deutschland haben zu dürfen. Für mich ist das ein besonderer Spagat; ich muß gelenkiger werden, damit mir nicht die Anstrengung, die er mich kostet, die Sicht auf Niebelschützens Kunstfertigkeit auch in der Lyrik verstellt. Das gilt besoders für sein „Requiem”, das eigentlich eine Totenklage allein für das vergangene Deutschland ist. Überhaupt steht das ganz-Persönliche in diesen Gedichten überall vorne und nicht alles davon ist gelungen, auch wenn die Texte formal oft makellos sind; vieles ist allzu zeitverhaftet, um halten zu können. Aber manchmal sind da berückende Verse, und in nicht wenigem hat der Mann kurzerhand – und gegen die Öffentliche Meinung – recht.

Dein sind wir, leidenfromme Erde,
Du überpurpurter Saphir:
Dir wieder, wieder angehören!
(Pomposo)

Was mich berückt, ist der Lebens-Gesang; was mich irritiert, ist eine tiefe, durchgehende Gläubigkeit, der bisweilen nur noch die sehr vergangene Wortwahl entspricht; ich selbst bin dagegen geradezu profan-in-allem. Auch hier muß ich mich selbst zurücknehmen und an die Betrachtung der Gedichte literarische Distanz anlegen, um ihnen gerecht zu werden. Um Gerechtigkeit g e h t es. Und dann darum zu begreifen, wie eine solche Grundverfassung derart objektive Werke wie den Kammerherrn und die Finsterniskinder erschafft. Die Objektivität trifft allerdings nur, beim Kammerherrn, auf dreieinhalb der vier Bände zu. Jedenfalls ist d a s für meinen Artikel dringend zu erfassen.

Aufs Arbeitsjournal hatte ich gestern mal wieder keine Lust: noch bin ich nicht im Fluß. Selbstverständlich registriere ich den Rückfall in den Charts, aber er ist mir ziemlich wurscht zur Zeit. Daß ich nachher auch noch bei meiner schönen Fußpflegerin sein werde, um zwölf, berührt mich sehr viel mehr; leider ist der Sommer vorbei, ist die Zeit der Decolletées vorbei, ist die Zeit der freien Waden vorüber. Die Kleider schwingen nicht mehr luftig frei. Ich habe ziemlich gefroren gestern abend, da draußen über Berlin.

Wer aber will dies wissen, wer es ahnen,
Zu welchen heut noch ungekannten Räumen
Die Seele einst gelangt? Denn nur aus Träumen
Wird wieder Kunst, auf immer andren Bahnen.

Niebelschütz, Andante, VII.

