Azreds Buch. Eine Erzählung. Zwei.

2. Fortsetzung. Von >>>> hier:
„Sie begleiten ihn also nach Schottland?“
Mielke nickt.
„Und finden Sie das Buch?“
Er pafft. Er hüstelt. „Alles ist anders, als Sie denken. Von einem Orden nämlich gibt es keine Spur. Hazegne­had führt mich auf ein sumpfi­ges Hochland, winddurchjagt. Nur selten und versteck­t kauern Gehöfte darin und Baracken, die Schä­fern zum Un­terstand dienen. Obendrein ist Ha­zeg­nehad kein ange­nehmer Reisege­fährte. Nicht daß er mich irgendwie bedrängte oder be­lä­stigte, nein, meist läßt er sich gar nicht sehen, setzt mich gewis­sermaßen in den Gasthäusern ab und… ja, ver­schwin­det oft für Stun­den, wenn er mir aber Gesell­schaft leistet, dann… wie soll ich sa­gen? Er strahlt et­was Widerwärtiges aus. Allein seine Gegenwart macht aggressiv, die Art, wie er spricht, sich bewegt, wie er zu Zeiten die Unter­lippe und sogar die Ober­lippe schürzt. Das ist ganz widerlich! Dieses schmat­zende Geräusch, das seine Wangen einsaugt und losläßt… all dies… Und doch gibt er sich Mühe, mich bei Laune zu halten. Seine Bildung geht in der Tat über je­des Maß. Er hat eine Art, von Cheops zu sprechen, so bildhaft wie erschreckend, daß man den Eindruck ge­winnen muß, er kenne den Pharao von Angesicht. Zu­gleich ist Hazegnehad begabt in allerlei my­stisch-sym­bolischen Spekulationen, zum Beispiel wenn er von der Großen Pyramide spricht. Sie wissen vielleicht, daß sie heraus­fällt aus dem Grundriß der and­ren, weil ihre vier Seitendreiecke nicht eben, sondern in der Mit­tellinie nach innen geknickt sind?“
„Nein, wußt’ ich nicht.“
„Hazegnehad glaubt, die­ser Knick diene einer Lichtöffnung, die den Weltenbrand aus­löst, ganz ähnlich wie das Gangsystem dem Polsprung Vor­schub leistet, der Bedingung jeder Sint­flut sei.“
„Was soll um Gotteswillen ein Polsprung sein?“
„Das Buch verzeichnet die Theorie, es kehre sich aufgrund eines Gleitens der Erdkruste über den Erdkern die irdische Magnet­polung um. Tatsächlich können Bohrun­gen heute anhand des Gesteinsschmelzflusses zei­gen, daß dergleichen im Lauf der Jahrtausende vorkommt. Erst schwächt sich die Feldstärke des irdischen Magnetfeldes ab, allmäh­lich und bis auf 10 %, dann beginnt der Pol wild zu pendeln und wandert in einem zitterigen Kreis um die Nordregion. Und schließlich, mit einem heftigen Ruck, kippt er in die umgekehrte Richtung. Nun baut sich das Magnetfeld wieder auf. Dies sei im Gangsystem der Che­opspyramide darge­stellt.“
„Das klingt arg verrückt.“
„Soweit sich Feinschichten mit magnetischen Kristallen datieren lassen, dau­ert ein sol­cher Vorgang eintau­send bis viertausend Jahre. Daß der Ruck nicht ohne Katastro­phe abgeht, können Sie sich vorstellen.“
„Hm.“
„Wir sitzen im Frühstückszimmer eines Edinburgher Hotels, als Hazeg­nehad mir davon und anderes Seltsame erzählt. Stets tut er es wit­zelnd und doch – oder deshalb – sehr zwingend. Das bündelt meine Einbildungs­kraft auf einen ganz bestimmten Punkt. Ich habe das Gefühl, je weiter ich mich ein­lasse, desto weniger komme ich ihm noch aus. Draußen schüttet es Wasserei­mer, es ist kalt, ein heftiger Wind geht und peitscht Zweige ans Fenster. Übrigens… wenn ich sage, wir früh­stücken, so tue das nur ich, – ihn sehe ich niemals irgend eine Nah­rung zu sich nehmen. Er trinkt aller­dings. Aber lediglich Wasser… pures Wasser, erwärm­tes Wasser, mehr nicht.“
