Kitsch, Sport und Instinkt am achten Ranhadam. Im Arbeitsjournal des Montags, dem 23. Mai 2016. Sowie kurz zu Smartphones. Und nach dem Zahnarzt von deutscher Eigenart was.


[Arbeitswohnung, 8.58 Uhr]

Um sechs auf, mit dem Latte macchiato gleich an >>>> Die Brüste der Béart, XV; kurz eingehalten, >>>> Bruno Lampes neuen Text gelesen und verlinkt, dann mit dem Gedicht weitergemacht. Der neue Teil erweitert die Thematik; eine Erinnerung an NYC 1999, als man mich fast verhaftet hätte, als und weil ich auf der 8th eine mir entgegenkommende Frau anflirtete; ich hatte nicht mehr getan, als sie anzusehen und zu lächeln. Dem Vorwurf eines „sexual harrasments“ genügte das, auch wenn man ihn schnell wieder fallenließ. Mehr darüber in dem Gedicht dann.
Es war ein Indiz von Symptomcharakter. In südlichen Ländern undenkbar. Festhalten, wie hier die christliche Sexualfeindlichkeit namentlich der „unheidnischen“ protestantischen Kirchen durchschlägt; auf diese Weise Bogen in den Mythos zurück: die Demeter-Kore-Béart aus Teil XIV. Jedenfalls denke ich‘s mir jetzt so. Oft bewegen sich Texte „gefühlt“-eigenständig, lassen mich bisweilen etwas sagen (schreiben), das mir am Anfang eines Gedichts oder einer Erzählung noch überhaupt nicht klar war.

Das Knie motzt weiter. Dabei liefe ich wieder so gerne heute, derart lockt das Wetter hinaus. Noch einmal soll‘s an die 30 Grad C. gehen, danach sind Gewitter prognostiziert mit teils schweren Regenschauern und Sturm, teils sogar Hagel. Im Mai. Dann ist das Hallenbad eh angesagt. Aber gegen Schmerzen anzulaufen, zumal in einem Gelenk, wäre dumm.

Reime und Rhythmen vereinen, die Reime laufen teils diagonal; überlegt, ob provisorisch die Zeilenbrüche nach Reimen bauen, damit ich die Übersicht nicht verliere, und erst nachher, bei einer ersten oder zweiten Überarbeitung, die Zeilenbrüche nach den Rhythmen modifizieren. Mal sehn.
Außerdem muß ich die zweite, weniger umfangreiche Variante des fertigen Gedichtbands montieren und nochmals über den Titel nachdenken. „Der süße Schmerz“ ist vielleicht d o c h etwas zu nahe am Kitsch oder ist‘s schon. Außerdem sollte er, antwortete >>>> Stein auf meine SMS, in der ich den Titel nannte, noch das Gefühl zum Ausdruck bringen, das viele dieser Gedichte trägt – wie es halt auch ihre Anlässe trug.
Wobei, Kitsch. Für den Verkauf könnte dieser Titel mehr als nur günstig sein, egal, was in dem Buch schließlich drinsteht.

Um 15 Uhr Zahnarzt; mir ist aus einer Brücke ein Zahnstück herausgebrochen.

„Red nicht so viel von >>>> Totgeburten“, sagte लक्ष्मी gestern abend, bei 寿司 und 刺身, „sonst werden sie. Bewahre Dir die Zuversicht.“ | Heiz sie an mit Glauben.
Stein hat sie sowieso bestritten.
Und glauben tu ich ja wieder.
Viel Sport wirkt unmittelbar auf die Seele, sozusagen schwitzt er die graue Galle heraus; sie hat keine Chance. Wenn sich dann auch noch der Körper wieder strafft… „definiert“, wie es im Sportjargon heißt, definiert sie, die Seele, sich mit, und man erhält über sich selbst die Verfügung zurück: Selbstermächtigung, wie es die Löwin nennt, die es mir in den vergangenen Monaten sowieso ständig angetragen hatte: „Gehen Sie wieder laufen, verdammt! Sie wissen doch, wie das wirkt!“
Ein anderer solcher Satz, anderswoher, der mir auch nie aus dem Kopf ging: Ein gesunder Muskel duldet kein überschüssiges Fett. – Lassen sich aus so etwas Schlüsse für die Poetik ziehen?