10.43 Uhr:
[Pettersson, Erstes Streicherkonzert.]
>>>> Diese Aufnahme kommt mir durchsichtiger vor, auch klarer in der Orchesterführung als die andere, von der ich heute morgen schrieb; zudem kostet sie weniger. Ich muß die beiden dritten Konzerte aber noch direkt im Vergleich hören, wozu ich mir den ersten Satz der einen, dann den ersten der anderen Aufnahme in den >>>> foobar lade, danach den zweiten der ersten und den zweiten der zweiten usw. Das schaffe ich aber erst am Nachmittag; doch werden Sie dieserhalb noch von mir hören.
Wie Sie lesen, bin ich zurück, trinke meinen zweiten Latte macchiato, nachdem ich in der Augenpraxis schon einen zweiten Kaffee bekam: s e h r angenehm das, in eine Praxis für Privatversicherte, bzw. Privatzahler wie mich, zu spazieren; das allemal war die Geldausgabe wert, auch wenn ich sie mir nicht leisten kann. Egal. Eine hochgewachsene, höchst charmante Ärztin um die 35, elegant in der Ankunft (das Haar zurückgesteckt), offen dann (signalisiert vom Haar) bei der Visite, entgegenkommend freundlich, aber das Wort nahezu immer bei der Sache. Meine Augen sind gesundheitlich völlig in Ordnung; die dreißig Jahre, die ich nun Kontaktlinsen trug und trage, haben ihnen in keiner Weise geschadet. Was die Kurzsichtigkeit anbelangt, ist sie sogar zurückgegangen. Nur halt die Altersweitsichtigkeit, die Probleme beim Lesen. Nein, eine Laseroperation würde dem nicht abhelfen, zwar die Kurzsicht beheben, aber das tun meine Linsen ja auch. Also: Was zu tun ist – wäre -, ist ein Cyborgismus. Operativ würden meine natürlichen Linsen nach je einem entfernt Schnitt („abgesaugt”, nannte die Ärztin das) und künstliche Linsen würden eingesetzt. „Es bliebe dann allenfalls ein Problem bei ungefähr 70 cm Abstand des Textes vom Auge”, also ungefähr der Abstand des Computerscreens; da ich aber am Laptop arbeite, läßt sich der leicht verringern. „Im übrigen sähen Sie dann besser als wie als junger Mann.” Es gebe freilich ein Risiko, Infektionsrisiko, „aber wir haben bislang, nach über 60000 Ops, noch nicht einen Fall gehabt.” Sie lacht und schlägt aber die schlanken Finger durchaus kräftig dreimal auf das Holz des Schreibtischs. „Bei Ihnen”, sagt sie, „wäre eine solche OP auch geraten, denn ich sehe schon den Grauen Star, der kommen wird. Dann muß man sowieso was machen. – Nein”, als ich etwas einwenden will, „das ist ganz natürlich, wir bekommen ihn alle, manche früher, manche später.” Das Problem sei nun, daß die Klinik in Hamburg, die solche Operationen durchführe, keine Kassenpatienten nehme, also keine, die nicht privat versichert sind: „Die Kassen zahlen einfach zu wenig dafür.” Doch sie rede einmal mit dem Kollegen. Wir sind uns sympathisch, das ist vieles wert. „Wie ich das zahle, weiß ich eh noch nicht, aber, wissen Sie, Künstler…” Sie lacht. Wir verstehen uns gut. „Sie sind 55, da ist das medizinisch indiziert. Bei Menschen unter 50 operieren wir sowas nicht so gern.” Über diesen Satz läßt sich’s meditieren.
Mich reizt das alles sehr. Einstweilen aber kann es problemlos bei Kontaktlinsen und Lesebrille bleiben. „Aber wissen Sie: mit dem Ausgleich der Sehstärke besträgt Ihre Sehkraft 100 %. Sie können ziemlich zufrieden sein.” „Ich leb halt”, sag ich, „gerne.”

Die Aussage ist klar, die indizierte Maßnahme auch. Jetzt muß man’s finanzieren. Für einen, der vom Schreiben und vom Lesen lebt und davon wird weiterleben müssen, bis er stirbt, da er ja keine Rente kriegt, scheint’s mir äußerst geraten zu sein, den Grauen Star rechtzeitig vom Zweig zu schießen.

Niebelschütz ff. Mal sehen, wann die Löwin anruft.

14.09 Uhr:
War nichts mit dem Mittagsschlaf; ich war gerade hinweggesunken, da klingelte die Postbotin, um mir Hettches neuen Roman zu bringen, den ich nach der Niebelschütz-Arbeit mit Ricarda Junges parallellesen will. – Also wieder in die Küche und dann eben schon alles Essen so weit vorbereitet, daß eigentlich nur noch der Reis krustig angebraten werden muß. Dazu eine Tomatensauce mit Pifferlingen (die ich für meinen Sohn herausnehmen muß, und so eß halt ich sie), sowie gebratene Zucchini aus C’s Garten. Und bis die Tür aufgeht und der Schulbub hereinstürmt: Niebelschütz. So etwas geht mir dann nach:

Aber vorzeiten – da sah ich uns schon zusammen,
So wie wir heut beieinander gehen:
So auf der Asche von ganz erloschenen Flammen,
Einsam entfremdet und ohne Verstehen
,
wobei die hier vierte Zeile dann schon eigentlich doppelt redundant ist; sie gründet sich allein auf den Vers. Worüber ich dabei nachdenke, ist, wie sich das vermeiden ließe. Denn der Reim auf „Verstehen”, für sich genommen, ist richtig.

