Arbeitsjournal. Freitag, der 6. Februar 2009.

7.01 Uhr:
[Arbeitswohnung.]>
Seit halb sechs auf, um acht werd ich meinen Buben wecken, der auf seinem „Vulkanlager“ vorm Schreibtisch schläft. Bin noch einmal meine Exzerpte zum Kuckuck durchgegangen, versuche, mir die Sinnsprüche, auch die lateinischen, einzuprägen (eandem mihi gratiam refers ut cuculus currucae), um sie nachher bei dem kleinen Dreh fürs MDR-Fernsehen im Kopf parat zu haben. Überhaupt hat mich die Kuckucks-Recherchiererei bestärkt, meinen Jungen, wenn er im Sommer aufs Gymnasium kommt, altsprachlich ausbilden zu lassen: so sehr vieles von „unserer“ (je nun, aber: wessen denn noch?) Kultur erschließt sich so sehr viel einfacher und wird allein deshalb bewahrt; ich will des Buben lateinische Ausbildung dann einfach immer mitmachen, vielleicht auch vorarbeiten – so, wie ich es auch beim Cello getan habe; daran ist ein Aspekt des Nachholens eigener Ausbildung als Junge und Jugendlicher, aber eben nur ein Aspekt, denn ich weiß nun, w o z u gelernt worden wäre, wäre denn von mir gelernt worden: non vitae, sed conscientiae et animae. Ein Jammer ist es, daß ich meine Idee seinerzeit nur zu einem Zwanzigstel wahrgemacht und ihre Ausführung dann abgebrochen habe, zu Roberto Calassos großartigem „Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia“ ein Namensregister zu erstellen; das poetische Buch steht Ovid ganz gleichberechtigt zur Seite; nur hat es, anders als der, keine unterseeischen Wegweiser. Meine Güte, ich sehe gerade, ; man bekommt es für ab einen Cent: Gibt es einen schlagenderen Beleg fürs Zerfallen von Kultur? Leute, kauft Euch das Ding, es wird Euch berauschen!

Um elf will das Drehteam hiersein, der Bub wird zwei Stunden zuschauen können; danach soll er Ans Terrarium rüber, wo er sich mit einem „alten“ Freund verabredet hat. Ich meinerseits werde mich sofort an >>>> Křeneks Orpheus setzen und das Libretto, wenn ich’s nicht übers Netz auftreibe, einfach daraus herausschreiben. Wird etwas Arbeit werden, verschafft aber Übersicht. Außerdem werde ich meine (leider so zerstörte Band-Aufnahme) abhören und dabei den Klavierauszug lesen; leider bin ich (noch lange) nicht so weit, daß ich allein aufgrund des Notenbildes die Musik hören kann. Der alte Brahms habe es übrigens vorgezogen, Musik aus den Partituren zu lesen, anstelle sie tatsächlich zu hören: der innere Klang sei „reiner“, sagen wir: werktreu. Diese Anekdote hat mich schon immer ein wenig neidisch gemacht.
Meinen Abend, wie er sein wird, kann ich noch nicht einschätzen; es hängt sehr vom Arbeitsfortschritt mit Orpheus ab; eigentlich formulierte ich schon gerne für Montag meine Fragen an >>>> Zagrosek vor.

14.56 Uhr:
[Křeneks, Orpheus und Eurydike.]
Die Fernsehleute sind gegen 13 Uhr bereits fortgewesen, es lief so glatt, daß die Redakteurin ganz verwundert wirkte. „Wie, Sie sind bei >>>> marebuch – wo man diese klasse Fernsehsendung macht?“ So der Kamermann. „Sind Sie auf der Leipziger Messe? Wann? Kann man Sie da erreichen?“ Also hab ich gleich meine Visitenkarte rübergereicht. Mein Junior war mit im Bild, was er sich gewünscht hat. Die Sendung wird am 6. März um 14.30 Uhr ausgestrahlt. Von Honorar war mal wieder keine Rede; aber ich werde nach der Ausstrahlung der Sendung Rechnung stellen, denke ich; sofern ich nicht sowieso was höre.
Eingekauft, was hier fehlte, auch wieder mal Vorräte. Dann wahnsinnig tief geschlafen, fast bis eben. Jetzt geht es mit Volldampf an den Klavierauszug: Erstmal abtippend das Libretto herausziehen.
Die Musik, soweit mein defektes Videoband sie noch überträgt, ist hinreißend, ist narkotisierend fast. Eine Klangwelt, derart ähnlich meinem Inneren, daß es mich fast umhaut.

16.34 Uhr:
Ah, meine Orpheus-Aufnahme funktioniert d o c h ! Das Band ist nicht kaputt… ah! Ich mußte an der Spurlage des Bandes herumoperieren, und plötzlich geht es. Die ganze Oper ist hier und klingt, die keiner sonst hat, jedenfalls gibt es sie nicht im Handel. Ah! Ich bin und tippe wie im Rausch (und nehme zugleich das Videoband als wave-Datei im Laptop auf). Ja!