Dennoch hatte ich vorgestern den Gedanken, ich spürte ihn geradezu, daß unsere Körperideale, besonders die meinen, unserer Realität überhaupt nicht mehr angemessen seien, die physische Tätigkeiten fast zurgänze auf Maschinen delegiert haben. Jetzt leisten wir eine längst unnötig gewordene Arbeit quasi als ein Spiel, ohne daß es, was immer Sinn der Spiele war, auf etwas Kommendes vorbereitete, so, wie sich derzeit die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen, und besonders auch schon die Kinder, mit ihre Tablets und Smartphones, die teils zum ausschließlichen Kommunikationsmittel geworden sind, auf die objektiven Realitäten des sehr bald oder später anstehenden Berufslebens trainiert. (Deshalb bedeutet, den Jugendlichen die Verwendung der neuen Geräte zu untersagen oder einzuschränken, hart ihre Zukunftsaussichten zu schmälern; überdies ist es sentimental.) (Ich l e r n e von meinem Sohn.)
Etwa wird die Empfängnis invitrio, wie schon >>>>> in Thetis angekündigt, die natürliche zunehemend ersetzen, die dann überdies als „unrein“ gelten wird, zumal sie hochpotentiell mit infektiösen Risiken verbunden ist. Nicht rauchen, nicht trinken, gesund bleiben um jeden Preis, und sei es für die Leere.
In Berlin müssen zwei Leute für Jahre ins Gefängnis, weil sie in großem Stil Marihuana angebaut haben, derweil die noch sehr viel größeren Brauereien und Destillerien jegliche Achtung genießen – ganz uneingedenk ihrer gesundheitlichen Folgen.
Es geht nicht um, welche auch immer, Moral, es geht nicht um Gesundheit, sondern überall, bei nahezu jedem „hygienischen“ Gesetz, um Wahrung von Besitz und Eigentum und beider möglichst uneingeschränkte Vermehrung, nach dem Gesetz der Akkumulation. Noch aber haben wir – haben einige – Trieb und Instinkt, und Leidenschaft.

Weiter mit der Béart. (>>>> Elfenbein schrieb mir, daß >>>> Argo bald nachgedruckt werden müsse! Das bedeutet eine zweite Auflage! Ich hätt das nie gedacht! Welch eine Nachricht also, Benjamin Stein. – Benjamin Stein hat offenbar recht.)

*



[16.12 Uhr
Schubert, d-moll D.810]


Ahà!:
„Fett trägt in der Regel etwa die Hälfte zum gesamten Energieverbrauch
eines Langstreckenrennens bei (das ist allerdings geschätzt und abhängig
von Geschwindigkeit, Fitness, Ernährung und anderen Faktoren). Grafik 1
macht deutlich, dass der Gesamtenergiebedarf bei niedrigen Laufgeschwin-
digkeiten
gering ist, und der Großteil der Energie durch die Oxidation von
Fett
entsteht. Nur ein kleiner Beitrag kommt von Kohlehydraten in Form von
Muskelglykogen und Blutglukose (das ständig durch Glukose ersetzt wird, die von
der Leber freigesetzt wird).“
>>>> Quelle


Vom Zahnarzt zurück. Es ist doch böser, als ich dachte. Also Wurzelbehandlung; der Zahn hat sich unbemerkt, wie mein Arzt es nach einem „Oje“ mit plötzlichem Auflachen kommentierte: „verabschiedet“. Sah dann nett aus, wie, nachdem er den Wurzelkanal freigelegt hatte – „is‘ eher ein Kanälchen, aber immerhin da“, erneutes Lachen; dann sang er wieder vor sich hin –, die feine Spiralnadel drinsteckte, die so lang ist, daß man den Mund nicht zubekommt; ich sah‘s auf dem Röntgenbild, wollte es eigentlich abfotografieren, aber das Ifönchen war im Behandlungszimmer geblieben. Nun muß halt Ihre Fantasie reichen.
Ich habe mitgelacht. Einmal, auf dem Gang, ging mir kurz der Kreislauf weg. Ich erzählte vom Ranhadam. „Is‘ aber nich‘ gesund“, sagte der Arzt. „Dicksein auch nicht“, sagte ich. „Trink Rosmarintee, der stabilisiert den Kreislauf enorm. – Kein Wunder jedenfalls, wenn du auch noch halb kopfunter dagehangen hast, wenn es außerdem schwül ist.“
Ich hätte aber einschlafen mögen so, auf der so tief gekippten Liege. War irre angenehm.
Doch in der Tat, das vorhergesagte „Un“wetter kündigt sich am Himmel schon an.

