„Sie begleiten ihn also nach Schottland?“
Mielke nickt.
„Und finden Sie das Buch?“
„Nein, wußt’ ich nicht.“
„Hazegnehad glaubt, dieser Knick diene einer Lichtöffnung, die den Weltenbrand auslöst, ganz ähnlich wie das Gangsystem dem Polsprung Vorschub leistet, der Bedingung jeder Sintflut sei.“
„Was soll um Gotteswillen ein Polsprung sein?“
„Das Buch verzeichnet die Theorie, es kehre sich aufgrund eines Gleitens der Erdkruste über den Erdkern die irdische Magnetpolung um. Tatsächlich können Bohrungen heute anhand des Gesteinsschmelzflusses zeigen, daß dergleichen im Lauf der Jahrtausende vorkommt. Erst schwächt sich die Feldstärke des irdischen Magnetfeldes ab, allmählich und bis auf 10 %, dann beginnt der Pol wild zu pendeln und wandert in einem zitterigen Kreis um die Nordregion. Und schließlich, mit einem heftigen Ruck, kippt er in die umgekehrte Richtung. Nun baut sich das Magnetfeld wieder auf. Dies sei im Gangsystem der Cheopspyramide dargestellt.“
„Das klingt arg verrückt.“
„Soweit sich Feinschichten mit magnetischen Kristallen datieren lassen, dauert ein solcher Vorgang eintausend bis viertausend Jahre. Daß der Ruck nicht ohne Katastrophe abgeht, können Sie sich vorstellen.“
„Hm.“
„Wir sitzen im Frühstückszimmer eines Edinburgher Hotels, als Hazegnehad mir davon und anderes Seltsame erzählt. Stets tut er es witzelnd und doch – oder deshalb – sehr zwingend. Das bündelt meine Einbildungskraft auf einen ganz bestimmten Punkt. Ich habe das Gefühl, je weiter ich mich einlasse, desto weniger komme ich ihm noch aus. Draußen schüttet es Wassereimer, es ist kalt, ein heftiger Wind geht und peitscht Zweige ans Fenster. Übrigens… wenn ich sage, wir frühstücken, so tue das nur ich, – ihn sehe ich niemals irgend eine Nahrung zu sich nehmen. Er trinkt allerdings. Aber lediglich Wasser… pures Wasser, erwärmtes Wasser, mehr nicht.“
„Und dann?“
„Gut, wir reisen in den Norden, nach Glen Tromie. Ich sagte schon: ein ödes Land. Ich habe den Eindruck, er kenne das Gebiet genau, und stets weiß er, wo man welches Gefährt nehmen kann und wo in welche Abzweigung zu biegen. Unsere vorletzte Station ist ein Dorf, in dem es kein Wirtshaus gibt; wir kommen bei einem Bauern unter, der sich ziemlich gut bezahlen läßt dafür. Am nächsten Morgen brechen wir zu Fuß auf, um jene Kapelle zu erreichen, von der mein Führer so oft, wenn auch in letzter Zeit immer seltener spricht. Es ist ein mühseliger, gewiß vier Stunden währender Marsch, quer durch aufgeweichtes, morastiges, von wadenhohem zähem Gesträuch bewachsenes Land. Endlich erreichen wir unser Ziel. Oder noch nicht ganz. Doch hier beginnt nun mein Verhängnis. – Jetzt lächeln Sie wieder..! Das ist beleidigend für mich!“
„Verzeihung.“
„Wir langen bei einer Hügelkette an. Unversehens gibt es Birken, bisweilen Pappeln; und wäre nicht der Himmel wolkenverhangen, der Prospekt könnte sogar lieblich sein. Indessen backt einem schwerer Schlamm an den Stiefeln. – ‘Ich fürchte,’ sagt Hazegnehad, den plötzlich kurzer Atem quält, ‘Sie müssen allein weitergehen. Verzeihen Sie, es übersteigt meine Kraft. Außerdem möchte ich nicht gern, daß man mich erkennt.’ – ‘Wer soll Sie hier erkennen?!’ – ‘Aber der Wächter doch!’ ruft er da. ‘Sie bemerken ihn nicht, ich aber… ich rieche ihn schon!’ – Er beschreibt mir den Weg. Keine zehn Minuten von hier befinde sich die gesuchte Kapelle. Ich könne sie gar nicht verfehlen.“
