Die >>>> Junge Deutsche Philharmonie ist eines der besten Orchester Deutschlands, wenn nicht sogar Europas, und zwar nicht obwohl, sondern w e i l es (noch) keine Orchestermusiker sind, denen – sozial durchweg verständlicherweise – der Dienst vor die Kunst geht. Man kann das ein wenig mit dem Bayreuther Festspielorchester vergleichen, das die engagiertesten Instrumentalisten aus den Philharmonien zusammenruft, die es derzulande gibt. Hier statt abgearbeiteter Routine Spiellust, ja -leidenschaft, und das Verhältnis der Musiker zu ihrem jeweiligen Dirigenten ist eines der gemeinsamen Liebe. Gary Bertini, der später so, und teils zu Recht, geschmähte, hat mit diesem Orchester Referenzen vorgelegt, ich erinnere mich an eine Mahler VII, aus der man nur fassungslos hinausgehen konnte – so fassungslos, daß einem Leonard Bernsteins Satz aus der Erinnerung brannte, es sei unmöglich, eine Mahlersinfonie zu hören, ohne geläutert zu werden. Meinen Lesern, falls Sie das Orchester noch nicht kennen sollten, sei kurz erzählt, daß es sich aus Musikstudenten zusammensetzt, denen es nicht etwa die für ihr späteres Leben wichtige Professionalität vermittelt, sondern es ist ganz umgekehrt: sie bringen die Professionalität im Sinn eines heißen Willens zur Erarbeitung von Kunstwerken des Klanges schon mit, noch hat keine Routine das wegschmirgeln können. Hier pumpt noch das Blut durch die Musik. Dirigenten, die meisten, wissen es – und richten sich danach; es ist, so gesehen, ein Ritterschlag, wenn das Orchester sich einen wählt, es zu leiten.
Als ich nun vorgestern >>>> die finnische Dirigentin Susanna Mälkki dirigieren sah – innig vertraut mit den jungen Musikern, absolut sicher im Schlag -, konnte ich nicht umhin, Luft durch die Zähne zu ziehen und an Catos Satz zu denken: „Den Augenblick, sowie sie anfangen, euch gleich zu sein, werden sie eure Herren sein.“ Derart unangreibar ist ihre fachliche Präsenz in einer der letzten Bastionen von Männern, Machtmännern der brahmanischen Dirigentenkaste. Dann stellte ich mir vor, wie das aussähe, wäre sie im Pendant der Fracks, Hemdsschärpen und Fliegen aufgetreten, die „klassische“ Dirigenten meistens noch tragen, also im Abendkleid. Es hätte etwas Irres. So sehr bringt einem eine Dirigentin die Rollenklischees durcheinander. – All das waren aber nur plötzliche, sekundenschnelle innere Bilder. Tatsächlich trug sie, eine der Neuen Musik sehr Vertraute, schwarzen Rolli unter einem schwarzen geschlossenen Gehrock; die schmale Erscheinung wirkte streng, ein wenig zu streng, vielleicht, was mich dann wieder… nein, „ärgerte“ ist zuviel gesagt. Aber das „General“ eines Generalmusikdirektors blieb in ihr weiterverkörpert, ohne daß sie das doch ist oder sein müßte.
Wenn solche Assoziationsketten losgehn, schließt man besser die Augen und konzentriert sich auf die Musik. Na sowieso. Und hörte, wie in dem späten Haydn die kommende Sinfonik vorausklang, sogar schon etwas Robertschumannhaftes, dabei pikant ein ständiges Augenzwinkern – und die Lust, mit der die Musiker ein Geigengirren kurz verhalten lassen; eine Leichtigkeit ging durch die Ohren, daß man immer wieder grinsen mußte: die Form als ein Spiel, divertimento in seinem besten Sinn. Was den Musikern an Routine fehlt, eben, eben, gibt ihnen der Instinkt und der Wille. Die Stücke vibrieren, ob dieser Haydn, ob dann Zimmermann, sie werden >>>> aufgeladen – was auch einen Nachteil hat: der abschließende Schostokovitsch (Erste Sinfonie) bekam von dem Martialischen, das er eh leider hat, richtig erst Martialisches drauf, was für einen wie mich unerträglich ist, die Stampferei, die Helderei; hier wäre vielleicht eine Gebrochenheit, die des Alters ist, hier wäre Zweifel angebracht gewesen statt der temperamentvoll drauflosmusizierenden Jugendlichkeit.