>>>> Koeckert-Quartett. Auf Schuberts d-moll-Quartett kam ich aufgrund eines mir unvergessenen französischen Spielfilmes mit Michel Piccoli. Dennoch weiß ich nur noch, daß es die Geschichte eines amour fou ist; so lange ist es her, daß ich diese Film-,tja, fantasie (?) gesehen habe. Ich muß noch ein sehr junger Mann gewesen sein.
Ließe sich eigentlich herauskriegen. Aber schon komisch, wenn auf der Rückseite der (sehr alten, nämlich aus dem Musikschrank meiner Großeltern stammenden) Vinylplatte zu lesen steht:

„Und da es Musiker von deutscher Eigenart sind, vermögen sie den seelischen Tiefen und hintergündigen Zusammenhängen eines solchen Werkes intensiv nachzuspüren.“
In der Tat gehört die Aufnahme zu den intensivsten, die ich kenne; aber andere deutsche (bzw. und ecco: tschechische!) Streichquartett vermögen es weniger, und ich bin mir sicher, daß es US-amerikanische, englische, französische undsoweiter Quartette ähnlich leidenschaftlich könnten, bzw. können, und ich kenne sie nur nicht..
Was für ein Quatsch also.

Am späten Vormittag, mithin vor dem Zahnarzt, etwas mehr als anderthalb Stunden zügig durchgeschwommen. Kleines gutes Triumphgefühl nach dem, wieder daheim, Wiegen: Ich >>>> habe jetzt den Körperfettanteil eines trainierten Mannes zwischen vierzig und fünfundvierzig.
Auch das Knie hat sich beruhigt. Morgen aber wohl besser noch mal schwimmen, statt schon wieder zu laufen.
Mit dem Zahnarzt geht es übermorgen weiter; da wird er das Provisorium der Krone bauen und draufsetzen. Alles spätre geht ins Geld.

Béart ff. Ich würde gerne die XV heute zumindest zuendeskizziert haben; andererseits zieht‘s mich, so lange noch die Sonne scheint, in den Park, wo ich vielleicht für eine Friedrichstunde ein bißchen lesen könnte.
Hm.

17 thoughts on “Kitsch, Sport und Instinkt am achten Ranhadam. Im Arbeitsjournal des Montags, dem 23. Mai 2016. Sowie kurz zu Smartphones. Und nach dem Zahnarzt von deutscher Eigenart was.

    1. @Cellofreund Neinnein, es war tatsächlich Schubert.
      Ich habe nun etwas herumgeschaut, und da ist er: Michel Devilles La femme en bleu, deutsch Die unbekannte Schöne. Es gibt >>>> dort einen Youtube-Ausschnitt; dort liegt unter der Szene allerdings nicht das genannte Streichquartett, sondern Schuberts Es-Dur-Trio (D.929). Wobei ich mir des D-moll-Quartetts so sicher bin, daß ich denke, Deville hat es an anderen Stellen als der dieses kleinen Clips verwendet.
      Der Film kam auch in Deutschland 1973 heraus, da war ich achtzehn. Ich werde eine Fernsehausstrahlung gesehen haben, vielleicht mit neunzehn.
      Genau diese Art Poetik hat mich seinerzeit enorm geprägt, bzw. entsprach sie meinen adoleszenten Sehnsüchten vollkommen – und wirkt bis heute ausgesprochen stark nach. Nicht nur ein Reflex, sondern ein Aufflammen dessen findet sich in meinem >>>> Béartzyklus nun wieder.

    2. La femme en bleu Danke für diesen Clip. Sehr schön. Regt an zu weiterer Suche. Nach “Der Tod und das Mädchen”.

    3. ich habe diesen Film auf einer alten VHS-Kassette aus den Neunziger Jahren. Die funktionieren sogar noch. Und diverse andere mit Lea Massari und Piccoli und Romy. Na ja, das ganze schöne Zeug.

    4. La femme en bleu @gaga
      Echt? Dann könnten Sie ihn ja mal wieder anschauen, um festzustellen, wo das Schubert’sche Streichquartett unterlegt ist. In welcher Szene. D-Moll, “Der Tod und das Mädchen”. Würde mich echt interessieren. Vielleicht am Schluss? In Youtube gibt es zum Vergleich genug Aufnahmen dieses Quartetts.

  1. Film läuft voilà, Herr Wunderlich erwähnt es auch. Film läuft, ist noch die erste Viertelstunde, mir ist, als käme eben jenes zitierte Szenario demnächst, Piccoli als Musikwissenschaftler im Fernsehen, der das Stück erwähnt, bin gespannt, werde berichten. Ich habe den Film in der deutschen Synchronfassung, damals von Vox aufgenommen und die Werbeblöcke feinsäuberlich herausgeschnitten. Und danach kommt Les Choses de la Vie. Ich war damals sehr akribisch, etwa zwischen 92 und 95, da ist ein sehr großes Filmarchiv auf diese Weise enstanden. Die Filme, meistens zwei, die auf eine Kassette passten, waren immer verwandt. Neben dem Film in meinem Regal steht übrigens die schöne Querulantin. (gerade im Film Eifersuchtsgezicke, die leidenschaftliche Lea verhört Piccoli… uiuiui). Nun zum ersten mal die alte VHS-Kassette auf dem großen HD-Bildschirm. Geht so, habe es verrauschter erwartet. Außerdem mag ich Rauschen ja.