„Sie erreichen sie?“
Er lacht klamm. „Gewiß. Aber stellen Sie sich vor, Sie schlagen sich durchs Unterholz, geraten an eine Lichtung, erwarten eine Kirche oder so etwas, aber alles, was Sie sehen, ist ein Megalithgrab… Hünengrab, Sie wissen schon. Und trotzdem, Sie wissen sofort, Sie spüren es: Sie sind am Ziel. Von Menschen, geschweige Wächtern freilich keine Spur. Alles einsam, wie unberührt. Vorsichtig schreite ich näher, bleibe mehrmals stehen, lausche. Amselgezänk, eine Rohrdommel mal. Ich bücke mich und zwänge mich unter dem Einstiegsquader ins Innere. Normalerweise ist in solchen Gräbern nicht viel Raum, aber in diesem gibt es zwischen den riesigen Steinen einen recht weiten Platz. Um eine Feuerstelle liegen Abfälle herum, Servietten, Papierbecher, auch verschimmelte Reste einer Mahlzeit, auf denen wimmeln Insekten. In einer Ecke zwei Rucksäcke, Schlafsäcke, ein verschnürtes Zelt. All dies sieht nach sehr überstürztem Aufbruch von Campern aus. Ich verlasse den Bau, schaue mich um, rufe auch ein paarmal ein zögerndes Hallo?, umschreite das Hünengrab, betrete es, mich duckend, erneut. Sollte ich in den zurückgelassenen Sachen nachschauen? Vielleicht läßt sich herausfinden, wer die Camper sind. Möglicherweise verbirgt sich ein Unglück, und man muß Hilfe holen. Wie ich nun die Gepäcksachen aus der Ecke ziehe, öffne ich dahinter eine Vertiefung, in die sie gedrückt sind, und wieder dahinter liegen die Steine nur locker aufeinander. Es zieht von daher. Man kann sie ohne Schwierigkeit beiseiteräumen. Ich lege eine Art Eingang frei, der sich umstandslos passieren läßt, wenngleich, Herr Baumann, dieses eigenwillige, dräuende Gefühl, will ich einmal sagen, nun ganz besonders heftig wird. Zudem schlägt einem ein unseliger Geruch entgegen. Ich kann nicht sagen, wonach es eigentlich riecht. Es ist ein dumpfer, süßer Geruch, der etwas Moderiges hat und an Kanalisationsanlagen erinnert. Vermutlich bin ich der erste Mensch, der dieses Verließ betritt. Ach welch ein Irrtum! Ich bin nicht abergläubisch. Und doch. Hünengrab spielt ja nicht von ungefähr auf Hügelgrab an. Und das Hügelvolk, Herr Baumann, ist wesentliches Element gerade schottischer Legenden: Die Untertage lebenden Schwarzalben, fir sìdhe – sid heißt in Lappland Totenheim -, sind direkte Verwandte unserer Nibelungen. Die Wilde Jagd, die Tuatha de Dannan. Zerstören nicht die Christen die von ihnen Teufelsbetten genannten Hünengräber eben deshalb so wütend, weil man in ihnen Thule fürchtet? All dies Zeugs spukt schlagartig durch meinen Kopf, und ich gewärtige, jeden Moment aus dem Hinterhalt angefallen und niedergerissen zu werden. – Aber nichts dergleichen,“ er lächelt, „geschieht. Natürlich nicht. Statt dessen..“ Er schweigt erregt, wie um sich zu fassen.
