Arbeitsjournal. Freitag, der 30. März 2007.

4.57 Uhr:
[Berlin, Am Terrarium.]
Heute morgen arbeite ich hier, da ich eh meinen Jungen in die Schule bringen will, um ihn wegen Stromboli für die Tage nach den Ferien zu entschuldigen. Die Auseinandersetzungen wegen der Frage, ob ein Künstler auf böse Nachrede oder schlechte Kritiken reagieren dürfe, gingen mir gleich nach dem Aufstehen wieder nach. Selbstverständlich soll er, denke ich, er m u ß es sogar, aber nur dann, wenn er nicht jammert, sondern zurückschlägt. Es muß einfach klar werden, daß es hier um Gegnerschaften geht, und zwar gerade deshalb, weil man im Fall der Gönnerschaft Vergünstigungen genießt. Wer die annimmt (und viele genießen sie völlig zu Recht), muß umgekehrt um so deutlicher die feindlichen Lager klarmachen, in denen man sich aufhält; nur dann – n u r dann – steht die Annahme einer Vergünstigung nicht im Ruch der Kratzbuckelei. Sie muß t r o t z der Unbequemheit, die man für den Betrieb bedeutet, angeboten werden; dann erst nämlich hat man Gewähr, daß auch das W e r k und nicht etwa persönliches Gefällnis gemeint ist.
Es ist allerdings nicht leicht, diese Grundhaltung selbst Freunden zu erklären. Viele schütteln den Kopf – „es sei so unnötig“, sagen sie, und/oder sie ärgern sich. Dabei ist es so einfach zu verstehen:

Der Autor wird vom Kritiker gewogen und das Meßergebnis der Allgemeinheit mitgeteilt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Waage falsch justiert ist oder ob sie überhaupt benutzt wurde; es muß einfach nur ein Meßergebnis behauptet werden. Das kann zugunsten oder zuungunsten des Autors ausfallen, das ist imgrunde einerlei. Allein, daß der Autor ein zu Wiegendes ist, stellt das Verhältnis klar. Man hat gegensätzlich verschiedene Interessen; der eine produziert, der andere bestimmt den Tauschwert (mit), von dessen ebenfalls Mitbestimmung der Künstler selbst ausgeschlossen bleiben soll. Dabei geht es zum einen um die Herstellung (Manipulation) einer öffentlichen Meinung, zum anderen sitzen gerade Leiter von Kunstfeuilletons in Juries, die wiederum Gelder der Öffentlichen Hand an Künstler verteilen dürfen – sie haben also d i r e k t e n Einfluß, und manchmal einen entscheidenden, auf das ökonomische Wohl und Wehe von Künstlern; und wenn einer nicht gefällt, sägt man ihm die Existenz weg.
Das muß deutlich gesehen werden, das stellt auf das deutlichste klar, worum es tatsächlich geht. Die allgemein vertretene Meinung, Künstler sollten zu Kritiken schweigen, läßt sich letztendlich auf eine Erpressung deduzieren. Stockhausen warf einmal eine Kritikerin aus dem Großen Saal der Alten Oper in Frankfurtmain; ich war, glaub ich, der einzige, der daraufhin klatschte. Seither habe ich tiefste Achtung vor dem Mann – wie vor André Breton, der auf offener Straße einem Kritiker mit dem Gehstock den Unterarm brach. Daß so etwas nicht p.c. ist, spricht imgrunde nur d a f ü r.

7.40 Uhr, nachgetragen:
[Vor Schulbeginn. Erstmals Frühstück im Straßencafé. Unter den durchaus erschreckend gestrengen Blicken der Rechtsanwältinnen-Eigenwerbung Frau B.K.‘s.]