„Und dann?“
„Gut, wir reisen in den Norden, nach Glen Tromie. Ich sagte schon: ein ödes Land. Ich ha­be den Eindruck, er kenne das Gebiet genau, und stets weiß er, wo man wel­ches Gefährt nehmen kann und wo in welche Abzwei­gung zu biegen. Unsere vorletzte Sta­tion ist ein Dorf, in dem es kein Wirtshaus gibt; wir kommen bei einem Bauern unter, der sich ziemlich gut bezahlen läßt da­für. Am nächsten Morgen brechen wir zu Fuß auf, um jene Ka­pelle zu erreichen, von der mein Führer so oft, wenn auch in letzter Zeit immer sel­tener spricht. Es ist ein mühseliger, gewiß vier Stunden währender Marsch, quer durch aufgeweich­tes, morasti­ges, von waden­hohem zähem Gesträuch bewach­senes Land. Endlich erreichen wir unser Ziel. Oder noch nicht ganz. Doch hier beginnt nun mein Ver­hängnis. – Jetzt lächeln Sie wieder..! Das ist beleidi­gend für mich!“
„Verzeihung.“
„Wir langen bei einer Hügelkette an. Unversehens gibt es Birken, bisweilen Pap­peln; und wäre nicht der Him­mel wolkenverhangen, der Prospekt könnte sogar lieb­lich sein. In­dessen backt einem schwerer Schlamm an den Stiefeln. – ‘Ich fürchte,’ sagt Hazegne­had, den plötzlich kurzer Atem quält, ‘Sie müssen allein weitergehen. Verzei­hen Sie, es übersteigt meine Kraft. Außerdem möchte ich nicht gern, daß man mich erkennt.’ – ‘Wer soll Sie hier erkennen?!’ – ‘Aber der Wächter doch!’ ruft er da. ‘Sie bemerken ihn nicht, ich aber… ich rieche ihn schon!’ – Er beschreibt mir den Weg. Keine zehn Minuten von hier befinde sich die ge­suchte Kapelle. Ich könne sie gar nicht ver­fehlen.“
„Sie erreichen sie?“
Er lacht klamm. „Gewiß. Aber stellen Sie sich vor, Sie schla­gen sich durchs Unter­holz, geraten an eine Lich­tung, erwarten eine Kirche oder so etwas, aber alles, was Sie sehen, ist ein Me­galithgrab… Hünengrab, Sie wissen schon. Und trotzdem, Sie wissen sofort, Sie spüren es: Sie sind am Ziel. Von Menschen, geschweige Wächtern freilich keine Spur. Alles einsam, wie unberührt. Vorsichtig schreite ich näher, bleibe mehrmals stehen, lausche. Amselgezänk, eine Rohr­dommel mal. Ich bücke mich und zwänge mich unter dem Einstiegsquader ins Innere. Normalerweise ist in sol­chen Gräbern nicht viel Raum, aber in die­sem gibt es zwischen den riesigen Steinen einen recht weiten Platz. Um eine Feuerstelle liegen Abfälle herum, Servietten, Papierbe­cher, auch verschimmelte Reste einer Mahl­zeit, auf denen wimmeln Insekten. In einer Ecke zwei Rucksäcke, Schlafsäcke, ein verschnürtes Zelt. All dies sieht nach sehr über­stürztem Aufbruch von Campern aus. Ich ver­lasse den Bau, schaue mich um, rufe auch ein paarmal ein zögerndes Hallo?, umschreite das Hünengrab, be­trete es, mich duckend, erneut. Sollte ich in den zu­rückgelassenen Sachen nach­schauen? Vielleicht läßt sich herausfin­den, wer die Camper sind. Möglicherweise