Die Geburt des Gottes aus dem Bock. Harrison Birtwistles The Io-Passion (2) in der deutschen Erstaufführung durch die Kammeroper Berlin im Konzerthaus Berlin.

Es gibt einen erschreckenden, einen momentenen atemstillen Höhepunkt in dieser Inszenierung, der in den zänkischen und oft klamottigen Geschlechterkampf allerdings schnell zurückfällt, den die Oper erzählt: Das Paar streitet sich laut und mit heftigen, erniedrigenden Verbalattacken, die, aufgeputscht und aufgeputscht, unversehens ins Nonverbale kippen. Es hagelt wechselseitig Ohrfeigen, d a… – da sehen sich die Streitenden mit einem Mal a n und küssen sich tief. Es ist, als saugten ihre Augen sie zueinander. Und benommen nach diesem Kuß, und schweigend, gehen sie auseinander.
Der Atem steht still, weil diese Szene so bewußt macht, es sei ganz so einfach n i c h t um die Wahrheit der mythischen Parabel bestellt, als die sich Harrison Birtwistles Oper bewegt: wie das vorkretische Matriarchat durch hereinströmende Fremdvölker unterworfen, wie an die Stelle der Muttergöttin ein Zeus inthroniert wird, der barbarisch bocksgeiler nicht sein kann: Penetration als gewaltsames Eindringen von Männern auf fremdes Terrain, die Vergewaltigung und Niederschlagung der Mütter, die dann immer und immer wieder von Hera, zu deren beleidigter Gemahlinnenfunktion die Große Mutter, eine Art Gottes-Xanthippe, schließlich herabsinkt, die sich als Hera immer und immer wieder rächt, aber nicht an Zeus selber, sondern an den Frauen, die er sich nimmt. Das ist ein böses, treffendes Bild, das von aller Ohnmacht der Kulture. Aber ganz so einfach, eben, ist es nicht; da wirkt noch etwas weiteres durch die Personen und Götter, das außerhalb ihres Willens liegt; Zeus ist nicht nur Überwältiger, Io will auch überwältigt w e r d e n, und zwar selbst dann, wenn sie ihn hinterher, mit allem Recht emanzipierter Frauen, seines rohen Übergriffes anklagt. Die Verhältnisse sind nicht nur nicht einfach, sie sind kompliziert.
Davon gibt in der Oper weniger Kay Kuntzes Inszenierung, als die Musik selber Kunde: im Klang der Klage, die vor allem aus den Kantilenen der motivisch geführten Baßklarinette klingt, indes das Streichquartett die auratischen Tableaux der jeweiligen Szenen webt. Selten nur wird illustriert, aber es kommt vor: Birtwistle ist Opernpraktiker und weiß, die Aufmerksamkeiten so gut zu richten, daß man’s kaum merkt, wenn man auf die Szene blickt.
Die ist denkbar einfach, doch auch nicht ohne Theaterdonner – den Möglichkeiten eines Off-Theaters gemäß, zu dem die Kammeroper Berlin ja zählt. Kay Kuntze inszeniert episch im Brechtsinn und gerät deshalb nicht in Versuchung, die Illusionsmechanerie zu bedienen. Doch fällt er in die andere Falle, eine sehr viel näher liegende: statt die Personen, auch wenn sie bisweilen Götter vorstellen, ernstzunehmen, stellt er sie nach Art von Slapstick aus und umschifft die heikleren psychologischen und auch szenischen Führungsfragen mit ziemlich lautem Klamauk. Freilich sichert ihm das einigen jauchzenden Zwischenapplaus, etwa wenn der bis zur geilen Maskenstarre outrierende Zeus mit den Augen rollt und an Ios Möse schnüffelt wie der Bock, der er da nun ja i s t. Wer fragt dann noch, w a s er schnüffelt? Nicht wohl nach Leben selbst? Nach dem Mysterium der Entstehung der Welt? Das geht völlig unter. Oder in der ersten Eifersuchtsszene zwischen Hera und Zeus; Hera mit ausgestellt vorgeschobenem Unterkiefer, Zeus mit dem Antlitz eines so schuldigen wie verlegenen Obelix … alles alles Mätzchen, die letztlich nur verraten, wie peinlich einem ein solcher Gott ist und wie peinlich, also, die eigene Sexualität. NUR: Es g i b t diese Szene mit dem Kuß. Und sie ist wahr.

Die Oper erzählt von den griechischen Göttern aber nicht eigentlich. Eigentlich erzählt sie von einer jungen Frau der Gegenwart, die im ehemals heiligen Hain von Lerna, auf einer Urlaubsreise, von einer bislang ungekannten sexuellen Leidenschaft zu einem Mann erfaßt wurde, den sie aber nicht liebte, sondern einfach nur bis zur Besinnungslosigkeit begehrt hat und der sie sich nahm. „Irgendetwas haben wir erweckt, das wir hätten schlafen lassen sollen“, sagt sie, s c h r e i b t sie später. Da sehen wir den Hain nicht (wir sehen ihn nie, wir hören ihn nur als Zikaden). Da sehen wir links die Außen-, innen die Innenseite einer Kleinbürgerwohnung, draußen unter einer Laterne steht der Mann, der die Affäre fortsetzen möchte, weil sie ihm – vielleicht – ins Herz gefallen ist. Der Frau ist sie nicht ins Herz gefallen, sie ist bloß schockiert, von sich selbst, dieser Wollust, die in ihr aufgestiegen war. Rechts sitzt sie in der Wohnung am Tischchen, rennt fahrig hin und her, trinkt hastig Tee, bekommt Briefe von dem Mann, beantwortet sie, geht hektisch aus und ein. Sie sinkt in einen Sessel, liest Griechische Mythologie nach und schläft ein. Da taucht aus dem Provinztheater in wabendern Stickstoffwolken Mefistofeles auf: Sie verkleiden ihn in einen Hermes mit dem Fratzengesicht und den Gesten eines Bela-Lugosis-für-Doofe. Als solcher erzählt er nun den mythischen Hintergrund der Parabel, die sich zeitgleich auf der Bühne begibt: als, wenn man gutwillig ist, Groteske, leider aber als Klamotte in Wahrheit. So daß man sich ärgert. Denn das nimmt die Parabel nicht ernst, dieses ein mythische Muster, das sich in den beiden Protagonisten der Oper reaktiviert hat. Natürlich könnte man es auch verspotten, das wäre legitim; Kay Kuntze aber albert damit herum, als hätte er nichts Dringlicheres zu tun gehabt als mit seiner inneren Abwehr beschäftigt zu sein. Das ist ein Gesetz: Klamauk ist immer Abwehr.
Es ist ein hauchdünner Grat zwischen Groteske und Schenkelgeklatsche. Bei Kuntze k n a l l t man die Hände aufs Bein. Was von Birtwistles höchst vornehm komponierter Musik aber nicht ablenkt, dazu ist sie zu eindringlich, auch wenn Kuntze dort, wo dem Komponisten selbst das Traumspiel in den Schwank hinübergleitet – klanglich den Handwerkerzenen in Brittens genialer Vertonung des Sommernachtstraums durchaus ähnlich -, noch dreimalmehr Schminke auftragen läßt. Doch hat der Regisseur auch wieder so schlagend-gute Regieeinfälle, daß jedes Entgleiten schließlich in neue Konzentration führt und in die fast existentialistische Nüchternheit der „realen“ Grundszenerie zurück. Zudem wird mit der Darstellung des Sexualaktes noch im gröbsten Vergewaltigungsklamauk letztlich behutsam umgegangen, weil nicht etwa Nacktheit ausgestellt wird und sich die Sängerin fürs Publikum nicht prostituieren muß. Wie sie dazu, Silje Johnson, ihren Körper inszeniert, wie sie etwa Lüsternheit und dieses genommen-und-überwältigt-werden-wollen in das Zehenspiel ihrer Füße verlegt, ist einfach nur hinreißend, ebenso, daß Entkleidung durch eine Bekleidung ersetzt ist, die die Frau wie in eine Zwangsjacke schnürt und zugleich den Übergang zur Verwandlung in die Kuh auf das geschickteste herzuführt, welche der hier ziemlich feige Zeus seiner Hera zum Geschenk macht. Was die moderne junge Frau austrägt, wenn sie den jungen Mann schließlich abblitzen läßt, der weiterhin vor ihrer Tür steht und ihr Brief um Brief schreibt – das ist, so gesehen, die Ahndung eines Verrates. Weshalb sie am Ende der Oper mit vollem Pathos ausrufen kann: Here I am, Io, Queen of Antioch! Denn sie hat zugleich die Niederwerfung der Mütter geahndet, fast dreitausend Jahre später.

Das alles kann man sich interpretieren, es ist, weil ausgestellt, rein intellektuell und dabei, mal abgesehen von dem Zehenspiel, körperfern bis in die Inszenierung der Körper. N i c h t fern ist die Musik. Hier klingen die Bocksrufe wahr, die einige Male aus der Baßklarinette näseln – witternd, irgendwie auch verloren in ihrer Sexualnot schnüffelnd, aufmupfend, getrieben. Und es war ein guter Einfall, die Verwandlungsszenen, für die es stets vom Streichquartett getragene Verwandlungsmusiken gibt, eben diese Klangtableaux, mit dem Zirpen von Zikaden aufzufüllen, das den Zuschauer bereits empfängt, wenn er den Saal betritt und Platz nimmt. „Idyll“ will das sagen und wird dann notwendigerweise Satire; es bleibt auch Satire bei Birtwistle, aber eben Bocksspiel: Das hat einiges von der schlegelsch-romantischen Konzeption von Ironie, die eben nicht Klamotte ist, aber eben auch nicht die unberührte Distanz auktorialer Subjekte meint – sondern ganz das Gegenteil: eine mögliche Haltung von N ä h e. Immerhin wird von u n s erzählt. Birtwistle macht das grandios und ohne Überhebung; den moralischen Zeigefinger hebt alleine Kuntze: in seiner Form epischen Theaters, dessen sich sowieso schon selbstfeiernde Besserwisserei er hinterm Klamauk verschanzt, was sich plangemäß mit kichernden und aufjohlenden Zuschauern belohnt. Bei Birtwistle gibt es solche Intentionen nicht. Zu genau sind seine Streicherpartien ausgehört, bei aller entbundenen Atonalität finden sich in ihnen sogar stehende, schwebende Momente, die den Charakter von Ohrwürmern haben: sie fließen in einen hinein und bleiben einem noch lange, lange nach Ende der Aufführung erhalten. Überhaupt ist die durchaus zärtliche Sanglichkeit dieser Musik auffällig. Wenn man dann durch die Nacht davonfährt, weiß man, man hörte wirklich eine Passion, nämlich Leidenschaft und Ritus eines währenden, ewigen Musters.