8.07 Uhr:
[Berlin, Küchentisch. Am Netz.]
An der Vierten gearbeitet, dann kamen die Zwillinge, dann der Junge. Familienmorgen. Hätte mir vor zwanzig, ja noch vor zehn Jahren jemand prophezeit, wie sehr mich so etwas glücklich machte, ich hätte ihm nur den Vogel gezeigt: freier ungebundener Schriftsteller und so. Nun bin ich mit großer willentlicher Entschiedenheit Familienvater – o h n e mich dadurch zu literarischen Kompromissen zwingen zu lassen. Auch wenn die ökonomische Existenz permanent bedroht ist… vielleicht sogar, w e i l sie es ist… weil es K a m p f ist, und zwar ein guter, das eine zu halten und das andere auch. So etwas wie Beispiel geben hat begonnen, eine Rolle zu spielen, auch: Haltung zu vererben, Unbedingtheit, Kompromißlosigkeit in der Sache, ja sogar so etwas wie Berufung spielt dabei mit. N i c h t sich zu verraten, um die Familie zu schützen, sondern die Familie schützen, o b w o h l man sich (das ist bei mir immer: die poetologische Arbeit) nicht verrät.

8.57 Uhr:
Die Auseinandersetzung >>>> geht weiter. Wobei mir s c h o n bewußt ist, welches Risiko ich nehme (selbstverständlich denke ich so etwas permanent mit): Wird mein Werk eines Tages vergessen sein, dann wären all diese Kämpfe tatsächlich nur unnötige, vielleicht sogar peinliche Don-Quijoterien eines, sagen wir, halbbegabten Querkopfs gewesen; wenn aber n i c h t, dann steht die ganze Phalanx der Angepaßten, sich irgendwie Durchschwiemelnden vor der (Literatur-)Geschichte gewaltig im Regen. Und wie es >>>> Eigner, selbst ein Querkopf, einmal ausgedrückt hat: „Darum geht es uns doch a l l e n, uns in die Literaturgeschichte einzuschreiben.“ Es ist übrigens d i e s e Art des willentlichen Größenwahns, den man uns verübelt… daß uns Aufklärung, Moral usw. imgrunde gar nicht scheren, und auch der Leser schert uns nicht. Wir haben eine Vision, und der folgen wir. Müssen wir auch, denn ohne sie würde es mit der Literaturgeschichte nichts. W i e unsicher das alles ist, hat einmal Gustav Mahler ausgedrückt: Ob man Kunst geschaffen habe oder nicht, das erfahre man n i e, und zwar über den Tod hinaus. Man kann nichts tun, als die Pfeiler in den Boden zu schlagen.

(Dies ist der 10.446ste Eintrag
in Der Dschungel.)

9.59Uhr:
Katanga weist mich gerade auf >>>> Uwe Wittstocks Artikel zu MEERE in der WELT hin; den finde ich nun mal – wiewohl ich in manchem anderer Meinung bin und aus privaten Gründen einiges lieber n i c h t mehr geschrieben sähe – journalistisch in Ordnung. Daß aus >>>> „Wiederannäherung“ „Widerannäherung“ wurde, ließ mich allerdings auflachen… und darüber, daß man meinen zweiten Vornamen noch immer falsch schreibt, reg ich mich schon lange nicht mehr auf. Auf diese Weise kam ich zu z w e i Sites bei http://amazon.de. Immerhin.

12.17 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Bis eben an der >>>> Vierten gearbeitet. Und nun in die Arbeitwohnung geradelt, um zu Mittag zu schlafen. Nach dreieinhalb Stunden Nachtruhe bin ich jetzt derartig müde, daß ich alles um mich herum wie bekifft wahrnehme: zerfließende Konturen, scheinbar verlangsamte Bewegungen und eine Form gelinder Teilnahmslosigkeit, die mich, als ich soeben den neu zugestellten Pfändungs- und Überweisungsbeschluß wegen meiner Schulden bei der American Express Bank in Frankfurt am Main (Schuldenhöhe mit Kosten derzeit 9732,83 Euro) öffnete, fast freudig lächeln ließ. Und ich dachte: Was täten die besser daran, meine Arbeit mäzenatisch zu unterstützen, als einem verlorenen Geld noch hohe Kosten hinterherzuwerfen, die sie ja doch niemals eintreiben werden… Ich hätte sogar ein Gefühl von Mitleid mit der AMEX, wüßte ich nicht, daß hinter ihr gar keine Sachbearbeiter, also Menschen, sondern ausführende Organe von Computerprogrammen stehen: Menschen, die längst selbst programmiert sind. Anders ist es auch gar nicht zu erklären, daß man dortseits so reagiert, obwohl ich doch immer wieder, gerade >>>> gegenüber der Amex, meine ökonomische Situation deutlich gemacht habe.
So, schlafen. Dann rasieren und unter die Dusche. Danach den Papier- und also nächsten Schuldenkram weiterbearbeiten. Dies hier stelle ich wahrscheinlich erst gegen Abend ein.