21.05 Uhr:
Wie berauscht ich bin – es r a u s ch t in meinem Kopf – von Kokoschkas T e x t auch: bis zum Dritten Akt das Libretto aus dem Klavierauszug gezogen, abgetippt, ich ertappe mich dabei, daß ich, während ich tippe, laut mitrufe. Ausrufezeichen über Ausrufezeichen und Sätze von solcher Erschütterheit… man muß nur b e f o l g e n, was die Regieanweisungen vorschreiben, und die Leute, zumal bei dieser Musik, werden umfallen, brüllen – voll ausgesetzt der härtesten Emotionalität, die sich nur denken… was heißt denken, nein!: f ü h l e n läßt! Es ist das völlig Gegenteil der beschissenen bürgerlichen Wohlgeordnetheit mit den ganzen dranhängenden Scheinlügen einer harmonischen/harmonsierten Welt, die sich zugleich einen Dreck um das Elend kümmert, das sie ermöglicht. Das Gegenteil der Verdrängung: die Furien losgelassen. Ah, das will ich inszenieren!

(Ich muß mal aufhören. Ich muß mal in die Nacht. Am liebsten spielte ich Cello, nur für mich… vielleicht nachher, wenn ich zurückkomm, egal, ob Nachtruhe ist. Um Mitternacht werd ich 54.)

5 thoughts on “Arbeitsjournal. Freitag, der 6. Februar 2009.

  1. (in der maske beckmessers:) “non vitae, sed conscientiae et animae“, sonst wär’s halb jenes spätlatein, welches heute italienisch man benamt.

    und, wenn überhaupt, dann:

    “primum movens”

    ein geflügeltes wort besagt: “ich akzeptiere ein register ohne buch, aber kein buch ohne register.” ich erinnere mich, vor Jahren vor dem gleichen problem stehend, ein register zu calassos DER UNTERGANG VON KASCH angelegt zu haben, weil vollkommen klar war, dass ich in diesem buch immer wieder etwas würde suchen und finden müssen…

    1. mein scherbenhaufen ist bis heute das tablett der glitzernden snap-shots einer frau pinkernell-kreidt, die mich gnädig durch das kleine latinum brachte an der uni, wofür ich ewig gebraucht habe. man musste bei ihr daheim anrufen, um zu erfahren, ob man bestanden hat, zwei anrufe hätten gereicht, wenn man denn fähig und willens gewesen wäre, ich brauchte vier, da ich jeweils entweder die eine oder die andere prüfung vergurkt habe, also entweder die schriftliche oder die mündliche. ganz gallien war dreigeteilt, wofür ich mich in gänze nicht wirklich begeistern konnte. auch fand ich die befragung der priester, ob es denn nun sinnvoll sei, krieg zu führen, wenn die hühner nicht frässen, nicht so einleuchtend, dass ich die soldaten gleich zu vegetariern gemacht habe, also, besser sie essen vor dem krieg mal kein hühnchen, schien mir sinnvoller, als dass man an dem appetit der hühner ablesen können soll, ob denn die ganze kämpferei aussicht auf erfolg habe.
      ich hab mich so gequält mit der ganzen sch… und wenn es mein sohn wäre, ich glaub, ich legte wert auf ein gymnasium mit musikalisch-künstlerischem oder naturwissenschaftlichem schwerpunkt, gute ausstattung im medienbereich und den labors und lehrer, die von filmschnitt ahnung haben. aber das muss sich ja nicht ausschließen. m, der nach der realschule zum gymnasium wechselte, sagte mir neulich, ein wenig könne er sie verstehen, und es sei vielleicht auch ein spezifikum der leute, die auf dem zweiten bildungsweg zu all den themen des klassischen bildungsbürgertums gelangt sind, dass sie sich da so reinknien, er sagt von sich, er habe sich das so vorgestellt, dass die auf dem gymnasium eben einen solchen bildungsvorsprung haben müssten, dass er sich das erst mal alles drauf schaffen müsse, womit er letztlich den vorsprung hatte, wenn es denn einer ist. ehrlich gesagt war ich heilfroh, dass ich die reformierte oberstufe besuchen konnte, mit neigungsleistungskursen, und nicht auf einen vermeintlichen kanon via zentralabi auf themen gezwungen wurde, die scheinbar generalgültigkeit besitzen. einen kanon empfand ich immer so, als müsste man themenkärtchen ziehen, damit man sich auch über was verständigen kann, etwas, das wie der jockey club eine gemeinschaft schafft und auch exkludiert. verbindend scheint mir von hier aus betrachtet jedoch etwas ganz anderes, es ist der blick auf welt und wie man mit texten umgeht, ihre gestalt viel mehr als ihre gestalten. und man diskutiert gerade hier, ob man den jockey club nicht zu einer parkfläche umwandelt.
      m ist noch in der luft. in einer halben stunde müsste er in frankfurt landen. ich werde mich nie an diese zerreissungen gewöhnen, auch wenn ich sie nicht selten selbst initiieren, weil ich weiß, ich hab sie dringend nötig, er nimmt mir viel zu viel ab, nicht zuletzt das macht ihn ja auch bei anderen beliebt, weil er probleme zu lösen im stande ist, nicht nur die eigenen.

  2. wo es einen geistert, gibt es keinen weg, nur das ziel. und es ist immer, als ob es gleich da wäre, ohne doch gleich da zu sein – aber es schallt (und kenn’s wieder)

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