Gelöschtheiten. Paläste der Republik: Kommentare als Leerstellen. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (101).

Das lebendige Weblog geht in die Seele: es wühlt. Ein Literarisches Weblog, worin Avatare und andere Verschriftlichungen realer Personen tatsächlich interagieren, stellt einen sozialen Raum in das Netz, worin die Dynamik eine der gegenseitigen Zuneigungsversicherung nicht mehr sein kann; genau das unterscheidet ein lebendiges Weblog von den Plauderblogs, deren Kommentatoren dem Autor und sich selbst permanent auf die Schultern schlagen und familienähnliche Solidaritäten bekundet werden: das literarische Weblog erweist deren Brüchigkeit, indem es sie provoziert. Es ist ein agent provocateur der guten Gemeintheiten.
Das hat Konsequenzen (oder wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit haben): da die Kommentare hier nicht über Unverbindlichkeiten funktionieren, bzw. sich unverbindlich nicht lange hielten, sind sie in der ständigen Gefahr sowohl, als Machtinstrumente (mißverstanden und) benutzt zu werden, wie zugleich ihre Urheber zu „verraten“ – das wiederum macht sie anfällig für Löschaktionen – so, wie jemand, der nicht nur geschichtliches Unrecht getilgt, sondern überhaupt Geschichte vergessen haben will, Paläste der Republik niederreißt und statt dessen Stadtschlösser errichtet, und zwar egal, wie potthäßlich die Architektur ist***. Schießen die Gefühle in Kommentatoren quer, werden sie versuchen, ihre eigene Geschichte – das ist eben auch die ihrer Gefühle – zu verfälschen; letztlich ist es ein Prozeß der Verleugnung, also der Abwehr von Schmerz. Es bleiben aber Spuren, vor allem dann, wenn nächste Kommentatoren, die sich auf die jetzt gelöschten Texte beziehen, nicht mitgelöscht werden können, weil sie eigene Kommentarlinien gelegt haben. W e r d e n sie hingegen mitgelöscht, wirkt sich die Löschung als direkte Aggression auf die Gedankenwelten Nächster aus und wird von diesen Nächsten womöglich auch so empfunden. Sie s o l l auch so empfunden werden. Denn die Löschung ist nicht nur eine Form der Aggression gegen eine eigene Dynamik, sondern allem voran eine Aggression gegenüber denen, die Schlüsse aus den nun gelöschten Kommentaren gezogen haben könnten.
Ästhetisch interessant sind aber die Spuren der Leerstellen, sind die Brachen in den Städten, und dort sind es die Schnittstellen, denn an ihnen setzt die Imagination der Leser ein, um die Brachen wieder zu füllen: mit einer Erinnerung, die eventuell völlig abgelöst von dem gelöschten Kommentar ist. Das Lesen solcher Passagen erinnert an die Rekonstruktionstätigkeit von Paläontologen; es ist ein phantastischer Prozeß, der es mit >>>> Donnerechsen zu tun hat. So ginge es dem Dichter eines Literarischen Weblogs schließlich darum, solche Spuren bereits v o r einer Löschung zu legen: so, als ob dort einmal etwas gestanden hätte, das ein Kommentator gelöscht hat – und die im Netz erzählte Geschichte wird dann eine, die sich aus der nie stattgefundenen Löschung ergibt, weil kein Text vorher dagewesen: ein umgekehrter Rückbau. Was etwas anderes ist, als wird ein neues Gebäude errichtet. Hier würde eines wiedererrichtet, wiewohl es das vorher nicht gab.

[***: Die des Berliner Stadtschlosses ist ja nicht schöner als die des Republikpalastes war – eher noch häßlicher, weil im Fall des Stadtschlosses noch die Lüge des versuchten Schönscheins hinzukommt, indes dem DDR-Palast doch immerhin der Adel einer Wahrheit totalitäter Systeme eingeschrieben war.]

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7 thoughts on “Gelöschtheiten. Paläste der Republik: Kommentare als Leerstellen. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (101).

  1. 9. Ja Es ging um ein verloren gegangenes Manuskript aus dem 9. Jahrhundert. In dem ein unbekannter Autor, man vermutet einen Mönch aus Flandern, Hinweise auf ein Alphabetoscop gab. Andenrandgekritzeltes auf Dokumenten, die in einigen aufgestöberten Kirchenbüchern bei Wismar zwischen den Seiten gefunden wurden.
    Bis zum 30igjährigen Krieg sollen etwa 20 dieser Seiten existiert haben. Spätere Hinweise berichten von einem so genannten Alphabetoscop. Ein Deutungsschema, in dem die Anfangsbuchstaben der Vornamen von miteinander bekannten Personen in eine Wirkungsbeziehung gestellt waren.
    Besondere Wirkzusammenhänge seien angeblich bei Personen vorherzusehen, deren Anfangsbuchstaben im Alphabet entweder dicht beieinander stehen oder sogar direkt aufeinanderfolgen…. Das angebliche Dokument gilt heute als verschollen.

  2. tochter des fortschritts ach, wissen sie, herr herbst, ist doch eine gesunde arbeitsteilung. ich schreibe, sie löschen. wohl wissend, daß die del-taste eine tochter des fortschritts ist, ertrage ich ihre löschorgien in demut.

    1. @g.emiks. Sie haben eine ausgesprochen begrenzte Vorstellung von Orgien, Emiks, wenn schon zwei Katoffelpuffer bei Ihnen ein Gelage ergeben. Aber sei’s drum, jedem sein Babel. Was “die Sache” freilich an sich betrifft, so seien Sie dankbar: Sie benehmen sich daneben, ich lösche es. So behalten Sie Gesicht. Wegen Ihrer Demut melden Sie sich allerdings besser bei >>>> Vergil; er ist diesbezüglich, scheint mir, Spezialist. Mir hingegen ist Demut ganz fremd.

  3. seelenpflug und fingerflug auch wenn die seele wühlt und die finger fliegen, ganz ruhig, herr herbst, das, was ich ihrer meinung hinterließ, waren keineswegs katoffelpuffer, nein, auch keine kartoffelpuffer, es waren wortkulissen. sie einzureißen, mag ihr gutes hausrecht sein, aber müssen sie stattdessen mit erhobenem zeigefinger einen erziehungspalast errichten? ich sag dies frei heraus, ganz ohne spott, sie wissen schon, ganz ohne häme, sie natürlich nicht.

    1. Manchen Leuten. Fehlt der Witz. Lassen Sie’s deshalb besser sein. Gehen Sie Ihrer Wege, bei Ihnen, und ich gehe meiner. Ich besuch Sie auch nicht. Versprochen. Also adé. Alles weitere, das Sie bei mir hinterlassen, werde ich löschen. Es sei denn, Sie steuern inhaltlich etwas bei, das mit Persönlichem nichts zu tun hat.

    2. a Frenchman goes into a dog inside, says the dog, what are you doing there, says the Frenchman, the same I wanted to ask you too straight.

    3. Leningrad Cowboys: Yiihaa zum KarlMarxEffekt Sind sie ein Odradek, g.emiks? Spott, Häme oder der Witz (für den ich ja aber immer zu haben bin), mmh Verdrängung, Verschiebung, von was auch immer:
      must all die garstgen wörter lindern, / aus scheisskerl schurk, aus arsch mach hintern. (Goethe). Um was geht´s eigentlich & wo ist mein Bowman95 abgeblieben?

      Nochmal @Bowman95: Wenigstens einmal könntest du dich noch in die Höhle des Löwen begeben oder ins Herbstsche Mutterschiff Dschungel, ich fress dich schon nicht auf, es sei denn du möchtest das & wenn du willst mach ich es so dass du es nicht einmal merkst…

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