Iturriaga Quartett. Andres Langenbuch.
Kammeroper Berlin: Laura Cameron, Isabel Hindersin, Silje Aker Johnson. Andrew Mayor. Markus Vollberg. Clayton M. Nemrow.
Musikalische Leitung: Peter Aderhold.

Weitere Aufführungen: 8.11./14., 15. und 16.11. 2008. >>>> Karten.

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10 thoughts on “Die Geburt des Gottes aus dem Bock. Harrison Birtwistles The Io-Passion (2) in der deutschen Erstaufführung durch die Kammeroper Berlin im Konzerthaus Berlin.

  1. herbst -” mit allem recht emanzipierter frauen” – das ist doch scheisse.
    davor gehts doch um vergewaltigung mensch oder hab ich da was verpeilt ?
    sie brauchen echt einen hannibal lektor der ihnen die letzten flusen an schludrigkeiten excisiert.
    oder jemand anders klärt mich auf, den falschleser ?
    bitte darum falls nötig.
    eigentlich wollte ich mich ja echt nicht mehr einmischen.

    1. noch kurz gepunktet ich verstehe es nicht wenn leute antiksex machen und dabei
      weltproblematik verdrängen ( hunger , krieg usw )
      aus den geschichtsbüchern liest man die grausamen exzesse.
      sie sollten endlich geschichtsbücher sein oder bleiben.
      jede verlagerung von antiksex ist verlängerung von antiksex
      in opportunistischer absicht.

    2. zuvörderst halte ich die antike maschine für eine antiquität.
      und ab da wirds spannend shawn.
      alles andere wird ihnen sicherlich der hausherr zu erklären versuchen.
      er ist schliesslich philosophisch bewandert
      vielleicht vversteht er allerdings die sach & und lachfrage nicht.
      naja.
      solange wir noch ficken lust haben dürfen.
      ja – meine liebe so generös bin ICH.

    3. @shawn. Ich habe Ihren letzten Kommentar gelöscht, weil er sich in Ton und Wortwahl vergriffen hat. Auch Kommentatoren, die völlig anderer Meinung als ich sind, ja ggbf. sogar meine Feinde, haben, wenn sie hier schreiben und sich ihrerseits nicht im Ton vergreifen, einen Anspruch auf Gastrecht: “Mein Haus hütet, Wölfing, dich heut'”…

    4. @knotscher95. zuvörderst halte ich die antike maschine für eine antiquität – das i s t sie “zuvörderst” ja wohl auch… Sie schränken es freilich selbst ein. Und da greift, was ich für die Poetik Allegorie und für die Realität Muster nenne. In dem Moment, in dem sich ein antikes Muster reaktiviert, ist es kein antikes mehr, sondern eines der unmittelbaren Gegenwart. Geschieht dies, sinkt Ihr Satz ins Banale von Abwehr.

    5. genau das banale der abwehr besteht darin ein antikes muster zu “reaktivieren” –
      im falle einer musikalischen bearbeitung eines antiken stoffes halte ich das nur
      für einfallslosigkeit – das ist meine persönliche meinung.
      dabei geht mitunter gute musik flöten.

    6. @knotscher. Ihr Dafürhalten ist naiv. Es ist nicht so, daß man (aktiv) ein Muster reaktiviert, sondern das Muster reaktviert s i c h: es wirkt latent immer weiter. Sie vertreten eine Ideologie von Freiheit und Selbstbestimmung, die mich lächeln läßt. Solange Sie sie sich nicht nehmen lassen, werden Sie gar nicht verstehen können, was Tragik ist. Und solange man d a s nicht versteht, wird man im Kreis herumrennen wie ein blindes Tier. Und schon gar nicht verstehen, was Kunst ist. Machen Sie sich nichts draus, das geht den meisten Menschen (in den Industrieländern) so: weil sie auf diese Weise profanieren, können sie auch nicht den Unterschied zwischen Kunst und Kunsthandwerk spüren. Das erklärt die Vormacht des Pops ziemlich gut.

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