verbirgt sich ein Un­glück, und man muß Hilfe holen. Wie ich nun die Gepäcksa­chen aus der Ecke ziehe, öffne ich dahinter eine Vertie­fung, in die sie ge­drückt sind, und wieder dahinter lie­gen die Steine nur locker aufeinander. Es zieht von da­her. Man kann sie ohne Schwierigkeit beiseiteräumen. Ich lege eine Art Eingang frei, der sich umstandslos passieren läßt, wenngleich, Herr Baumann, dieses ei­genwillige, dräuende Gefühl, will ich einmal sagen, nun ganz besonders heftig wird. Zudem schlägt ei­nem ein unseliger Geruch entgegen. Ich kann nicht sagen, wo­nach es eigent­lich riecht. Es ist ein dumpfer, süßer Ge­ruch, der etwas Mode­riges hat und an Ka­nalisationsanlagen er­innert. Vermutlich bin ich der erste Mensch, der dieses Verließ be­tritt. Ach welch ein Irrtum! Ich bin nicht abergläubisch. Und doch. Hünengrab spielt ja nicht von unge­fähr auf Hügelgrab an. Und das Hügelvolk, Herr Baumann, ist wesent­liches Element gerade schottischer Legenden: Die Untertage lebenden Schwarzal­ben, fir sìdhe – sid heißt in Lappland Totenheim -, sind direkte Verwandte unse­rer Nibelungen. Die Wilde Jagd, die Tuatha de Dannan. Zerstören nicht die Christen die von ihnen Teufelsbetten ge­nannten Hünengräber eben deshalb so wü­tend, weil man in ihnen Thule fürchtet? All dies Zeugs spukt schlagartig durch meinen Kopf, und ich gewärtige, je­den Moment aus dem Hinterhalt angefallen und nie­der­gerissen zu werden. – Aber nichts dergleichen,“ er lä­chelt, „ge­schieht. Natürlich nicht. Statt dessen..“ Er schweigt erregt, wie um sich zu fassen.
„Ja und?“
„Ich rutsche aus, schlage auf und verliere die Besin­nung. Jedenfalls habe ich den Eindruck, aber habe ihn bei vollem Be­wußtsein. An einem Stein­vorsprung halte ich mich, gehe zwar in die Knie, schütze aber mei­nen Kopf, und als ich wieder hochkomme, hat sich die Höhle zur Gänze verwandelt.“
„Verwandelt?“
„Verwandelt. Und zwar, indem sie sich erschreckend gleichbleibt. Ich weiß, das klingt verrückt, aber sehen Sie: Es müßte ei­gentlich stockdunkel sein hier drinnen; tatsächlich je­doch kann ich sehen, an den Wänden sogar Gravuren erkennen, deren es zahllose gibt, eingetuscht, einge­ritzt, schwarzgrau, mitunter ziseliert, Ornamente in feiner ma­thematischer Harmonie, Symbole, Zahlen, Zahlen und wiederum Zahlen, – und kein Zweifel, daß diese künstlerisch-magischen Spuren nicht megalithischen Ursprungs, sondern erst sehr viel später entstanden sind, wahr­scheinlich im Mittelalter ir­gendwann. Es kreu­zen sich he­bräische, christliche und islamische Sym­bole, ver­schränken sich, will ich einmal sagen, in eine ungute und irgendwie schiefe Geo­metrie. Der Polythe­ismus läßt, Herr Baumann, die Antimaterie nicht zu, der Monotheismus erzwingt sie. Nun erleide ich den Ein­druck die­ser Schiefheit aber nicht nur wegen der Wand­malereien, sondern das gesamte Gewölbe hängt geradezu nichteuklidisch im Raum, will sagen: Es gibt keinerlei Verlaß. Jeder Schritt, den man noch so vor­sichtig setzt, kann unmittelbar in die Rutsche geraten, wie wenn Sie auf­grund von Spiegelillusionen vor Wän­den zurückschrec­ken, die