    1. Ist ja toll @gaga
      Bin gespannt.
      Super, wenn Filmszenen mit klassischer Kammermusik unterlegt sind, die dazu passt. Man müsste das sammeln. Noch eine solche Erinnerung: Mozarts Klarinettenquintett. Welcher Film war das nur?

    2. Ja, dieses zentrale Motiv des ersten Satzes wiederholt sich in verschiedenen Szenen, Piccoli hört sich zuhause ein, nachts, er raucht, legt die Nadel in die Rille der Langspielplatte. Er hört, reflektiert, am Tag danach ist die Sendung, in der er, nachdem die Musik gespielt wurde, dazu etwas sagen wird. Da ist der Film jetzt (hatte gerade die Pausetaste gedrückt, um zu berichten). Vorher gab es auch einen kurzen Dialog über Schuberts 3. Sinfonie.

      edit – ein Schnitt im Film, man erfährt nicht, wass er zu Schuberts Stück zu sagen hat, Lea Massari besucht ihn im Studio und er erwähnt, dass er das noch nie zugelassen hat, dass ihn eine Frau dort besucht. Nun gehen sie wieder spazieren und er erzählt eine Dirigenten-Anekdote… (Fortsetzung des live Tickers demnächst 😉

    3. gerade eben mit die schönsten Filmszenen, unterlegt mit Schuberts Opus 100. Massari und Piccoli in sehr privaten Szenen, deren Intimität lediglich durch lange, vertraute Blicke entsteht, ganz kleine Gesten, die deutlich machen, wie lange sie sich kennen. Keinerlei Aktionismus. Eine zärtliche Heiterkeit, die immer mitschwingt, Großzügigkeit, trotz der Situation, die Lea in ein Dilemma bringt. Schöner Film. Passt gerade sehr gut. Hätte ich ohne diese Erwähnung hier nicht eingelegt (auch keinen anderen Film, schneide selbst gerade unablässig).

    4. ein Satz, Piccoli (beinah verlegen, amüsiert-entschuldigend) zu Massari, ein Weizenfeld oder Gräser, sie im roten Kleid (mit dem sie gerne den Bann der Frau im blauen Kleid aufheben, überlagern möchte): “Aber DU… du bist DA. Von dir kann ich nicht träumen.”

      FIN

      (nein, das war nicht der letzte Satz da oben…. blieb nur so hängen. Lasse die Kassette einfach weiterlaufen, mit den Dingen des Lebens, wieder Piccoli-Massari. Und Romy, die Ewige. Ich glaube, das ist der Film in meinem Archiv, den ich am häufigsten von allen gesehen habe, eine schöne Sinfonie. Und Piccoli raucht schon wieder, man möchte rauchen. Tue ich jetzt auch.)

    1. Kammermusik als Filmmusik @gaga
      Danke. Hochinteressant das alles. Ich bestelle mir den Film als DVD. Muss ihn auch verfolgen.
      Ja, das Klarinettenkonzert in Out of Africa. Aber das Klarinettenquintett. Mir fällt partout der Film nicht ein. Na ja, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt.
      Als ich in Montpellier studierte, gab es das Studienfach “Cinéma”. Damals war ich viel zu jung. Heute erlebe ich diese Kunstwerke ganz anders, intensiver.

    2. Das Interessante ist, dass sehr komplexe und reife Werke, ob in Literatur, Musik, Film oder bildender Kunst, die Komplexität ihres Geheimnisses umso umfassender offenbaren, wie man selbst an Komplexität und Reife gewinnt. Die Faszination offenbart sich oft früh, ihre Magie. Aber das tiefe Eintauchen, alles zu ermessen, weil man selbst so vieles durchschritten und ausgemessen hat, nicht nur staunend wie ein Kind davor zu stehen, ist ein reiches Erleben. Es lohnt sehr, sich Kunstwerke, die einen bereits früh bannten, immer wieder, aber doch mit zeitlichem Abstand, zu Gemüte zu führen. Ich habe heute, als ich die beiden Filme wieder sah, noch subtilere Details gesehen und sehr genossen, die mir entweder entfallen waren, oder nicht in ihrem Ausmaß zugänglich. Schon wunderbar, was die Jahre für Synapsen schaffen.

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