Doch dann. Nobody knows the trouble I see: Bernd Alois Zimmermanns furchtbar schönes Trompetenkonzert von 1954, die Hereinnahme der Welt, als sich die serielle E-Musik gerade gegen die Welt restlos hermetisierte und langsam, aber überaus sicher ins Nichts schob, Zimmermanns Fernklänge (gestopfte Trompete, weniger gestopfte Trompete, Trompete, schließlich, zum Ende sich entfernend, wieder gestopft), so auch die müpfigen Klänge, an denen ein Spaziergänger vorbeigeht, der seinen tiefen Blues hat, und es ruft uns etwas (ruft’s wirklich? projezieren wir?) – all das legte sich in den Saal und machte unmißverständlich klar, wo ein Leben ist in der Musik, daß sie es vom Boden aufnehmen muß und dann formen, anstelle nur immer in den Himmel der Abstraktionen zu schaun. Man kann in so dünner Luft nicht atmen, auch wenn sie, ja weil sie dort rein ist. Das bleibt die Wahrheit aller U-Musik, die Zimmermann in seiner E-Musik befreit, und uns.
Dann Enno Poppes Stück „Markt“ von 2009. Es beginnt mit einer Art Präludium, einem knappen wie suchenden, bisweilen clusterartigen Stück, dessen Struktur sehr schnell zu zerfallen scheint, das eben auch sehr plötzlich endet. Der zweite, wenn man so will, Satz baut über den eingefangenen Lauten geradezu Zitate auf, aber Zitate-als-Gesten, die sich immer nur andeuten, und zwar durchaus mal mit breitem, sozusagen „edlem“ Streicherstrich, der selber eigentlich Zitat ist, und über das sich eine Art zugleich immer aphoristisch bleibendes Thema legt, besonders prägnant zuerst in der Flöte, hier und da über Glissandi anderswo wieder aufgenommen und quer durchs Orchester vagierend, harsch von harten Glockenschlägen gespalten, das Schlagwerk drängt sich insgesamt vor, der Satz wird marschähnlich, bricht wieder auseinander, platzende Klangblasen, wirft sich neuerlich auf. Dieses Crescendo erinnert ungefähr an die gemeine Repetanz des ravelschen Boleros, man denkt: ich hab’s ja, hab’s ja begriffen, schließlich zerfällt der „Markt“ und mündet ins Pianissimo zurück – ein nicht unbedingt befriedigender Schluß, weil das Stück so rhetorisch wirkt, die A b s i c h t drängelt sich so vor, vor allem, wenn man „Markt“ mit Zimmermanns durchlebt durchgeformtem Trompetenkonzert konfrontiert hört: „zu professionell“, ist mein Eindruck. Freilich läßt sich schön dazu sagen, vielleicht z u schön. Sicher aber nicht ohne musikalische Logik. Vielleicht sehnte ich mich gerade ihretwegen nach Yannis Xenakis‘ „Nekuia“ zurück, dessen trotz seiner harten, ja viel härteren Mathematik erschütternde Eindringlichkeit zwei Wochen vorher das Konzerthausorchester unter Zagrosek vorgeführt hatte. Man hat dann so ein Gefühl von Seife und Kunsthandwerken daraus.
Über den Schostakovitsch schließlich nicht mehr, als ich droben angedeutet habe: mir sträuben sich die Nackenhaare; es wäre schon deshalb ungerecht, etwas anderes zu schreiben, als daß das Orchester ihn mit Schmiß interpretiert hat. Man muß militärische Brillanz halt mögen. Den vielen Bravi zufolge, mochte das Publikum sie. Ich meinerseits wäre lieber nach dem Poppe gegangen. Oder hätte noch einmal Bernd Alois Zimmermann gehört, meinetwegen auch Haydn (feine dramaturgische Programmidee: Haydn: Sinfonie 104 / Zimmermann: Trompetenkonzert / Poppe: Markt / Haydn: Sinfonie 104; selbstverständlich k e i n e Pause).