14.03:
[Im Arbeitsumfeld erwachen. Aufblicke.]

14.34 Uhr:
[Martinu, Julietta, ff. von gestern.]
Diese seltsame Schwierigkeit, mich musikalisch in ein slawisches Idiom einzuhören. Das hatte ich so auch bei Janácek, aber >>>> eine deutschsprachige Aufführung in der Komischen Oper Berlin brach den Bann, der mich ausschloß wie um Brünnhildes Schlafstätte der Feuerwall den vorm ‘Vater’ schwächelnden Krieger; das habe ich noch immer so bei Martinu, und zwar gerade >>>> bei d i e s e r Oper, die mich, ist sie deutschsprachig gesungen, völlig berauschen kann. Seltsam. In anderen Sprachfamilien – nur im Finnischen und Ungarischen noch – kenne ich das nicht so; selbst arabischer Gesang ist mir klanglich nahe. Ich muß mich bei „Julietta“ lauschend anstrengen, dann, zwischendurch, immer mal wieder, f ü h l e ich – und der Schauer, den ich so brauche, kommt. Übrigens ging mir das, als ich sehr jung war, ganz genau so mit Neuer, bzw. Zwölfton-Musik. Das hat sich dann rasant schnell geändert, und sie wurde zu einer W u r z e l meiner musikalischen Begeisterungsheimat.
Tief und sehr gut geschlafen. Deshalb nun mutig – und rasiert und gewaschen – ran an den Papierkram. Der latte macchiato steht neben mir, der Laptop, der auf dem Schreibtisch derzeit keinen Platz mehr hat, auf dem langausgezogenen Arbeitstisch in Zimmermitte.

(Zu leben als eine ständige Erregung, als ein Crescendo der Begeisterungen begreifen, die nie von selber kommen, sondern um so lustvoller sind, je nachdrücklicher sie erarbeitet – erkämpft – werden mußten.)

15.18 Uhr:
[Martinû, Recké Pašije.]
Das nun beginnt g l e i c h mit dem Schauer. Man singt nahezu sofort mit und ist unvermittelt nah an den Tränen. D e s h a l b liebe ich Kunst: weil sie das h ä l t. Weil nur w i r das haben. Kunst ist das intensivste Menschliche. Unfaßbar, mit welchem Reichtum vor allem Musik einen anfüllt.

17.03 Uhr:
Alles zu- und geordnet; herausgesucht, wo dringend reagiert werden muß. Es geht nun also ans Briefeschreiben, und ich fang damit an, solange noch Martinus Feldmesse läuft – das wird nicht mehr lange sein. Wobei mir eben auffiel wie passend diese Musik ist. Zudem entwickle ich laufend Ideen; weshalb etwa nicht dem Vermieter der Arbeitswohnung schreiben und ihn fragen, ob er sie mir nicht einige Zeit mäzenatisch zur Verfügung stellt? Immerhin ist sie durch die ANDERSWELT-Bücher längst in die Literatur eingegangen; das könnte ihm ja gefallen. Allerdings ist eine Hausverwaltung dazwischengeschaltet; w e r der Vermieter (Pardon, gender-Korrekte: oder „die Vermieterin“) ist, weiß ich deshalb gar nicht.
Und nach der Musik radle ich hinüber in die Väter-WG an den Küchentisch und damit ans Netz; aber auch nur noch, um Post zu prüfen und nach Der Dschungel zu sehen, bzw. um die angelaufenen Arbeitsjournal-Einträge einzustellen. Ach ja, und das fand ich unter den zahllosen Notizzetteln auf dem Schreibtisch, worauf nun wieder der Laptop gestellt ist:

Zu leben heißt, eine umfassende Kenntnis darüber zu gewinnen, was das Leben i s t.
Von wem ich das habe, weiß ich nicht; kann von mir sein, kann nicht von mir sein; eine Quelle ist auf dem Zitat nicht vermerkt.

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