„Ja und?“
„Ich rutsche aus, schlage auf und verliere die Besinnung. Jedenfalls habe ich den Eindruck, aber habe ihn bei vollem Bewußtsein. An einem Steinvorsprung halte ich mich, gehe zwar in die Knie, schütze aber meinen Kopf, und als ich wieder hochkomme, hat sich die Höhle zur Gänze verwandelt.“
„Verwandelt?“
„Verwandelt. Und zwar, indem sie sich erschreckend gleichbleibt. Ich weiß, das klingt verrückt, aber sehen Sie: Es müßte eigentlich stockdunkel sein hier drinnen; tatsächlich jedoch kann ich sehen, an den Wänden sogar Gravuren erkennen, deren es zahllose gibt, eingetuscht, eingeritzt, schwarzgrau, mitunter ziseliert, Ornamente in feiner mathematischer Harmonie, Symbole, Zahlen, Zahlen und wiederum Zahlen, – und kein Zweifel, daß diese künstlerisch-magischen Spuren nicht megalithischen Ursprungs, sondern erst sehr viel später entstanden sind, wahrscheinlich im Mittelalter irgendwann. Es kreuzen sich hebräische, christliche und islamische Symbole, verschränken sich, will ich einmal sagen, in eine ungute und irgendwie schiefe Geometrie. Der Polytheismus läßt, Herr Baumann, die Antimaterie nicht zu, der Monotheismus erzwingt sie. Nun erleide ich den Eindruck dieser Schiefheit aber nicht nur wegen der Wandmalereien, sondern das gesamte Gewölbe hängt geradezu nichteuklidisch im Raum, will sagen: Es gibt keinerlei Verlaß. Jeder Schritt, den man noch so vorsichtig setzt, kann unmittelbar in die Rutsche geraten, wie wenn Sie aufgrund von Spiegelillusionen vor Wänden zurückschrecken, die es nicht gibt, gegen andere aber, die Sie nicht sehen, prallen Sie. Plötzlich steigt man auf einer unsichtbaren Rampe diagonal in die Höhe, was ebenso unerwartet abbricht, so daß Sie stürzen. Und das Licht, Herr Baumann! Vermögen Sie sich unter schwarzem Leuchten etwas vorzustellen? Alles ist wie umgestülpt: Die Gegenstände beleuchten das Licht in all seiner Schwärze. Man durchschreitet Materielles und verfängt sich wie in Altweibersommer in Photonenströmen. Vorn, keine fünf Meter entfernt, gibt es einen rohen hüfthohen Steinquader, dessen genarbte Oberfläche mit einer dünnen, fasrigen, teils zerfressenen, ihrerseits dunkel verfleckten Haut überzogen ist. Daneben, kopfhoch, steht ein Holzrahmen, wie er Kürschnern zum Aufspannen von Tierfellen dient. Und tatsächlich spannt dünn etwas darin. Es ist zweifelsfrei die Haut eines Mannes. Schlaff hängt noch das Geschlechtsteil daran. Auf einem Baumstumpf liegt, in Zwingen gepreßt, ein Buch in Quartformat, Leimtöpfe und anderes Buchbindermateriel daneben; außerdem eine Schublehre, erstaunlicherweise ein ausgesprochen modernes Präzisionsinstrument. Ferner gibt es Formalinbehälter, große bauchige, kniehohe Flaschen neben zwei Plastikwannen. Ich erkenne Futterale für chirurgisches Besteck, Retorten, Tätowiernadeln, Farben. Das Inventar nimmt zu, ja ist das Gewölbe anfangs, als ich die Augen nach meinem ziemlich schmerzhaften Aufschlagen wieder öffne, vollkommen leer, so projiziert meine Wahrnehmung nun immer mehr Gerätschaften hinein, figuriert sich ein inflatorisch fantastischer werdendes Ensemble, von dem ich doch zugleich überzeugt und vollen Wissens bin, es seien nur Requisiten meines Albdrucks. Ich schreie auf. Da bleiben lediglich Steinblock und Kürschnerrahmen stehen. Ich fasse vorsichtig die seidendünn gegerbte Haut. Sie knistert elektrostatisch und zersetzt sich dabei, wie wenn die Wärme meines Fingerdrucks durch Eisblumen strömte. Aber ich bleibe ja stehen, wo ich bin, bewege mich keineswegs, denn das Erstaunliche, Herr Baumann, ist, daß ich ohne mich gehe, als hätte sich meine Wahrnehmung von mir gelöst, ich will einmal sagen: Meine Physiologie wird ferngesteuert. Und wie jemand quer durch Programme schaltet, in denen er Spielfigur ist, tauchen unversehens neue und aberneue Illusionen auf. Mal sind es Stühle, zehn, zwanzig, hunderte von Stühlen, durcheinandergerückt und aufeinandergestapelt, dann wieder Krüge, Glasvitrinen, Kaffeemaschinen sogar; manchmal, wenn auch nur für Sekunden, sieht es aus, als stünde ich mitten in einem Warenhaus, dann wieder, als schaltete einer das Licht aus und knipste ein nächstes an, kann ich mich an einen Glastisch setzen, um gleich darauf, weil der Boden in Schräglage schwingt, tieferzurutschen, abermals aufzuprallen, mich umzuschauen, Funkgeräte auszumachen, Generalstabskarten, Zirkel, Gewehre, Helme, Radaranlagen.“
Mielke verstummt. Ich sehe zur Uhr. Es geht bereits gegen eins. „Und weiter?“
[Wird abermals morgen fortgesetzt.]