Weiterlesen. Dazu Post von Barbara Stang, die sehr dringend Angaben für das neue Buch braucht; die >>>> Kulturmaschinen sind einer Erkrankung halber im Verzug mit meinen Fahnen. Ich bin daran nicht ganz unschuldig, insofern ich bei ihrer Korrektur noch viel in der Textsubstanz geändert habe. – Und der WDR fragt wegen des Hörstücks zur Romantik nach; bis zum nächsten Dienstag muß mein Exposé stehen.

19.42 Uhr:
Bevor ich zur >>>> Bar fahr. D a s möchte ich Ihnen gerne hier einstellen, so schön ist es:

Wolf v. Niebelschütz
Begräbnis im Winter

Aufs weiße Schneefeld fällt der Schnee.
Im weißen Leintuch friert ein Trauerreich.
Im Schnee das Buschwerk färbt sich totenbleich.
Die Gräber: blind. Erstarrt der Tränen See.

Ihr tief im Schweigen, schlaft! Lang ist die Ruh.
Schreck euch der Himmel nicht, wenn zu euch taucht
Ein Leib durchs Gruftgeviert, von Gram umhaucht –
Erdwunde Grab, wie schließt sie schnell sich zu.

O Sarg und Seil – so war kein Schneewind kalt.
O warmes Herz. Der Schatten kommt. Das Eis.
Und dunkel rundet sich ein heller Kreis,
Vom Widerbild sich scheidend, dem er galt.

Da wandelt aus versteintem Antlitz milde
Ein frierend Lächeln wie ein Abendschein
Hin übers Grab in schweigende Gefilde,
Und tote Sommer, winterwärts allein,
Vertauschen lautlos auf dem Witwenbilde
Ein trauernd Haupt mit tränenlosem Stein.

Die erste Zeile ist sogar genial, und der letzten Strophe wegen möchte man dieses Gedicht auswendig wissen. Ich werde es lernen.

Eine Azred-Lesung in der >>>> Romanfabrik Frankfurtmain ist jetzt für den Anfang 2011 avisiert. Ankündigungstexte waren zu schreiben. Erledigt.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 8. September 2010. Pettersson, Junge und abermals Niebelschütz. Dann eine Ärztin und der Cyborg in spe. Sowie ein Gedicht.

  1. Laser im Auge Lieber Herr ANH, bitte seien vorsichtig mit Augen-OPs. So schlimm ist eine Brille doch wirklich nicht, dass man sich leichtsinnig so einer Gefahr aussetzt. Was machen Sie, wenn da was schief geht? Wir bekommen doch unser Augenlicht niemals zurück. Wie ich das bei Ihnen gelesen habe, funktioniert das mit Ihren Kontaktlinsen und einer Lesebrille immer ganz gut. Den grauen Star würde ich erst behandeln lassen, wenn das wirklich schlimm wird. Kann man denn wirklich garantieren, dass so eine Operation unbedenklich ist?
    Ganz besorgt,
    Ihre L.

    1. @Luna. Liebe Frau L., eigentlich bin ich etwas gerührt, daß sich “meine Leser” Sorgen um meine medizinische Versorgung machen. Pardon, das klingt ironisch, ist es aber nicht. Allerdings, nach allem, was ich bislang über solche Operationen gelesen habe, können wir wohl davon ausgehen, daß es sich mittlerweile um ein Routineverfahren handelt. Auch bei anderen Operationen muß man ja eine Risikokenntnisnahme unterschreiben. Ich gebe aber zu, daß mir nicht ganz unmulmig ist. Auch das aber lockt.
      Ihr
      ANH.

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