es nicht gibt, gegen andere aber, die Sie nicht sehen, prallen Sie. Plötzlich steigt man auf einer unsichtbaren Rampe diagonal in die Hö­he, was ebenso unerwartet ab­bricht, so daß Sie stür­zen. Und das Licht, Herr Baumann! Ver­mögen Sie sich unter schwar­zem Leuchten etwas vorzustel­len? Alles ist wie umge­stülpt: Die Gegen­stände beleuchten das Licht in all sei­ner Schwärze. Man durch­schreitet Materielles und ver­fängt sich wie in Altweibersommer in Photonenströ­men. Vorn, keine fünf Meter entfernt, gibt es einen rohen hüfthohen Steinquader, dessen genarbte Oberfläche mit einer dünnen, fasrigen, teils zerfressenen, ihrerseits dunkel verfleckten Haut überzogen ist. Daneben, kopf­hoch, steht ein Holzrahmen, wie er Kürschnern zum Aufspannen von Tierfellen dient. Und tatsäch­lich spannt dünn etwas darin. Es ist zwei­felsfrei die Haut eines Mannes. Schlaff hängt noch das Geschlechtsteil daran. Auf einem Baumstumpf liegt, in Zwingen ge­preßt, ein Buch in Quartformat, Leimtöpfe und anderes Buchbin­dermateriel dane­ben; außerdem eine Schublehre, er­staunlicherweise ein ausgesprochen modernes Präzisi­onsinstrument. Ferner gibt es Formalinbehälter, große bauchige, kniehohe Flaschen neben zwei Plastikwan­nen. Ich erkenne Futterale für chirurgisches Be­steck, Retorten, Tätowiernadeln, Farben. Das Inventar nimmt zu, ja ist das Ge­wölbe anfangs, als ich die Au­gen nach meinem ziemlich schmerzhaften Aufschlagen wieder öffne, vollkommen leer, so pro­ji­ziert meine Wahrneh­mung nun immer mehr Gerätschaften hinein, figu­riert sich ein inflato­risch fantastischer werdendes Ensemble, von dem ich doch zugleich überzeugt und vollen Wis­sens bin, es seien nur Requisiten meines Albdrucks. Ich schreie auf. Da bleiben ledig­lich Steinblock und Kürschnerrahmen stehen. Ich fasse vorsichtig die seidendünn gegerbte Haut. Sie kni­stert elek­trostatisch und zersetzt sich dabei, wie wenn die Wärme meines Finger­drucks durch Eisblumen strömte. Aber ich bleibe ja stehen, wo ich bin, bewege mich kei­nes­wegs, denn das Erstaunliche, Herr Baumann, ist, daß ich ohne mich gehe, als hätte sich meine Wahr­nehmung von mir gelöst, ich will ein­mal sagen: Meine Physiologie wird ferngesteuert. Und wie je­mand quer durch Pro­gramme schaltet, in denen er Spielfigur ist, tau­chen unversehens neue und aber­neue Illu­sionen auf. Mal sind es Stühle, zehn, zwanzig, hunderte von Stühlen, durcheinandergerückt und aufeinandergesta­pelt, dann wieder Krüge, Glasvitrinen, Kaffeema­schinen sogar; manch­mal, wenn auch nur für Sekunden, sieht es aus, als stünde ich mitten in einem Warenhaus, dann wieder, als schaltete einer das Licht aus und knipste ein nächstes an, kann ich mich an einen Glas­tisch setzen, um gleich darauf, weil der Boden in Schräglage schwingt, tieferzurut­schen, abermals aufzu­prallen, mich umzuschauen, Funkgeräte auszumachen, Generalstabskar­ten, Zir­kel, Ge­wehre, Helme, Radaran­lagen.“
Mielke verstummt. Ich sehe zur Uhr. Es geht bereits gegen eins. „Und weiter?“

[Wird abermals morgen fortgesetzt.]

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .