Visionäre Leere. Salvatore Sciarrinos „Infinito Nero“ an der Deutschen Oper Berlin.

[Geschrieben fürs >>>> Opernnetz.]


Eine den etwa 100 Versammelten in der Kassenhalle zu Gehör gebrachte Fanfare eröffnete die diesjährige Spielzeit der Deutschen Oper Berlin. Danach wandelten wir gemeinsam ins Foyer und hörten einer kleinen Einführung in Sciarrinos „Infinito Nero“ zu (uraufgeführt 1998 während der Wittener Tage für Neue Musik), bevor wir in den Publikumsraum und von dort auf die sehr große Bühne des Hauses geführt wurden, wo wir unter Beschallung geistlicher Musik der Renaissance und zwischen den herumlaufenden Bühnenarbeitern und -handwerkern einige Momente, um eingestimmt zu werden, verweilten. Hoch war der Himmel, und dunkel, durch den die technischen Apparaturen wie Sterne glommen und ferne Welten. Darauf ging es, nach Art einer Prozession, weiter – nur daß einigen im Publikum der nötige Glaube fehlte, der in der Heiligen Maria Maddalena de’ Pazzi den visionären Wahnsinn ausbrechen ließ.
Wir prozessionierten, hie und da wurde gelacht, einen weiten Zickzackweg durch die im Magazin abgestellten Riesenkulissen, die wie nächtliche dunkle Hauswände waren, Gassen zu begrenzen; wir schritten an Riesennashörnern vorbei, an Booten, an Landschaften und Stadtsegmenten, an einer von einem Saurierskelett gezogenen Kutsche, an spitzen Pyramiden; wir wandelten durch die Welt. Die Wegkreuzungen waren von bekerzten, katholikenkitschigen Mariajesus-Figuren markiert, aus wegrands aufgestellten Lautsprechern tönte wie Echo gedämpfte elektronische Musik in die geisterstadthafte Szene. Schließlich erreichten wir das Ende unseres Weges, klosterartig sah das aus und war, wie wenn man am Ende einer Prozession das Kirchengewölbe betritt. Wiewohl fürs Publikum provisorische Tribünen errichtet waren, fanden es nicht wenige schwierig, einen Platz zu finden. Sie hatten ja auch gar nicht mit solch einer Performance gerechnet. Deshalb übertönten anfangs Knarren und Wispern und Schuhsohlenscharren die vorsichtigen, oft im Flageolett gespielten Töne des sehr kleinen Ensembles. Ein älterer, leicht gehhinderter Herr hatte zu Beginn der Prozession sogar Schwierigkeiten gehabt, das Treppchen zur Bühne hinaufzukommen; ächzend setzte er sich jetzt neben mir auf einen der wenigen Stühle.
Die Heilige saß zwischen den Musikern in der ersten Reihe, von einer Art Gips über und über überzogen. Er wirkte noch naß, doch blätterte sich allmählich ab, während die Karmeliterin Zeichen in ihre Noten schrieb, was von Fernsebildschirmen übertragen wurde. Da löst sich aus dem Publikum – sie war die ganze Prozession mitgeschritten – eine schöne Frau in edlem Make up und beginnt die ersten Ausrufe: „Obumbrata la faccia// o / o / o / silenzio / o / o / o /silenzio…“ Und zunehmend ergreift sie der heilige Wahn, bis sie – auf einer kleinen Hebebühne – sogar gen Himmel fährt, wozu sie sich ihrerseits mit dem nassen Gipsartigen beschmiert, das Gesicht, auch das feine, schöne, zurechtgemachte Haar; und überhaupt zerstört sie ihre Schönheit, die für die Weltlichkeit steht. Schließlich sieht sie, ganz ebenso wie ihr Abbild zwischen den Musikern, wie eine Leiche aus, die bereits verwest.
Tastend singt sie, man spürt, die Sätze dringen aus ihrer Tiefe heraus, sie kann sie selbst, kann ihren Sinn nicht erfassen. Das hat etwas Stammelndes, Überwundenes, Unüberwindliches – auch Tragisches, weil deutlich wird, wie sehr der heilige Wahn einfach auch Wahnsinn ist: einer des Verlorenseins in der Leere eines Opernmagazins aus lauter Schatten-Wirklichkeiten. Dazu wird immer wieder in die Blasinstrumente gehaucht, immer wieder schlägt ein Bogen kurz auf die Saiten, oder die knappe Folge eines Pfeifens wird wiederholt; ganz selten läßt sich das Vierer-Thema hören, das sich einem aber noch lange nach der Aufführung wie ein Ohrwurm durchs innere Ohr dreht.
„Il silenzio non è vuoto ma è nascita del suono“, >>>> hat Sciarrino selber seine Absicht erklärt, „die Stille ist nicht leer, sondern sie ist die Geburt des Klangs“. Das wird in dieser Aufführung zunehmend deutlich, und zunehmend hört es auch mit dem Gescharre und Gewisper im Publikum auf. Ob allerdings Søren Schuhmachers Inszenierung letztlich geeignet ist, die „nascita del suono“ auch zu realisieren, bleibt ein wenig fraglich, weil sie – dem Wahn, möcht ich sagen, naturgemäß – einen starken Moment auf das hysterische Moment legt, das, wenn man es derart vor Augen geführt bekommt, von der Musik und ihrem Tasten allzu ablenkt, von den kurzen, abfallenden Akkorden, den hohen ausgehaltenen Geigentönen. Und weil dadurch auch immer ein Moment des burlesk Komischen hinzukommt, sogar des Albernen (etwa wenn der Motor der fahrbahren Hebebühne in die Musik jault), das dem Meditativen völlig entgegensteht. Selbstverständlich ist das Interpretation, und zwar eine, die das bereits von Sciarrino anvisierte Pathologische ins Auge nimmt. Ans Publikum wird das zurückgebunden, indem die Schauspielerin, während die Sängerin noch himmelfahrtsbefindlich, von ihrem Platz zwischen den Musikern aufsteht und sich auf eine der Tribünchen zwischens Publikum hinzusetzt: Ja, wir verstehen, auch wir sind gemeint. Nur: Inwiefern?
Als das kaum dreißig Minuten lange Stück endet, schauen wir doch ein wenig betroffen in dem hohen, irgendwie provisorischen, dunkel gähnenden Raum herum, schauen zur Decke, die Fernsehbildschirme sind längst ausgeschaltet, und wir applaudieren, das hat etwas von aus dem Stegreif Gespieltem, aber nicht Spielerischem gehabt, sondern von sehr Ernstem, das einen (den nun leider abgekürzten) Weg zurück durchaus ratlos in die Kassenhalle heimkehren läßt – ratlos und ein wenig schaudernd, weil man das Gefühl bekam, einen Moment lang, und auch nur einen Finger, in das kalte Vakuum gestreckt zu haben, das der Tod ist.

Nur noch eine Aufführung in dieser Spielzeit:
16. Oktober 2007, 20 Uhr.

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